Ich lass mir meine Lebensqualität nicht nehmen ...



Krebskrank – ein unschöne Diagnose, die viele Menschen, die sie bekommen, erschreckt, das Leben verdüstert. Die Reaktionen auf mein eigenes Bekenntnis Anfang September 2020 waren meist sehr bedauernd, was mir das Mitleid der Personen, die davon erfuhren, deutlich machen sollte.

Ich gebe schon zu, dass es für mich einfacher gewesen wäre, diese Diagnose nicht bekommen zu haben. Aber ich hatte stets den Gedanken im Kopf, dass ich bereits in meinem 77. Lebensjahr weilte, meiner Mutter aber nur 34 Lebensjahre vergönnt gewesen waren, die letzten zwei Jahre mit Amputationen und vielen Schmerzen, Spritzen. 1951 war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Sie hinterließ mit mir gerade Siebenjähriger noch meine Elfjährige große Schwester sowie unsere kleine knapp viereinhalbjährige Schwester.

Es ging mir immer wieder durch den Kopf, dass sie ganz sicher gern ihre Mädchen hätte heranwachsen sehen wollen, doch es war ihr nicht vergönnt. Ich dagegen erlebte meinen Sohn und meine Tochter erwachsen werden, durfte ihm in der erst nur in geringen Form, die seinerzeit gegeben war, helfen, die Schule trotz Legasthenie zu schaffen, sah, welcher Beruf meinem Sohn gefiel und konnte meine Tochter darin unterstützen, ihre Begabungen zu festigen und zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Es war mir sogar vergönnt, wenigstens die Schwangerschaft meiner Tochter mit meinem Enkel und sein Leben inzwischen neun Jahre zu begleiten. All das war meiner Mutter in den Nachkriegsjahren nicht vergönnt!

Für dieses mein reicheres Leben bin ich sehr dankbar! Was mir obendrein das Jahr meiner Krebserkrankung sehr angenehm gemacht hat, war die Tatsache, dass es meiner Tochter gelang, ihrem Sohn, meinem legasthenen Enkel, nach einem Test durch eine befugte Legasthenie-Trainerin sowie viel Lesen über das L-Thema zu helfen, die seit ca. 50 Jahren bekannten Fakten tatsächlich endlich umzusetzen. Sie erreichte, dass unser Junge jetzt ohne eine Zurücksetzung (Ende des 2. Schuljahres), weil er „angeblich lernunfähig“ sei, mit einem recht guten Zeugnis ins 4. Schuljahr aufsteigen konnte. Es gelang, die andere Wahrnehmung, die das Erlernen der schulischen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen verhindert, in seinem Köpfchen so zu verbinden, dass er inzwischen diese Hieroglyphen sinnerfassend lesen und schreiben kann und dem Unterricht gern folgt, sich gern beteiligt! Mathe ist sein Lieblingsfach.

Meine Tochter schrieb all die Erlebnisse, die dem Jungen halfen, die Aufgaben in diesen Jahren zu verstehen, sie als Hausaufgaben inzwischen in der gewünschten Zeit eines „normalen“ Schülers und selbstständig zu erledigen, in Tagebuchform auf. Daraus ist nun ein Büchlein geworden, eins, das es so in dieser Form noch nicht in Deutsch gibt.

Sie darin zu unterstützen war mir das Wichtigste in den vergangenen zwei Jahren. Da auch sie selbst sich inzwischen als leicht Betroffene erkannt hat, war es für die Buchform erforderlich, Korrektur zu lesen. Das war dann meine Aufgabe. Fakt ist, dass ein eingesetzter Lektor der Buchdruckerei offensichtlich selber mit dem Thema Legasthenie zu kämpfen hat, denn die letzten Beiträge hatte ich nicht Korrektur gelesen, nur der Lektor – und der hat so einiges übersehen!!

