Ich war ein Träumer


Der Krieg war zu Ende. Wir zogen mit einem Umzug aus dem »Paradies« in eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, na so zwei Kilometer entfernt, aber im selben Ort am Rande Berlins. Wir schleppten unser, besser der Eltern Hab und Gut mit einem vom Maurer geliehenen Wagen in vielen Fuhren da hin, wo Mutter nach vielen Anläufen Glück für uns hatte.

Die Zeit hatte sich geändert. Unsere Mutter hatte eigentlich Zeit, der Job als Rote-Kreuz-Schwester war vorbei, nun war sie wie Vater »Nazi«, und aus allen Löchern kamen Menschen – ob gut oder böse - hervor, die etwas gegen Leistungen in der abgelaufenen Zeit – ob gut oder böse – etwas zum eigenen Vorteil in Denunziation, in Ablehnung, in Feindschaft umwandelten. Es gab auch wenige, die beistanden, halfen, ganz aktiv, ohne aufzutrumpfen. Die »Volkssolidarität« wurde zu einer leeren Hülse.

Wir Kinder spürten davon relativ wenig. Wir spürten Hunger, großen Hunger. Ich fühlte mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester sehr wohl, daß unser »Paradies« auch ohne Umzug verloren gegangen war. Nur gut, daß wir Kinder eine Clique waren, die zusammenhielt und sich gegen das veränderte Außen schützte.

Fantasie war gefordert, um alles ertragen zu können. Das letzte Kaninchen, Handteller groß, wurde geschlachtet, es sollte unserer jüngsten Schwester, gerade eben zwei Jahre alt, eine Suppe spenden, um der Ruhrerkrankung entgegen zu wirken. Ich löste von den uns noch gebliebenen Fahrrädern die Dynamos ab und tauschte sie bei Nachbarsjungen gegen vier große Kartoffeln ein. Unsere Große, meine Schwester Nummer eins, rieb die Kartoffeln zu Kartoffelpuffern – Eier gab’s nicht, Zwiebeln gab’s nicht, wir fanden ersatzweise Kräutersalz, ein Hindenburg-Licht spendete sein »Fett«. Scheußlich, aber die Mägen wurden für Momente betrogen.

Die Russen kassierten Radios – Fernseher gab’s noch nicht – Fotoapparate und Plattenspieler mußten auf der Gemeinde abgegeben werden. Um ein Fahrrad vor dem Zugriff der Russen »untauglich« zu machen, wurden am Vorderrad Schlauch und Reifen demontiert und recht erfinderisch die sich beim Rollen über Steine und Beton lösenden Speichennippel mit Aufwickeln von Wäscheleine in die Felge gesichert. Es war eine Kunst, den richtigen Winkel zu Schienenrillen und Bordkanten beim Überfahren einzunehmen.

Die Russen verlangten, daß alle Literatur, die nach 1933 gedruckt worden war, zu vernichten wäre. Egal, das galt auch für Literatur, die rein garnichts mit dem Dritten Reich zu tun hatte. Wozu haben wir dann die Bücher erst aus dem »Paradies« hinüber zu anderen Wohnung geschleppt. Nun stand ich Tage lang im Garten und versuchte die Bücher zu verbrennen. Bücher alleine brennen nicht, man muß ihnen beistehen, das Feuer schüren. Die Asche kann dann gut für den Garten sein.

Mutter »verdiente« uns bei einer Pastoren-Familie mit dem Schneidern etwas Eßbares. Es war stets ein weiter Weg zu dem Dorf, das inzwischen in dem neuen Großflughafen untergegangen ist, mit dem Fahrrad. Sie mußte aufpassen, daß ihr das Deputat nicht durch »Amtliche Wegelagerer« abgenommen wurde. Bis endlich das altersschwache Fahrrad an seinem Hinterrad den Geist aufgab, Mutter schleppte nun auch noch das unbrauchbar gewordene Fahrrad nach Hause.

Brot! Dafür mußte man vor dem Bäckerladen zweimal anstehen, einmal zum Empfang einer Anstehmarke und am nächsten Tag zum Abholen des Brotes: eine hohle Kruste mit Klietsch im Innern. Der Kommandant hatte die Brot-Vermehrung per Zugabe von Wasser befohlen.
Salz, wie gesagt, gab es nicht. Ich mußte bei der Gemeinde antreten. Mit einem zusammen gestoppelten Lkw ging es auf’s Land, durch den Kreis zu einem großen Güterbahnhof. Dort sollten wir Kartoffeln abholen. Da standen Waggons, die Tore aufgerissen, eine weithin wahrnehmbare stinkige Masse floß heraus. In diesem Dreck wühlten Menschlein, um Brauchbares heraus zu holen. Eine Probe wurde in eine Kiste geschaufelt, als Beweis mit nach Hause genommen. Auf einem Acker zupfte eine Gruppe von Menschen, vielleicht nicht ganz freiwillig, Möhren. Der Lkw wurde mit frischen Möhren vollgestopft. So bekam die Gemeinde wieder etwas zu essen: Möhren, nur Möhren – kein Salz, keine Kartoffeln.

In unserem »Paradies« hatte Mutter noch das Gemüse ernten können. Sie schickte mich damit zu Bekannten in Berlin, zu Fuß. Ich bekam dafür ein Brot. Nun trage mal mit leerem Magen ein Brot nach Hause, einen langen Weg zurück von Berlin hinaus. Ein Goldstück! Kennst du noch das Märchen vom »Tischlein deck dich«? Das Brot wurde schwerer und schwerer. Ich ließ mich zum Kosten verführen, knabberte ein kleines Stückchen der harten Rinde ab, ich marschierte weiter. Ich knabberte wieder und wieder, immer nach einer Pause im Laufen durch den Sand der Märkischen Heide. Als ich das Pfundbrot ablieferte, fehlte ein Achtel oder ein Viertel. Ich schämte mich. Doch Mutter nahm mich in den Arm, wischte meine Tränen weg („Großer Junge heult nicht!“).

