In der russischen Staatsbahn

Autor: ehemaliges Mitglied



... Sommeraufnahme








In der Baikal-Amur-Magistrale!


Endlich!

Die Türen knallen auf.

Geht's jetzt los?

Der Schaffner schreit, auf Deutsch! Wow:
„Fangt-den-Hut, meine Herren, 'meine Dienstmützte!' - dem Gorbi geht es gut! – Excuse me: dem Ras Putin! Den Namen krieg ich auch noch hin! - Jawoll und hallo, der Herr, hier! Guten Morgen! Liebes Deutsches Gefreunde! - Nitschewo! An der Moskwa alles in Tort-, äh, in Ordnung! Das Volk marschiert mit den Truppen!
Holladiho! Funktioniert auch das Kloo?"

Er kommt zu Atem!

"Ahajazza-ach - Die Fahrscheine, bitte! – Oder, yes, Your tickets! Please!“

Na, hat der Schwätzer auspalavert?
– Ja, jetzt wird er pingelig. Oder: Er will nachgezahlt haben, auch in die eignen Tasche! – Unsere Führerin hat das alles schon erlebt! – „Keine Sorges, ihr liebes Detusches! Ich zahlen für euche! Allens alles!“

Eine Taschenlampe mit tropfendem Licht leuchtete in das finstere, vom schmuddligen Notlicht matt erhellte Abteil der 1. Klasse. Und eine durch festgeriebenen Schmutz schon glänzend gewordene Hand streckte sich vor und winkte die Karte oder die Karten und die Rubel-Scheine heran.

"Wie weit ist es noch bis zum See?" fragte aus dem Dunkel eine Stimme mit unverkennbar deutschem Akzent, die, wie wir wissen, Alfred-Peter Kerskes, genannt Petro, einem Biologen, verdientem Oberstudienrat und real unbefriedigtem - Ökofriedensfreund, gehörte, der sich auf einen Russland-Trip eingelassen hatte, der ihn nach der Hauptstadt Irkutsk am Baikalsee im südlichen Sibirien führen sollte.

"Unseren göttlichen Baikal - meinen Sie den - Ja?" - Er schlug ein flüchtiges Kreuzzeichen über seinen Wanst! „Noch fast zwei Stunden bis dahin“, sagte der Schaffner, mitleidig, aber hilflos, und knipste die Karte.
"Heda, dort liegt ja noch jemand! Die Fahrkarte, bitte. Aber, hallo!" Und er wartete geduldig und vergebens. "Das Ticket bitte, mein Herr! Dawai, dawai!" Und er zupfte an einem Ärmel, der im huschenden Lichtschein der Lampe auf dem gegenüberliegenden Polster sichtbar wurde.

"Kerl, ach, du Blödian, ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht vor sieben Uhr wecken sollst, geh zum Teufel, du Bahn - du Bahn! Dämel du! Verdammter Beamtensteiß! Kartenscheißer! Pistra! Pistra!"
"Ach Sie sind es, mein Herr! Verzeihen Sie, ich habe Sie im Dunkel nicht erkannt. Ich dachte, Sie seien im Speisewagen geblieben. Und" (dann leiser) "tafelten dort vornehm mit einer rotblonden Kurven-Kurnikova! - Mhm! Mal los, die Herren!"
Beruhigende Handbewegungen, erkennbar gütig wie vom segnenden Popen, begleiten seinen Rückzug. "Beunruhigen Sie sich bitte nicht, ich werde Sie bestimmt um sieben Uhr wecken! Garantiert. Mein Herr! - Angenehme Ruhe noch, der Herr!"

Und so nun verschwand der Schaffner, die Dienstmütze in der Hand, mit einem entschuldigenden Blick und einem hilflosen Achselzucken zum Deutschen hin.

"Wird mich noch um sieben wecken, der verbeamtete Grobian! Was nützt mir das, wenn er mich dummerweise jetzt schon geweckt hat!" brummte eine verärgerte Stimme. "Was sind doch diese Beamten, schlecht besoldeten Schaffner, für Esel! Da gibt man ihm ein gutes Trinkgeld in West-Valuta, und der? Er erkennt einen im Abteil nicht! So ein Deutsch-Wodka-Trottel!"