Unsere große Hoffnung ist es nun, dass sich so peu á peu Eltern (aber auch Lehrer) entschließen, nicht mehr den von den Schulen empfohlenen Weg über Ärzte, Psychologen und sonstige Therapeuten zu gehen, ihr Kind weiter dem Gelächter der Mitschüler auszusetzen, bis es selbst glaubt, es sei dumm, nur noch mit Kopf- oder Bauchschmerzen zur Schule geht oder gar zum Schulverweigerer wird …

Es hat sie animiert, mit einem Fernstudium sich zu Diploma-Trainerin für Legasthenie und Dyskalkulie ausbilden zu lassen. Sie hat beides mit Auszeichnung geschafft!

Vor einem Vierteljahr kam die Mutter einer Gymnasiastin mir ihrer Tochter zu einem Erstgespräch, weil sie nicht mehr die Schule besuchen wollte. Die Fünftklässlerin konnte immer noch nicht sinnerfassend lesen. Es genügten nach dem Test vier Trainingsstunden und sie war von sich aus wieder bereit, zur Schule zu gehen. Jetzt nach den Sommerferien kam sie freudestrahlend zu meiner Tochter und las ihr eine Seite eines ihr fremden Textes fast flüssig vor! Die Mutter saß in der Nähe und konnte ihre Freudentränen kaum zurückhalten. Wundert es jemanden, wenn ich fast täglich von solchen Dingen berichtet bekomme, dass meine eigene Gesundheit gedanklich in den Hintergrund verdrängt ist?

Natürlich weiß ich, dass ich die vielen Termine für meine Krebsbehandlungen (Chemo, Bestrahlung, wieder Chemo und nun auch Hormontabletten), seit über einem Jahr wöchentlich Blutabnahme (meine Adern wollen das schon gar nicht mehr!) wahrnehmen muss. Es gibt doofe Nebenwirkungen, die ich hier gar nicht aufzählen möchte. Tatsache ist aber, dass ich eine Chance habe, dies alles zu überstehen! Und sollten die Ärzte oder ich mich darin geirrt haben, bin ich trotzdem dankbar, dass ich inzwischen 43 mehr Lebensjahre gehabt habe! Die enthielten auch so manche Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gab. Aber nichts davon hat mir meine Lebensqualität trüben können!

Niemand kann es verhindern, dass mit den Jahren diese oder jene Erkrankung einem jeden von uns das Leben schwer(er) macht. Ich muss nicht mehr die Schnellste beim Schreibmaschineschreiben sein. Es genügt mir, mit je einem Finger jeder Hand hier zu tippen.

Auch das Laufen oder Fahrradfahren ist nicht mehr so befreiend wie noch vor drei Jahren. Aber ich muss nicht deshalb im Bett liegen bleiben. Ich kann meine „Stelzen“ noch – durch einen Rollator gestützt – für einen einstündigen Spaziergang nutzen. Nur das Fahrradfahren werde ich lassen, das Fahren, Treten und Gleichgewicht halten geht ja noch gut. Nur wenn eines meiner Beine (Stelzen) mich beim Absteigen nicht mehr halten will, dann rutschte ich in die Gabel und kippe mit dem Rad um. Solange das in den hoffentlich trockenen Graben geschieht, okay. Aber zur anderen Seite, mit dem Kopf auf die Straße?? Neeee – und DAS weiß man zuvor nicht! Vielleicht sollte ich es ja mal mit einem Erwachsenen-Dreirad probieren? Das bleibt stehen und ich könnte mich so langsam beim Absteigen wieder auf beide Beine verlassen. Hab ich noch nicht ausprobiert …

Einer Selbsthilfegruppe krebskranken Menschen habe ich mich bewusst nicht angeschlossen. Ich will die Nöte Anderer nicht auch aufnehmen, ich würde stets protestieren! 25 Jahre Begleitung meiner psychisch kranken Schwiegermutter waren genug! Das befreiende Gefühl, nur noch für meine eigenen gesundheitlichen Belange zuständig zu sein, heißt aber nicht, dass ich bei meinen Lieben kein offenes Ohr oder Auge für dies oder das hätte …
 