Mutter hatte eine Miete mit Rüben ausgemacht. Im Glauben, es wären Zuckerrüben, nahm sie einen Sack voll mit, sie wollte Rübenkraut kochen. Was dabei raus kam war kein Rübenkraut, ungenießbar, es hätte Zuckers bedurft.

Ich weiß nicht, waren Mutter und ich alleine mit dem Handwagen unterwegs. Wir klopften in einem Hof an, früher war das der Ortsbauernführer. Da hatten die Russen gewütet. In der guten Stube sollen sie ausgiebig gebadet haben, damit das verschüttete Wasser abfließen konnte, hatte man Löcher in der Holzfußboden gebohrt. Auf der Fensterbank erblickte ich einen Laib Russenbrot, ein großer Rest, leicht angeschimmelt. Wir durften den Kanten mitnehmen. Mutter dachte an eine Brotsuppe. Als wir zu Hause ankamen, hatten wir anstelle von Kartoffeln einen Ballen Stroh für’s Kaninchen mitgebracht, das Brot hat mich alleine satt gemacht.

Mutter brachte von der Pastoren-Familie ein Stück Fleisch mit. Sie hatte es nicht so, wie man unterwegs ansehen konnte, wie Menschlein über ein zusammengebrochenes und von den Russen liegen gelassenes Rindvieh oder Pferd herfielen und sich ein Stück aus dem Kadaver heraus geschnitten. Sie brachte ein Stück Fleisch nach Hause. Sie briet und kochte es. Sie stellte es über Nacht in die Speisekammer, verschloß diese. Die ewigen Wassersuppen mit Nichts drin zwangen uns nachts mehrmals zur Toilette. So hungrig an der Speisekammertür vorbei? Am nächsten Morgen erschrak unsere Mutter, als das gute Stück Fleisch nicht mehr da war. Sie ließ uns sechs Kinder »antreten«, roch an jedem – sie war erleichtert, weil jedes nach Braten roch, also hatte jeder außer Mutter etwas vom Fleisch abbekommen. Zugleich kam heraus, daß ein Dietrich im Umlauf war, mit dem man das Schloß der Speisekammer »knacken« konnte.

Schwesterchen Ilse litt unter den immer stärker werdenden Wucherungen. In den letzten Kriegstagen wollte und konnte Mutter mit ihm nicht nach Neukölln ins Krankenhaus fahren. Aber gleich nach Kriegsende zog Mutter mit Ilschen im Handwagen und mir zu Fuß los. Der Russe hatte das Krankenhaus besetzt, den Deutschen waren wenige Räume überlassen worden. Der aufnehmende Arzt bat Mutter nach Abzug der Russen und Einzug der Amerikaner wieder reinzuschauen. Die Russen nahmen alles Inventar mit, es sah drollig aus: Panjewagen mit Betten und Nachttischchen. Ganz anders der Einmarsch der Amis: sie rollten mit geschlossenen Panzerluken in Neukölln ein, nahmen ihren »Sektor« feldmarschmäßig ein. Wieder zogen wir zu Dritt zum Krankenhaus. Immer machten wir einen Umweg zu Mutters Onkel, der das Glück hatte in Rudow, also im »Westen« zu wohnen. Da er wie Großvater und Mutter Bräuche aus dem zaristischen Rußland mitgebracht hatten, gab es doch Tee aus dem Samovar. Die Operation verlief ohne Probleme, man hielt Ilse aber noch einige Tage länger im Krankenhaus. Als ich sie besuchte, zog sie die Schublade ihres Nachttischchen auf und forderte mich auf, die von ihr gesparten Hasenbrote zu essen – und ich war ein Tier, fraß alles auf.

Die Mutter war in den Harz gefahren, zur Großmutter, da erhoffte sie Nachricht über den Verbleib unseres in Dänemark verwundeten Vaters. In der Zeit, wo eigentlich nichts mehr funktionierte, fanden die Menschen in all dem Chaos doch noch manches, wo schon wieder etwas anlief. Eine Postkarte fand den Weg vom Ruhrgebiet über Stationen am Rande des Harz – gerade waren die Russen da einmarschiert, Engländer und Amerika zogen sich zurück – zur Großmutter. Die erreichte so unsere Mutter. Der Vater war bei einem Vetter im Ruhrgebiet aufgeschlagen. Mutter kam nach Hause, setzte sich hin und schneiderte Rucksäcke. Ein Fluchtgepäck wurde zusammen gestellt. Wir wanderten über Berlin aus in die Britische Zone. Wir zogen in den Westen um.

ortwin

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Kommentare (2)

ortwin Meine 2 Jahre jüngere Schwester - sie wollte doch die Kronprinzessin sein - hat meine Story gelesen: endlich erinnert sie sich per eMail an diese neun Jahre von Eichwalde, "nu dischgudieret wir!" Und im nächsten Jahr mache ich im Heimatverein mit, Schwesterlein wird irgendwann die Gelegenheit finden, mal von Bayern hinüber zu kommen.
tilli Du erzählst die Geschichten und man sieht sie vor sich.Die Erinnerung,als man uns aus der Wohnung auf die Straße setzten.Meine alte Großeltern,weinten und ich mußte zusehen ohne helfen zu können. Ich war 10, aber das Unrecht, was mit den deutschen Familien in Oberschlesien getrieben wurde,das weckt in mir die Wut.die ich damals gespürt habe.
Gut,das unsere Kinder solche Situationen nicht erleben.
Ich grüße dich und deinen Spatz.
Tilli

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