"In Deutschland wäre das aber nicht möglich!" ließ sich der Herr aus der anderen Ecke des Abteils vernehmen.
"Das glaube ich wohl: Dort ist man pünktlich und genau. Korrekt wie bei Barbarossa! Und kassiert stündlich unser Zinsen von den Milliardenkrediten. Unsere ersparten Rubelchen!", knurrte es von drüben, aus dem Dunkel die Stimme des großen vaterländischen Beleidigtseins.

"Nein, ich meine, bei uns in Deutschland wäre das nicht möglich, dass man einen Schaffner, der seine Pflicht zu tun hat, einfach beschimpft und hinausjagt!" entgegnete der Deutsche, etwas nachdrücklicher. Mutiger, schon!
"Ja, ihr Deutschen! Ihr seid ein ordentliches, ja sogar akkurates Volk, ihr Westler des Gewissens! Lassen Sie uns in Gute die Schmerzen des Salzes teilen. In unseren Wunden. - Ach. - Bei euch läuft alles wie am Schnurchen!" erwiderte der Russe und richtete sich auf, um genauer in die Ecke des Deutschen hinüberzuschauen.
Von wo es nun fragte: "Wie war es denn übrigens im Speisewagen? Kann man dort noch hin?"
"Wozu - Sind Sie - sind Optimiste? - Wie gutes Gothe? Dawai?“
"Aber immer. In Ihrem Land kann man mit allem rechnen. Auch mit jedem Wunder, mit dem man eigentlich schon nicht mehr gerechnet hat."
"Na, der Teufel auch. Und dass hier niemand mehr von Gorbi und seinem Kamillentee für arme Rentnerinnen quatscht. Jelzin! Ja, ja, der hat die Saubande im Weißen Haus zusammenschießen lassen. Ausräuchern! Alte sibirische Kampftaktik!"
"Dann noch pfählen und den Bären vorwerfen...“
"Und dann - was dann - wenn ihn der Stein des Wodkas trifft?"
"Haja. Und dann vielleicht ein Diktator, ein Prediger von Mütterchen Russland, ein neuer Sankt Ras, ein Putin!"
„Da kann man gespannt sein! Jawoll-woll!"
"Mussen Sie! Da bin ich ja geturmt! Schnell weg da, ist gunstiger!“

... Pause. Gluckern!

"Was? Wo weg?“
"Aus dem Speisesalon! Alles kalt da! Und Wodka und sonst was Feineres aus dem südlichen Frankreich gar hab ich selber im Rucksack! Die kriegen keinen Strom mehr ruber von der Lokomotive. Wohl ein Schaden in der Elektrik, den sie erst in Komsomolsk reparieren konnen, wenn uber Haupte. Aber an Schlaf ist sowieso nicht mehr zu denken. Erlauben Sie, mein Herr, dass ich hier Licht mache?"
"Bitte sehr, ich bin völlig wach. Und muß sowieso bald aussteigen, in Irkutsk."
"Wie-was? In Irkutsk? Göttin Babuschka Transbaikalska! Da sind Sie aber arg falsch dran. Sie hätten schon lange die Baikal-Amur-Magistrale verlassen müssen. Unser nächster Halt ist Sewerobaikalsk, dann kommt schon Nischneagarsk, oberhalb unseres heiligen Baikalmeeres. Gott schütze es! Am Nordufer sind wir. Und Irkutsk, die selige Stadt? Stadt der Diebe? Mafiosi habe ich nicht gesagt? Wenn wir Weihnachten und diesen Winter erst überlebt haben - da..."
„Mein Gottohgottchen, nur keine Panik - ich weiß, am südlichen Ufer! Am Abfluß der verpißten Angara! Ich bin Geograph und Biologe! Deutscher Beamter! Gymnasium! Akademielehrer neben meiner biological obsession. Auch kulturell interessiert. Und da soll ich mich so - so verratzt haben? Ja? - Nun, aber? - Da muß mir der Schaffner aber helfen."
Der Russe holte aus seinem Rucksack eine Armeestabtaschenlampe, legte sie auf das Tischchen an der Fensterseite und drehte den Strahl langsam hin zu dem Deutschen.

