In Humboldt (Kanada)


Lissys Haus befand sich nahe einer Kreuzung zweier Fernstraßen. Kurios war, dass die Vorfahrt an dieser Stelle so geregelt war, dass alle vier Seiten ein Stoppschild hatten. Zum Glück gab es dort kaum Straßenverkehr. Ich stellte mir vor, was an solchen Kreuzungen in Berlin passieren würde. Wahrscheinlich müsste man dort einen Krankenwagen und ein Polizeiauto dauerhaft stationieren.
Auf unserem weiteren Weg durch Humboldt kamen wir zu einem kleinen Museum, in dem Schulbänke und andere Gegenstände aus alten Zeiten ausgestellt waren. Dabei stand eine Tafel mit der Inschrift

A little bit of Germany in the heart of the prairies.

Damit war wohl Humboldt zu der Zeit, als die Deutschen dort eingewandert waren, gemeint.


Am Nachmittag unterbreitete Lissy uns das von der gesamten in Humboldt und Umgebung ansässigen Familie ausgearbeitete Besuchsprogramm.
Wir waren überrascht, denn es zeigte sich, dass wir jeden Abend bei einem anderen Zweig der umfangreichen Familie verbringen sollten. An diesem Abend waren wir bei Fred eingeladen. Seine Farm lag nahe der Stadt Annaheim.

Für den Weg dorthin und auch zu allen anderen späteren Zielen stellte uns Lissy ihr Auto zur Verfügung, welches sie Petunia getauft hatte. Als es losgehen sollte, eröffnete sie uns, dass sie sich nicht mehr zutraue, Auto zu fahren. Deshalb sollte ich der Chauffeur sein. Nach den Erfahrungen mit dem großen Auto in Toronto fühlte ich mich dazu durchaus in der Lage. Platz war ja in Kanada genug, um solche Straßenkreuzer zu fahren und einzuparken.
Als sie jedoch ihre Garagentür öffnete, bekam ich einen Schreck. Das war vielleicht eine alte Karre, die da zum Vorschein kam! Ich konnte mir vorstellen, dass Fans von Oldtimern vor Freude in die Luft gesprungen wären, wenn sie so ein Auto gesehen hätten. Ich kenne mich nicht so gut damit aus und weiß nur, dass es sich bei Petunia um einen uralten Dodge handelte.
Als ich einstieg und hinter dem Lenkrad Platz nahm, fiel mein Blick sofort auf einen Aufkleber, auf dem zu lesen war „Next inspection 1977“. Da wir gerade das Jahr 1995 schrieben, verlangte es von mir einige Überwindung, mit diesem Auto auf eine öffentliche Straße zu fahren. Lissy aber meinte, dass es mit Sicherheit kein Problem geben würde. Schließlich hätte sie niemals einen Führerschein gemacht und wäre noch nie kontrolliert worden.
Ich fuhr also aus der engen Garage und Lissy und meine Frau setzten sich neben mich auf die breite Sitzbank. Als ich auf der Straße fuhr, bemerkte ich, dass die Lenkung schlecht reagierte. Nach meinen Erfahrungen mit Trabant und Wartburg vermutete ich, dass die Spurstangenköpfe ausgeschlagen waren oder dass die Spur verstellt war oder beides.
Innerhalb der Stadt, wo ich mit niedriger Geschwindigkeit fuhr, ging es ja noch, als wir jedoch aus der Stadt heraus waren, und ich zaghaft auf 70 Stundenkilometer beschleunigte, brauchte ich die ganze Breite der Landstraße, da das Auto nicht geradeaus fuhr. Es war nur gut, dass die kanadischen Straßen so breit waren und uns niemand entgegenkam. Es dauerte lange, bis ich es endlich geschafft hatte, wenigstens auf der rechten Straßenhälfte zu bleiben. Als ob das nicht Stress genug gewesen wäre, feuerte mich Lissy an, schneller zu fahren. Als ich den verbalen Aufforderungen nicht nachkam, drückte Lissy, die neben mir saß, mein rechtes Bein kräftig nach unten, sodass ich das Gaspedal bis zum Bodenblech durchtrat.
Ich war erstaunt, dass der Tacho miles per hour und kilometers per hour anzeigte. Zu schnell war ich allerdings in beiden Einheiten.
Nach ein paar weiteren Minuten hatte ich es geschafft, so gefühlvoll mit dem Lenkrad umzugehen, dass ich fast geradeaus fuhr. Trotzdem war es die anstrengendste Fahrt, die ich je mit einem Auto gemacht hatte, wenn man mal von meiner ersten Fahrstunde absieht.


Aus dem Buch "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt


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Kommentare (2)

Jutta

Lieber Wilfried,

Mit einem Schmunzeln las ich Deine "Oldtimer"-Fahrt in Kanada, einerseits wegen des so grossartigen und fahrtüchtigen Autos, womit du sicher einen Orden für so viel Mut verdient hast. Andererseits gefiel mir Dein Hinweis auf das geringe Verkehrsaufkommen und die vier Stops auf einer Kreuzung.
Ich machte erst vergangenen Oktober meine erste Erfahrung mit Kanada und seinen Strassen - siehe meinen "Reisebericht nach Nova Scotia zu Majorie" in meinem Blog. Auch ich war sehr überrascht, wie wenig Verkehr es in diesem Land gibt - ich fühlte mich oft ganz alleine auf der Strasse. Dann traf auch ich mal auf eine Kreuzung, wo alle vier  Richtungen einen Stop hatten.Ich kannte die Regel nicht, dachte mir aber, wer zuerst da steht, fährt auch zuerst weg (?). Ich gab Gas und weg war ich.

Ich grüsse Dich
Jutta

 

Marion44

Ja so kann es gehen. Ein Kubaner hätte damit keine Probleme, denn dort gibt es die alten und uralten Modelle der amerikanischen Autos noch in erheblicher Anzahl. Hier würde man sie höchstens im Museum oder bei einer Oldtimer Rally zu sehen bekommen.


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