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Kommentare (4)

ehemaliges Mitglied

@nnamttor44
Ja, ich habe Deine Berichte über Deine Krankheit, Deine Tochter und Enkel verfolgt..Mein Sohn wurde selber als Legastheniker bezeichnet. 
Erfreuliche Tatsachen, Erfolge im Kleinen werden hoffentlich Große. Eine Krebsdiagnose  ist für alle hier im Forum eine Herausforderung egal in welcher Richtung. Mancher gibt sich geschlagen, andere kämpfen wie Du, BRAVO!  OB es sich lohnt weiß keiner, wir hängen am Leben wollen unseren Enkeln ein Beispiel sein, nicht aufzugeben. Das Du in der Lage bist darüber zu berichten finde ICH bewundernswert für Alle. DAnke dafür 
Ob ich jemals Deine Stärke erreichen kann bezweifle ich, trotzdem möchte ich Euch viel Kraft wünschen! Ich hoffe ich habe die richtigen Wort gewählt Dir/Euch  ....nicht mein Mitleid sondern meine Bewunderung mittzuteilen ! 

Diesmal grüße  ich in die Runde sehr nachdenklich, demütig weil ich noch gesund bin ....danke ...die Mauli 

nnamttor44

@Maultasche  
Hallo Mauli!
Ich weiß Deine Art, Deine Blogs zu schreiben, sehr z u schätzenund ich bedanke mich bei Dir, dass Du den Mut hast, mir diesen Blog zu kommentieren. 

Viele Menschen ziehen sich zurück, wenn sie von der Diagnose einer schweren Erkrankung anderer erfahren. Ob sie glauben, Erkrankten nicht die richtigen Worte zu sagen oder sie zu entsetzt sind (gibts ja auch) und dann lieber schweigen. Ich weiß es auch nicht, ob es sich lohnt, auf ein weiteres Leben zu hoffen.

Meine Mutter starb so jung, ihre jüngere Schwester bekam ihre Krebsdiagnose 1974 zu ihrem 50. Geburtstag, ließ sich operieren und wurde noch 90 Jahre alt. Ich finde, wenn ich trotz allem noch eine Optimistin geblieben bin, ist es vielleicht für irgendwen, der dies hier liest, ein Grund, seinen Optimismus nicht über Bord zu werfen.

Es ist ein halbes Jahr her, dass ich einer anderen Krebspatientin erzählte, dass ich bereits vor zwei Jahren (da wusste ich noch nichts von meinem Krebs) bei einem Beerdigungsinstitut meine Seebestattung besprochen und bezahlt habe. Sie konnte diese Aussage nicht ertragen, aber ich bin froh, meinen Kindern diese Sorge längst genommen zu haben.

Es gibt die Aussagen vieler Menschen, dass sie den Ort, wo ihre Lieben beerdigt worden sind, brauchen, um mit ihnen noch in Kontakt zu treten. Ich musste lernen, diesen Ort nie besuchen zu dürfen, so lange ich verheiratet war. Aber jede Woche musste ein Grabkerzchen für die Eltern meines Mannes bereitliegen.

Man hat seine Lieben im Herzen und es hat mich nie gehindert, wenn ich am heimischen Friedhof vorbei unseren Hund ausführte, mit meinen Eltern zu reden. In meiner Heimatstadt sollte ich ihr Grab nie besuchen ... Meine Kinder sind es zufrieden, später kein Grab zu besuchen oder auch zu  pflegen. Wenn sie an die See fahren, wissen sie, dass ich da irgendwo sein könnte.

Es tut gut, seine Dinge geregelt zu haben, sorgenfrei einer Gesundung oder auch seinem Ende entgegensehen zu können. Es ist kein Gesprächsthema mit meinen Lieben mehr! Ich könnte mir vorstellen, dass es in der jetzigen Situation für meine Kinder schwer wäre, dieses Thema ausführlich zu besprechen. Es ist alles gut!!