*

Im schwachen Lichtschein konnten sich jetzt die beiden einzigen Fahrgäste im neunten Abteil der ersten Klasse betrachten. Der Russe war ein mittelgroßer, schmalschultriger Mann von etwa vierzig Jahren mit dünnem, rötlichem Vollbart bis hinter die Ohren, gelbbraunen Wangen und müden, etwas schwermütigen Augen. Der Deutsche ein großer, hagerer Herr, mit spärlichen, glattgescheitelten, gut parfümierten Härchen über einer flachen, sich anstrengenden Stirn und beweglich wachsamen Augen hinter einer eleganten, randlosen Brille mit petrolgrüner Fassung. Wo nur gekauft?
"Ja, bei euch läuft alles wie geplant, wie von selbst", wiederholte der Russe, reichte dem Gegenüber ein silbern elegantes Etui, bot ihm an und entzündete sich eine Zigarette, als der Deutsche dankte. "Aber bei uns muß man eben austeilen, ich meine: schmieren! Das ist ein komplexes soziales System! Hoch interessant."
"Geben Sie mir ein tausend tüchtige Beamte, mit betriebswirtschaftlichem Know-how, und ich will die russische Kraftmaschine, dieses herrliche Land voller Möglichkeiten und Überraschungen, wieder in Ordnung bringen, damit sie wie geschmiert läuft und von selbst sich erneuert. Wie die Kommunistenbanden es versprachen und nie einhielten! Das Mütterchen Russland sei gewogen - und das alles freundlich, ohne Streit, lautlos, ohne Mafia und ohne die Genies, ohne die Suffköppe und Herzkasper im Kabinett!" versicherte der Deutsche stolz, freundlich und lächelnd.

Der Russe sah ihn mitleidig-ironisch, mit kaum unterdrücktem Mißbehagen an. Er rauchte einige tiefe Züge. Dann sagte er seelenvoll lächelnd: "Je nun! Sohn einer treuherzigen Balalaika und eines deutschen Examens. Und doch will ich nicht mit Ihnen und Ihrem Lande tauschen. Hier geht alles langsamer, nicht so pünktlich, zugegeben, aber dafür angenehmer und bequemer und irgendwo, ach, sehen Sie! Sehen Sie - schon diese Eisenbahn: Ich bin nur einmal über Warschau hinaus bis nach Frankfurt/Oder gefahren, von Kaninchengrad aus. Ab der polnischen Grenze, da ging es aber so, - so, dass ich dachte, mir würden die Eingeweiden aus dem Leib gerissen!
(Pause…!)
Wie das stuckert und saust und polkt! Ballert und knallert! Wie Sex auf Rädern. Murksen - Sie verstehn? Eisenhart, aber gesund! Und wie angenehm und glatt geht es dagegen hier! Sie erleben es doch selber!"
"Ja, in Russland hat man noch Zeit für alle Sperenzchen", meinte der Deutsche nachsichtig, mit eitler Gnade und etwas Wohlwollen. Von euern brummenden Popen und euern Dichtern eingecremt und beweihräuchert! Was könnte man bei uns im Westen alles mit dieser Zeit angefangen, die ihr hier verschwendet wie im Paradies! Und mit euren Schmiergeldern, Trinkgeldern, eurer großrussischen Bestechlichkeit! Welche Summen, die man hier täglich zum Fenster hinauswirft - nur damit die Räder überhaupt rollen. Und dann versagt, pitschpatsch, knallaballa, die ganze altertümliche Elektrik! Und der Komfort in der ersten Klasse. Ach, was! Überall, zum Teufel ist’s, da ist alles kalt und dunkel!“

"Na - und wenn wir, wie Sie sagen, das ganze Geld zum Fenster hinauswerfen, so mussen Sie nicht vergessen, dass auch draußen Menschen auf uns warten, die eben von diesem Geld leben wollen, ja, leben mussen!" ergänzte der Russe lächelnd. "Gestatten, unhoflich ich! Mein Name ist Boris Leonowitsch Sakuskin-Sologun. Ja, Sologun der Große - Sie kennen ihn? Ein vergessener Dichter! - Aus Petersburg. Reisend in eiligen Bankgeschaften."

Auch der Deutsche stellte sich vor, genau, ein Biologe namens Alfred Kerskes, Oberstudienrat am - ach, was! Er sagt: "Aus Korthusen. Einem lümmelig kleinen, schnuckeligen Ort im Ruhrgebiet. Wo’s nich mal ‘nen Puff gibt. Weil der Pastor noch alle Jungmädchen beaufsichtigt. Sie haben’s gehört! Na, ich fahre zum Baikal, um mit dem Prof. Barkowa und dem Ökokämpfer Rasputin -"

