Ist das Einbildung?



Fünf Stunden braucht der ICE im „Direktflug“ von Ingolstadt nach Berlin. Fünf Stunden zum fröhlichen Erleben der Fahrt durch Oberbayern, Frankenland, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mark Brandenburg.

Da schlängelt sich nach dem Verlassen des Bereiches um die ehrwürdige und einst so geschändete Reichsstadt Nürnberg aufwärts in Richtung „Zonengrenze“. Man restauriert die Strecke, macht sie noch schneller für die flinken Züge. Erlangen, Bamberg, Ludwigstadt, der Zug kurvt, mal nach links, dann wieder nach rechts, da unten die Flüsse und Bäche schlängeln sich im Tal dem Zug noch entgegen. Er fährt langsamer, bleibt so mit hundert im Schritt. Noch werden die Strecken-Kilometer aufwärts steigend gezählt; doch dann: die Zahlen auf den Schildern rechts oder links im 200m Abstand sind plötzlich viel höher und zählen abwärts. Ja und die Gewässer fließen jetzt mit in Fahrtrichtung, der Zug fährt ein Bißchen schneller.

Halt in Saalfeld an der Saale, wir sind in Thüringen angekommen. Mein Gott, hat die Saale was Wasser, scheinbar läuft sie über. Die nächste Station ist Jena Paradies, ja wo ist das Paradies? Studenten steigen zu, wann steigen wir da mal aus? Da ist auch die Stadt Naumburg, schön, daß die Sonne da hinein schaut. Etwas mehr Fahrt nimmt der Zug schon auf, um dann diese wieder einmal abzubremsen. Man baut die Strecke aus, denn die geplante und im Bau befindliche Schnellfahrtstrecke läßt auf sich warten. Ein Trost: noch können wir auf die vielen Tunnel verzichten.

Und nun wechselt der Zug aus dem Saaletal hinüber in das Tal von Leipzig. Wir rollen in eine riesige Baustelle hin zum mächtigen Leipziger Hauptbahnhof. Jeden Tag liegen einige Gleise etwas anders verschoben. Bewundernswert, wie da der Zug das richtige, im Flayer nicht avisierte Gleis findet; man muß als Triebzugführer schwindelfrei sein. Langsam rollt der ICE hin zum Prellbock in der großen Bahnhofshalle, wir „machen Kopf“.

Oh, wir haben Glück, die Plätze hier gegenüber an unserem Tisch werden frei und sind nicht reserviert. Also ganz schnell „Stellungswechsel“, damit wir das letzte Stück des Weges wieder in Fahrtrichtung geradeaus erleben, beobachten können. Und schon steigen viele Leutchen zu, alle wollen mindestens nach Berlin. Hier war der letzte Halt bis dahin. Je nachdem, was für ein Wochentag ist, fährt der Zug nach Berlin-Gesundbrunnen oder er darf weiter rauschen bis nach Hamburg-Altona.

Wir überqueren die Elbe. Da liegt der Ort, wo einstmals Thesen an der Kirchentür eine Zeitwende ankündigten. Es geht durch den Fläming nordwärts in die Mark. Die Aufregung steigt: die Heimat grüßt im Vorbeifahren. Fertigmachen zum „Sprung“. Der Zug schwingt in seiner Fahrt gemächlicher werdend sich einzuordnen in die Gleisharfe von Süd nach Nord quer durch die mächtige Stadt da an Notte, Dahme, Spree und Havel.

Berlin Südkreuz – so heißt der neue Bahnhof heute, der den alten, fürchterlichen Bahnhof Papestraße abgelöst hat. Wir nehmen unsere Rollies, wandern zum Ausgang des Wagens, der uns fünf Stunden festgehalten hat. Wir lassen uns samt Gepäck hinunter plumpsen, fangen uns …
holen einmal Luft, stürmen zur Rolltreppe, sammeln uns zum nächsten Spurt – die Beine sind noch nicht wieder in voller Fahrt – landen oben in der Halle des Bahnhofs mit seinen S-Bahn-Gleisen. Luft holen. Da steht ein Zug, nicht die Ringbahn, nein genau einer, der nach Südosten rausfährt. Flugs hinein, schon schließen sich die Türen mit dem typischen Rumbum. Jetzt ist Zeit zum richtigen Durchatmen!