Dir einen 💖lichen Gruß, liebe Mauli von

Uschi

ehemaliges Mitglied

@nnamttor44  
liebe Uschi, meine erste geschriebene Antwort auf Deine Anmerkung hat der Cybermax geklaut , einfach gefressen, nun der zweite Versuch:
Das jemand mit Erkrankten nicht gut umgehen kann ist verständlich, weil man nie weiß in welcher Verfassung er/sie ist. Kämpft sie oder ist er/sie in einem seelischen Loch. Damit können viele nicht umgehen und halten sich fern oder schreiben hier einfach mal nicht. Bin gelernte Arzthelferin und mit vielen vertraut. Meine Beerdigung ist im Testament beschrieben: kein Kaffeeklatsch sondern eine Party mit frohen Farben, dankbar das sie mich kennen durften, ich hoffe mir wird dieser Wunsch erfüllt. 
Dir wünsche ICH halt fest an Dir. Ob Dein Lebensweg abgeschlossen ist......keiner weiß es, wünsche Dir/Euch viel Durchhaltevermögen und sende jedem hier In der Runde der selber gerade so ein Tief durchlebt viel Kraft. 
Danke Usch, dass Du dies Thema hier anschneidest!!!!
einen Gruß an Alle hier von der Mauli,

nnamttor44

@Maultasche  

Liebe Mauli, Dein erster Kommentar steht durchaus hier zu lesen!
Ich las hier vor einiger Zeit von dem Erleben der gegenteiligen Version, wurde sogar gebeten(?), mich bei ihr herauszuhalten. Es war so niederschmetternd, ihr langsames Dahinsiechen mitzuerleben. Verstanden habe ich nicht, warum sie über Monate ihr Krankheitserleben tagebuchartig darstellte. Hab bei meiner Mutter als Kind erlebt, wie sie dahinsiechte, allerdings, ohne dass sie uns Kindern gegenüber "offen litt".

Ich erlebte, dass die MTA's jede Woche vergnügt daran gingen (gehen!), bei mir wieder die Rollvenen zu überlisten. Klar ist es doof, öfter mit der suchenden Nadel perforiert zu werden, statt keinem oder nur einem blauen Flecken ein paar mit nach Hause zu nehmen. Aber die verschwinden auch wieder. Diesbezüglich unfähig zeigten sich die Damen in der Notaufnahme, als sie an mir tätig werden mussten. Anschließend nannte ich mich "adlig"!´, hatte beide Handoberflächen 14 Tage blau - blaues Blut! Kann man doch auch mit Humor nehmen?! Weh tat das nur am "Tattag".

Auch die Damen in der heimischen Onkologischen Tagesklinik begrüßten mich immer wieder fröhlich, denn meist war das bei anderen nicht gewünscht und praktisch erfolglos. Es macht dem medizinischen Personal auch keine Freude, täglich in die leidenden Gesichter Schwerkranker zu schauen und gleichzeitig zu wissen, der oder dem muss ich gleich wieder in den Port stechen, auch nicht immer für die Patienten schmerzfrei. Ich denke, da geht so mancher Arbeitstag nicht so fröhlich zu Ende.

Es nützt doch nichts, den Kopf hängen zu lassen. Keiner weiß, wann er an der Reihe ist, aber es gehört nicht zu schweren Krankheiten, sich durch das Wissen darum mit schlechter Laune zu zeigen. Verstehen tu ich absolut, dass Schmerzen Angst machen. Mir macht es jedenfalls Freude, meinen Lieben, vor allem meinem Enkel und seinen Freunden nicht die Freude am Spiel  zu nehmen und ihnen den Umgang mit mir mit Angst zu verbinden, weil sie mir begegnen könnten! Also Kopf hoch, so lange es geht ...!!

Lieben Gruß an alle und Dir Dank liebe Mauli auch für Deinen . Kommentar!!!

Uschi


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