"Ah, ja, aus dem großen, kraftvollen Ruhrgebiet, der Kohlen- und Stahlmaschine des Germanischen.“ Er wiegt heldisch-spitzbübisch den Wuselkopf. „Das wissen wir wohl seit Adolfs Blitzkriegen: Dusseldorf, Dortmund, Dusburg und Essen. Oder ist es umgekehrt? Ich war Kartograf bei der Luftwaffe! Aber egal! Dann die Menschen da draußen, unter den Fenstern! Im Grunde ist es dasselbe, man zahlt und man verdient.“

"Aber die Moral? Die gute Kultur des Humanen! Und das gute Geschäft des Kaufmanns? Die menschliche Würde?" trumpfte Kersjens Pitundjan auf und zündete sich ein eigenes Zigarillo an, legte dann aber die Schachtel für den Reisegefährten auf das Tischchen zwischen ihnen. "Das sind doch schon Mafia-Verhältnisse! Wenn ich mir Geld verdiene, dann habe ich es mir verdient. Der Verdienst! Das Verdienst! Ahja? Sie verstehn? -Wenn ich es aber mir in die Hand drücken lasse - dann -"
"Da haben Sie es doch leichter, noch besser verdient! Als schulischer Beamter - Sie -Regierungskulaker - brauchen Sie es wohl nicht?" schnitt ihm der Russe lachend das Wort ab, zückte aus der Pelztasche ein Flaschchen Madeira, entschraubte es und füllte den Kappenbecher: "Darf ich Ihnen ein Schluckchen Heiliges anbieten? Importe Germanskis. Aus edlem Westen! Verkauft KARSTADT in Irkutsk!"

Im deutschen Manne kämpften einen Augenblick Stolz und Nütz -: „Ah, ah, Nutzlichkeitserwägungen, Herr Baris!“. Aber der herb-gute Madeirageruch trug den Sieg davon. Er trank ein Schlückchen und dankte.

Sologun goß nach und leerte den Becher und bot dem Deutschen nochmals an; als der wegnickte, trank er selber noch zwei Kappen und fuhr fort: "Nein, nein, Sie konnen sagen, was Sie wollen: bei uns in Russland lebt es sich doch besser, man kann alles haben -"
"Und was kann man denn erst recht bei uns im Westen nicht haben?" schnitt Kersjens das Wort ab. "Da bitte ich Sie aber!“
„Schon Dostojewski sagte - äh-“
„Dostojewski - der Spieler...?“
"Alles, ja, alles - alles - was - Sie brauchen. Ich weiß!" verbesserte der Russe ruhevoll lachend.

Da war noch ein Rest im Flaschchen, äh, Fläschchen. Der jetzt vernichtet werden mußte.
"Sagen wir, zu einem Beispiel: Achtüüüung! Es kommen doch solche naturlichen Falle vor: Sie wollen, wie man sagt, sich amusieren?"
Da demonstriert dieser Herr doch, mit gerollter linker Hand und stoßendem rechtem Zeigefinger: fickificki !
Jetzt war das Thema eigenartig interessant geworden für den deutschen Mann.
"Was machen Sie dann, mein Herr Kersjenkow?"

Der Deutsche überlegte es sich, erst beamtenmäßig, dann leidenschaftlich-kreativ. Da sagte er, und seine beweglichen Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz:
"Wenn ich verheiratet bin, gehe ich zu meiner Frau, und wenn ich nicht verheiratet bin, in ein - äh, ein öffentliches Haus. Dem DOM der Freude und der guten Mitschwestern!"

Der Russenkopf lächelte mitwisserisch, gütig: „Wie der Deutsche sagt: Ja, ein Hauschen der Freude. - Aber wenn ein solches Hauschen nicht vorhanden ist?"
„Jaja, nicht auf den Gleisen wachst!“
„Jahaha! Meister der Blumen! Sprache, ich meine.“
"Dann versuche ich im Kollegium auf dem Ausflug - nein! Da sage ich lieber so: Da mache ich auf der Straße Bekanntschaften, bei einem Bummel in der Fußgängerzone, und dann in einem Café. Na, da such ich mal eben."
"Und wenn Sie, aus irgendeinem Grunde, keine solche Bekanntschaft machen können, mein Herr?"
"Ich verstehe Sie nicht."
"Nun, sagen wir zum Beispiel, wie hier im Abteil. Nehmen wir an, Sie wollen gerade jetzt, bevor es hell wird, eine Bekanntschaft machen, im Zuge hier. Was wurden Sie in diesem Fall tun?"
"Ich wurde wohl warten mussen, nu - bis ich in Irkutsk angekommen bin oder da in, meinetwegen, Sewerobaikalsk. Man braucht doch nicht immer gleich, äh, man kann sich doch auch gedulden oder so. - Sagen wir allen unseren Schulern: Erst TIMMS! Das ist Leistung und Korrektheit! Und alles Abfragen! Dann ein paar SMS! Simsen, heißt das, auf Karte, die Mama bezahlt!“
"Es gibt aber Falle. Oh!“- prustend: „oh!", schluchzt mein Russe nachdenklich, "wo man sich nicht gedulden mochte oder kann. Das ist eine rein phusische Sache. Ist ein Sturmchen im Wasserglas. Das ist sozusagen normal. Flussigkeit. - Etcetera-etceterum."
Prost! Erst mal wieder: Prost!

