Imagine - Stell dir vor …


Imagine - Stell dir vor …
Imagine – Stell dir vor!
 
Ich hörte diesen Song in den Innenhöfen von Sankt Peter. Es klang, als ob die Musik direkt aus den Wänden des Mönchsberg kommen würde. Ich war gerade bei Pater Engelbert an der Pforte gewesen und hatte mir den obligaten Sonntagsfünfer und eine Kante Brot abgeholt. Früher hätte ich mich geschämt, jetzt war es anders. Ich brauchte nicht mehr betteln, musste mich nicht erniedrigen, brauchte nichts mehr zu sagen, ich war bekannt. Trotzdem war es nicht Alltag.
 
Es war wieder einmal so ein vermaledeiter Sonntag. So ein Tag, an dem sich alle anderen freuten und im feinen Gewand durch den Festspielbezirk flanierten. Kein guter Tag für Leute wie mich. Unsereins fiel an solchen Tagen noch mehr aus der Rolle als sonst. Ich kam mir schäbig vor, obwohl ich frisch rasiert war und das Hemd aus dem Fundus Pater Engelberts nach Lavendel roch. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass mir jeder ansehen könnte, wie es mir gerade geht. Irgendwie werde ich diese Tage schon überstehen, dachte ich, schließlich ist Festspielzeit und es wimmelt von Touristen, das ist gut für die Anonymität. 
Ich hörte einen A capella Chor und ließ mich davon treiben, steuerte in Richtung Jedermannbühne auf dem Domplatz und stimmte summend mit ein: Imagine all the people, living life in peace … 

Es war ja nicht so, dass ich gar keine Perspektive gehabt hätte. Oh nein, ich hatte sehr wohl Pläne. Dass ich momentan neben der Spur stand, war meiner Meinung nach nur dem unglücklichen Zustand geschuldet, dass meine Sucht nach Alkohol gerade in die Hochphase überging. Ich verlor zeitweise die Kontrolle über mich, war aber dennoch überzeugt, von selbst aufhören und jederzeit aussteigen zu können, wenn ich nur wollte. Ich war der festen Meinung, dass ich mit Jim Beam und Johnnie Walker meinen geistigen Horizont erweitern und mich auf dieser imaginären Welle des Glücks festhalten könnte – bis – ja, bis wann? Bis der Tod uns scheidet? Nein, so weit werde ich es nicht kommen lassen.
 
In nüchternen Momenten wie an diesem Sonntag, mit John Lennon im Ohr, spürte ich: es kommt eine leise Hoffnung auf. Ich wusste, ich muss raus aus diesem Zug namens Sucht. Der Alkoholexpress fuhr mit mir ohne Halt ins Ungewisse. Ich war bereit abzuspringen, fürchtete aber den harten Aufprall. Insgeheim hoffte ich auf ein Wunder, auf einen Impuls von Außen. Gibt es einen Gott, gibt es jemand, der mich auffängt? Lass die Träumerei – dachte ich. Geh weiter, folge der Musik, woher kommen die Stimmen?

Ich stand wie gebannt unter den Dombögen und lauschte mit allen Sinnen. Imagine all the people, living for today ... Vorne, mitten auf der Jedermannbühne, stand eine weiße Leinwand mit aufprojizierten Texten: Imagine – Stell dir vor! Imagine there’s no heaven … darunter der eines Gospelsongs: Oh when the saints, go marching in … 

Vieles sprach für ein normales Konzert, doch ein prominenter Künstler war nicht zu sehen. Nein, John Lennon war nicht da – aber Kinder, viele Kinder. Die Kinder waren die Stars. Die ganze Woche hatte ich gerätselt, was die vielen Plakate wohl bedeuten könnten: Palette 80 stand da in bunten Lettern. Jetzt wurde mir klar, das war diese Veranstaltung: Kinder der katholischen Jungschar aus Österreich und Europa trafen sich in Salzburg zum Singen.
 
Ich mischte mich unter die Zuschauer und sang spontan mit. Ein Vibrieren lag in der Luft. Menschen wurden zum vokalen Klangkörper. Es war großartig. Auch wenn Imagine kein lauter Song war – klang es doch wie ein rauschendes Bekenntnis: Imagine – Stell dir vor, all die Menschen, sie teilen sich die Welt, einfach so.
 
Es war ein Erlebnis den Kindern mit ihren fröhlich bunten Halstüchern zuzusehen, wie sie mit voller Inbrunst diesen Song interpretierten. Ich hatte noch nie so große und strahlende Kinderaugen gesehen. Ich war sicher, sie wußten, wovon sie sangen. John Lennons große Vision von Imagine bekam eine spielerische Note durch die Stimmen der Kinder. Das Lied ist schlicht, einfach in seiner Aussage. War leicht zu verstehen und doch so schwer umzusetzen. Denn es erzählt nicht nur. Es fordert auf, etwas zu tun: Imagine … wenigstens das. Stell dir vor: it‘s easy if you try.

Kein Himmel, keine Hölle. Keine Ländergrenzen, keine Kriege, keine Religionen – nichts wofür man in den Krieg ziehen würde. Aber auch: Kein Besitz, keine Gier, keine Obdachlosen, keine Sandler – und vielleicht auch: kein Hunger in der Welt. I wonder if you can, ist schon schwerer, weil es mein eigenes Leben, meine Lebensweise betrifft und nicht Entscheidungen von denen da oben …

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