Wie die Luft schmeckt! Wie haben wir sie vermißt! Nun ist sie wieder in uns! Wir sind Zuhause! Die Atmung läuft so ganz anders. Ist das Einbildung?

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Kommentare (4)

tilli Das letzte mal habe ich dich schon gefragt,ob du deine Geschichten
in einer Sammlung als Buch drukst.Es ist heute alles möglich für nur 39 Euro.Also Ortwin,es würde schon was zusammenkommen.
Deine Reise und die Luft.Nein bestimmt bildest du dir das nicht ein.
Jeder Ort, dort wo wir am liebsten sind,riecht auch anders.
Grüße Tilli.
ortwin Kaum daß wir uns im Zug unterhalten, das war früher etwas anders:
wenn ich mit Kameraden, Vorgesetzte oder Untergebene, so von Köln/Bonn nach München oder sonst wohin reiste, dann sind wir oft an den Schluß des Zuges gegangen, haben aus der Scheibe der letzten Tür, der Übergangstür geschaut, folgten dem Fahrtdraht auf seinem Hin und Her, erlebte das Einfädeln der Ablösung und das Auswandern des beim nächsten Spannwerkes zuende gehenden Fahrstromlieferanten. Wir kontrollierten das, soll das Ganze en miniatur in die Modellbahn kopiert werden. Wir beobachteten genau das Leben und Treiben in und um die Züge. Das nahm uns gefangen, wir tauschten Fachbegriffe aus. Aber sonst nahm man gespannt schweigend die Welt auf, sich auch dahin träumend, vielleicht mal von der Ostküste zur Westküste mit Amtrack durch die Vereinigten Staaten zu erleben. Das ist ganz etwas anderes als mit dem Auto oder dem Flugzeug das weite Land zu erleben.
Wir, meine liebe, kleine Freundin und ich, schweigen heute genauso, halten uns die Hände, zeigen auf dieses und jenes, was einer von uns schon von früher kennt.
Ich hatte einmal meinen LapTop im ICE mitgehabt und während der Fahrt unmittelbar die Eindrück in Worte gefaßt, bis ... ja bis ich eine falsche Taste erwischt hatte und futsch war ein Großteil des Erzeugnisses. Jetzt lasse ich das. Ich genieße es, wieder etwas Tolles an der Strecke eingefangen zu haben, zu erleben.
Stolz bin ich, daß es mir/uns wieder gelungen ist, eine Fahrkarte (DIN A4) für 29 Euroaus dem PC zu holen für einen Zug, der uns zueinander führt. Am Mittwoch ziehe ich wieder los, eben auf der beschriebenen Strecke. Und das ist eben noch nicht die Einbildung am Ziel der Reise.
indeed natürlich ist es keine Einbildung. Wenn ich vom Süden her kommend Bremen oder Hannover passiert habe, dann schmeckt die Luft schon anders. Man "riecht" das nahe liegende Wasser und die Luft schmeckt etwas salziger.
Mir geht es immer so und dann weiss ich, es geht nicht mehr lange und ich bin "Zuhause". Als ich früher mit meinen Kindern gen Norden fuhr und ich sagte ihnen, bald sind wir zu Hause , waren sie immer irritiert. Sie dachten, ich fahre zurück und sie wollten doch zur Oma!
Deine Erzählung ist sehr schön beschrieben und ich bin überzeugt, es werden Erinnerungen bei vielen hier geweckt, wenn sie Deinen Beitrag lesen.
Liebe Grüße
Ingrid
henryk ...dass ich das ewig lesen koennte....das ist keine Einbildung...Du konntest unser scheones Deutschland bewundern...und Du und Deine Frau solltet Ihr sehr zufrieden sein...obwohl die Reise lange war..Fuer mich die Reise mit dem Zug immer spanende ist....besonders ,wenn auch andere liebvolle Menschen zusammen reisen..und wir koennen plaudern ,jeder Mensch gibt es auch immer sehr interesant,wenn er freundlich fuer fremden Menschen ist...HenrykMein Deutschland

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