"Schön, na, gut, was macht man da? Was machen Sie da in Russland? Zum Beispiel, wenn man eine Wette darum abschließt und sie entscheiden muß?" fragte Kersjens neugierig und setzte sich stracks aufrecht.
„Ich holen kann mir ein Madchen!“
„Was? Hier, im Zug?“
„Ja, ja, auch im Zuge hier. Null Peoblemo. Dawai!“
"Sie machen Witze, Herr Sasczusolukin. Unedles Witzchen! Wie kann man sich denn im Zuge ein Mädchen holen? Da brauchen Sie doch zwei Tage - und eine Nacht in einem Hotel mit westlichem Standard, um sie rumzukriegen. Wenn sie keine Edelnutte ist.“
"Richtig. Nitribit-Babuschka! - Aber: Ich sagte Ihnen doch, dass man bei uns im Russland alles haben kann, wenn man es nur in Valuta bezahlen mochte.“ Zuzwinkernd: „Wann mussen Sie aussteigen, Herr Kersjenkow?"
"Wohl in einer Stunde. Da ist ja alles noch durcheinander, ob und wie ich von da weiterkomme. In den Suden rünter. Äh – oder: in den Süden runter? - Ich weiß auch nicht, ob wir Verspätung haben. Sie?"
"Wir konnen ja das Schaffnerchen fragen! Aber ich weiß, wir haben noch Zeit, mehr als eine Stunde. Kommen Sie mit, dann konnen Sie sich selbst ein Madchen aussuchen. Glauben Sie mir, Vaterchen!"

Und dabei stand der Russe auf, öffnete die Tür und trat in den dunklen Korridor. Der Deutsche folgte ihm zögernd.

*

Am Ende des Ganges hockte der Schaffner auf einem Polsterbänkchen und schlief.
Der Russe zupfte ihn am Kragen, dann rüttelte er ihn stärker. Als der Beamte aufsprang, fragte der Russe in einem Ton, den der Deutsche nicht barsch, aber auch nicht bittend bezeichnen wollte: "Du hast mich vorhin geweckt, ich kann nicht mehr schlafen. Auch der Deutsche hier langweilt sich. Verschaff er uns, bitte sehr, Madchen. - Er horen? Verstehen doch deutsch er! - Madchen! Frauen, nicht zu alte! - Schone noch! Gute! Ohne TB! Ohne Syphilis! Nix AIDSE! - Verstehen?"
Und steckte ihm eine 50-Dollar-Note zu.

Kurzes intensives Erfassen -
"Ganz, wie der Herr befehlen, Euer Hochwohlgeboren. Und wieviel, wenn ich fragen darf?" - mit einem Blick auf den Deutschen. "Zwei Stuck! Aber nicht zu alte oder zu dicke! Horst-hor-test du, Herr Eisenbahn- und Transchsportministerium! Keine zahen Rocke! Keine fetten Puppen mit Puppchen in Bauchen. Und keine Hopfenstangen. Die wollen immerzu so Intellektuelles! Coitus cum Vorspiel. Eher Sanftes und Gerundliches. Wie man so sagt: ein gutes Bett voll."
"Wie der Herr befehlen. Wir haben verschiedene Schonheiten in der dritten Klasse. Am besten die Herren kommen mit und suchen sich selbst was Passables!"
"Gut dann - wir kommen mit."
„Kommen wir.“
Der Schaffner schritt voran. Der Banker gab ihm seine Stablampe.
Nachlässig und zugleich huldvoll, wie ein Fürst in seinem Revier, der seinen Untergebenen eine Gnade erweist, folgte Sakuskologun ihm. Scheu und auf Äußerste gespannt, schlich der Deutsche hinterdrein, gereckt-drohenden Hauptes. Wie wir wissen.

Sie durchschritten noch einen schaukelnden Waggon der ersten Klasse. Nur in einem Abteil flammten Lichter (für Kameras) und lachendes Leben. Eine Gesellschaft? Ein Team, das Kersjens am blauen Aufkleber in einem Wagen erster Klasse. Nur in einem Abteil war Licht von Batteriescheinwerfern. Kameras und Leben. Ein Team, das Kersjens am blauen Sticker wdr auf den Pullovern erkannte.
Weiter ging es durch dunkle Waggons. Voller Leben im Traum.
Schließlich gelangten sie zu den Wagen der dritten Klasse. Eine dumpfe, sauerlich-verbrauchte Luft schlug ihnen entgegen. Der schneidende Strahl der Lampe ging mit dem Schaffner von Bank zu Bank, leuchtete bald hierhin, bald dorthin. Überall lagerten Männer, Frauen, Mädchen, Kinder auf den Bänken und schliefen. Ein Kleinkind plärrte aus einem Gepäcknetz.
Endlich blieb der Schaffner vor der achten Bank stehen und fragte flüsternd über die Schulter zurück: "Wie gefällt Ihnen diese? Hier!"
Der Russe trat näher: „Zeig mal her!“ Leiser: „Stottakoi, Wichser, du !" Und nochmals: „Oh Wunderchen von Petrograd! - Andrej! Andrej! Dobryj angel smert!“
Der Schaffner leuchtete mit der Laterne. Ein rundlich-rosiges Mädchengesicht, umrahmt von einem weiß-blauen Kopftuchlein, bewegte sich ruhevoll leise im Schlaf. „Pfü.“
„Hm, hm, schon, nicht ubel. Aber zeig mal noch die andere hier!" und der Russe wies auf eine weibliche Gestalt, die auf der Bank gegenüber ausgestreckt lag.
Der Strahl der Lampe glitt fickrig über ein Antlitz mit nach unten gekehrten Kopfchen, blond, so blond, mit gelösten, strähnigen Haaren.
„Dreh sie mal um! Da! So!“ befahl Sologun und griff selber zu.
Doch der Schaffner drängt ihn ab und faßte die Frau leicht rüttelnd an der Schulter und zog sie leicht nach oben. Ein stupsnäsiges, appetitliches Gesichtchen mit einem frechen Kinngrübchen kam zum Vorschein.
„Nudliches Geschopf“, schmunzelte der Schaffner.
„Also! Zwei Treffer in funf Minuten! Bring sie beide!“ entschied der Russe und trat mit dem Deutschen, der abwartend in der Abteiltür stehen geblieben war, den Rückweg an.

„Ich bringe noch Decken! Schon Dickes! Sauberes!", beeilte sich der Schaffner. „Wird zwanzig Dollar kosten. Oder dreißig. - Deutsch, dreimal Mark so viel!“
„Und wenn die Frauen nicht wollen - was dann?" fragte der Schulbeamte seinen Reisekumpan.
Der Russe blieb stehen und zeigte lauschend zurück.
Sie hörten noch die eifrig flüsternde Stimme des Schaffners: "Steh auf, steh auf. Verstehen deutsch? Man sagt dir, du sollst aufstehen. Die Herren warten nicht gerne vergebens. Bis zum Morgengrauen! Dann ist Ablösung! Und Geld gibt’s hinterher von mir! - Leise: Muß ja auch was verdiensten.’ Doswidanja!“
*
„Nur ein Stustu-Stündchen noch.“
- „Hoppelhopp!
„Nun, was sagen Sie?“ Sakuskin klopft den Bauch, grinst. „Auch wir konnen organisieren - ganz wie die Deutschens.“
*
Einmal sah er ihr Gesicht vollauf erhellt. Er erblickte ihre rechte, verkräuselte Ohrmuschel. Und er versuchte auf ihr ermunterndes Lächeln zu antworten, auf ihre Geste hin zu lächeln, als sie mit zärtlich vorsichtigen Fingerkuppen lockend auf seinen Mund zeigte und die eigenen Lippen aufstülpte. ‘Irre das hier! Kuck einem Menschlein in seine Ohrmuschel, und du kriegst keinen mehr hoch.’ Und von vorn, na? Beide lächeln. Da sah er ihr breites Lippenbändchen, sie zog die Oberlippe wehmütig hoch, und ihr rosiges Züngeln. Und näherte sich ihrem Mund. Er genoß ihr Gesichtchen. Atmete tief den Anblick ihres Leibes einundaus.
‘Darf ein Mädchen so jung und so schön sein? In diesem Land, wo sie sich verkaufen muß! Sie ist kaum älter als meine Tochter. So erblüht zum - pfui, Freddy? Was willst du, mit ihr quatschen? - Pute-Schnute!’
„Ju känn kis mi! - Pliesä!“
Hat er sie nicht verstanden? „What?“
„Ju ar allaud, to kiss mi! Plies! Trei id!“
‘Schulenglisch, nicht schlechta als meins!’
Sie wartet mit einem Mund, der sich freut. Die Augen schließt sie. Und schaut dann wieder aus den Höhlen ihrer Haut.
‘Aber ich darf sie nehmen.’
„Schauen Sie?“ Und speichelte schimmernd über die Unterlippe. Gottseidank! Kein Schuingamm!
Ai Görl!
Ja! Görl! Ja. Ich nehm dich - schon...

*

Als der Zug sich nach einem knappen Stündchen Sewerobaikalsk näherte, reckte und streckte und tänzelte der Deutsche wie zu einem Sommermorgen-Jogging, putzte sorgfältig seine Gläser, mit dem Ärmel einer Seidenbluse, für die er noch zusätzlich bezahlt hatte. Feines Stück, er roch nochmals. Parfüm genug, wie in Köln, Brüssel oder Milano. Jau, au in Gelsenkiiiirchen: leicht, herb und frühlingshaft.
Der Kumpel, neben ihm, still, leerte sein letztes Madeirafläschchen und warf es zum Fenster hinaus. Dann empfand er sich sehr sensibel: "Es bleibt doch immer was wie ein Korkengeschmack im Mund. Post omne coitum allemal russisches Leiden!“ Er, plutsch-plitsch-patsch, spuckt aus auf den Waggonboden. Dreimal. „Aber für den Abschluß der Fahrt zum heiligen Baikalsee war es sährsähr gut. Im Sommer, mein Herr, ja, zur Sommerszeit, ja, im Hochsommer mussen Sie unseren heiliges Meer erleben. Sagen wir Juli bis Mitte August. Wissen Sie, wie groß das ist? Das reicht flott von Stuttgart bis Hannover durch die deutschen Mittelgebirge, und 50 bis 60 km breit. Na, ist das nicht ein unruhiges Herz, bis es ruhet im Stadtmull und im Dreck und in den Abwassern der Papier - und Zellulosefabriken, fur ewig! Aber, was soll’s jetzt, mein Herr! (Pause!) Diese Eisenbahnmietzen und Flugzeug-Braute haben westlichen Schick. Ja, ja! Nicht ubel! Sie sind aber etwas aus Holz, obwohl gefugig und voller Erwartungen an den westliches Mann. Hast du genießt?“
Wartet vergeblich.
„Ja, aber war okay.“
Silentium? Nein, quatschte los: „Sagte mir zuerst: Schaun Sie - nur schaun?“
„Und nicht mal dumm, wenn es ums Vogeln geht. Ja, mein Herr, ist so?"
"Ja, und nicht zu teuer. Mit fünfundsiebzig ehrlichen Mark war meine Anjuta schon zufrieden. Vorher! Als sie nachher mehr wollte, habe ich ihr das leere Portmonee gezeigt." Er kicherte sanft: „Kommando ist Kommando! Vertrag ist Vertrag. Pah, das mussen die auch noch lernen, die Madchen! In Charkow zahlte ich, damals das erste Mal der neuen Zeit, 200 Rubel, noch vor der gloriosen Perestrojka. In Kaliningrad kann man die Preise drucken, wenn Mann es nicht zu eilig hat. Zuvor schwatzen! Und versteht mit einer Sonja-Frau zu verhandeln.“
„Ja, man wird in Zukunft in der Bahn fahren müssen, nur um Geld zu sparen und so", schloß gackernd Alfred der Deutsche die Episode.
„Njet, nix gut, njet-nixo! Meines Damchen wollte mir doch ein kitzekeines Praservativ uberstulpen. Da hab ich sie gedroht, sie fortzujagen und eine andere kommen zu lassen mir.“

Ach und achwas - und so träumt der deutsche Hausaufgabenforscher und Meisterbiologe aus Gelsenkirchen-Bismarck, indem er, gestärkt in seinem Mannesmut, sanft hinausdämmert in die innere Welt seiner Ideen, hätte ich doch meine Baikaltour in den Sommerferien gemacht, da wäre es warm und viel bequemer gewesen!

Mit einem jüngeren Anjuta-Weibchen im heißen Sand auf den idyllischen Uschkani-Inseln, ja für Einheimische gesperrt - und gegenüber die Robbenstrände an der Halbinsel „Heilige Nase“ mit ihrer Überfülle von biologischem Leben.

Auf jeden Fall muß ich aber im Sommer wiederkommen. Vielleicht entdeck ich noch eine spezifische Unterart der Baikalrobbe. An den Blumenkohlohren, supersüß gefältelt, identifizierbar. Robbus baicalus cerskensis! Haha! Irgendwas Eigenes an den Außenohren oder einer Lippenbandsehne, stark wie eine Nabelschnur. Da geh ich noch ein, doktorandenmäßig, in die Annalen der Naturgeschichte! Die Kerskes-Robbe! Die ich mit meinem Namen beehren kann. Oder der Prof. Gewalt kann mir den Titel abkaufen.
- Und den Schülern in den Unterricht einen Robbenembryo mitbringen, präpariert für ‘n par Dollar fünfzig! Und in Dusburg - Quatsch nich, Freddy, Duisburg - Geheimkommando: Düsbürg – gezielt: den Wasserflieger aufsetzen im Außenteich des Delphinariums. Mit dem Gewalt! Der wird ewig leben, de Bursche. Erreicht mit Vitaminen und Antibiotika achtundreißig Jahre, oder vierzig, wie der Zug des Gottesvolkes durch die Wüste! - Oder: Gotenvolkes? Wer quatsch mir denn dazwischen? - Garantiert! Jetzt, in dieser Kälte werden wir mit Traktoren und Lastwagen hinausfahren, zum Fischen und zum Beobachten der Robben. Und im Sommer werden wir drei Robben fangen und in den Duisburger Zoo bringen. Alles gut vorbereiten, dass die grünen Naturspinner keinen Wind davon kriegen.
Sonst entfesseln die noch eine Kampagne: Der Baikal, der urgroße, heilige Vater des Lebens, ist heilig und steht unter dem Schutz der UNESCO. Süßwasser für die ganze Welt!
Also, naja, bist ‘n Weltkulturerbe. Da darf nicht mehr, als schon passiert, versaut werden.

„Schauen!“ flüsterte die Kleine-Meine: Schauen! Bittä! Pliesä! Säär!“
Jaja, weiß noch, wie das geht! Anjuta! Werd ich mich immer dran erinnern, wenn ich meiner Frau den BH über die Schulter schieben werde..

„Schauen, junga Häär!“

Ja! Dort, unterm Busen, sie hat mir ein witziges Tattoo gezeigt : leuchtend Henna! Als zweites.
Nachdem sie mich anlächelte, bis ich rot wurde. Dann eben: farbig: links unter der linken Brust, der kugeligen.
Anjuta-Hanuta. Warst negroid, oder mongolisch? Wo kannste denen hinkucken? Alles neu!
Auch 'n Stück Weltkulturerbe, wg. Liebreiz. In den Innenflächen hell, sogar mal bläulich!

Irgendwie leuchtet’s da im Dunkeln! Die aufgerissenen Pupillen, wenn ich suche? Hatte ich nicht gesehen zuerst, das Bildchen. Am wunderlichen Hügelchen hochwachsend: Tatsächlich: Heinerich. Ein Porträt. Sauber und wie eine Briefmarke gestochen. Heinrich! Der Heine eben! Dieses Bild mit Papageiengefeder im Haar. Kenn’ ich irgendwoher. Von ‘ner alten DDR-Briefmarke? - Deklamiert das doch: „Lächelnd sie saßen und tranken am Klapptischchen.“

Und ich will doch harte Valuta austeilen, für ‘n bißchen Leistung. Sexowitsch dachte ich.
Na, Anjuta! Hast du da? - Kleine Hugelchen da, meine Kleine, quatschen wir also erst mal. Asiatisches Vorspiel...
Was heißt Anjuta? Ich meine, Petro heißt Fels, mein zweiter Name. Freddy, was Freddy heißt, keine Ahnung.
Vielleicht Ferdinand der Große? - Aber lass mal! Und Du..? - Wie fühlst du dich bei solchen Operationen?“

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