Ist Heimat auch Heimat?


Neunundvierzig Jahre war es her. Eine unendlich lange Zeit. Die Soldaten in den erdbraunen Uniformen hatten die Jungen damals geholt. Mitten aus dem Rest der Familie. Ein halbes Jahr nach Kriegsende gab es das noch immer. Menschen verschwanden, waren plötzlich nicht mehr da! Einfach weg, ohne eine Spur zu hinterlassen. So wie von Jan auch keine Spur zu finden war. Die Kommandantur hüllte sich in Schweigen.
»Ich nix wissen, du raus, dawai, dawai!«
Alles wartete auf seine Rückkehr. Vergeblich alle Nachforschungen. Keinerlei Ergebnisse über viele Wochen hinweg.Misstrauen machte sich breit in der Nachbarschaft. Es blieben offene Fragen in der Familie, die nie geklärt werden konnten.

Mutter war die Letzte, die immer noch hoffte. Nächtelanges Warten, Grübeln. Wo ist Jan? Es gab keinen Anhaltspunkt, an dem man sich festbeißen konnte, kein Ziel, das anzustreben war.
Die anderen beiden Kinder, die Schwestern des Jungen, waren noch zu klein, um dieses Ereignis wirklich richtig einordnen zu können.
Neunundvierzig Jahre vergebliches Hoffen, wie hält man das durch? Wie übersteht man diese qualvolle Erkenntnis, dass der Sohn fort ist, ohne dass man weiß, wo er letztlich geblieben ist? Wie überlebt man die Gewissheit, dass dieses Kind vielleicht nie mehr in die Arme der Mutter zurückkommt?
Neunundvierzig Jahre. Die Mutter ist längst verstorben, sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, ihren Jan noch einmal sehen zu dürfen. Es war vergeblich. Die beiden Schwestern haben ihn längst vergessen, erinnern sich nur noch dunkel an den großen Bruder. Die Zeit ist über die Familie hinweggegangen.
***
Ioldman
 
       
         Iwan Melnikow steht vor der Tür des Rathauses. Seine Einbürgerungsurkunde hält er in den Händen, versucht die Worte zu entziffern, die ihm eine Heimat in einem Land versprechen, das er seit seiner Kindheit niemals mehr gesehen hat. Die wenigen Deutschkenntnisse reichen beileibe nicht aus, alles zu entziffern. Er spricht zwar gebrochen Deutsch, mit stark russischem Akzent, aber zum Lesen bedarf es noch gewaltiger Anstrengung.
Eine fremde Heimat, seine Heimat. Als er seinen Ausreiseantrag in Kasachstan stellte, hatte er noch Träume. Träume von seiner alten Familie, von der er getrennt wurde, seinen Schwestern, seiner Mutter.
 Träume von einem Land, das er einst seine Heimat nannte, wunderschöne Landschaften, die in seiner Seele verankert waren. Diese Bilder hat er sich in den Jahren immer wieder vor Augen geführt und seine Sehnsucht hatte ihn dann dazu gebracht, einen Ausreiseantrag zu stellen.
Nun hat er seinen Personalausweis in der Hand. Er heißt nun Jan Müller! So hieß er ja auch, als er im Alter von dreizehn Jahren nach Kasachstan kam. Dann wurde aus ihm der Melnikow und aus Jan wurde Iwan. Deutschland hat ihn nun wieder. Ist er nun glücklich?

Oftmals hat er darüber nachgedacht. Was ist schon Glück?
Seine Frau, eine liebenswerte Kasachin, starb vor drei Jahren an einem Schlaganfall, erst danach hat er die Ausreise beantragt. Glücklich hier in Deutschland?
Wenn er lang genug darüber sinniert, kann er eigentlich nichts dazu sagen. Deutschland ist ein kaltes Land, es hat keine Seele mehr, meint er. Die Menschen hier sehen hauptsächlich nur sich selbst, das Geld und den Luxus, den jeder glaubt, beanspruchen zu müssen.

Die Menschlichkeit ist oftmals auf der Strecke geblieben, wenn er, wie oftmals, von Jugendlichen angepöbelt und als »Russki« beschimpft wird, möchte er am liebsten wieder zurück in die Steppe Kasachstans.
Dort war er Mensch. Hier ist er nur ein drittklassiger Aussiedler.
»Meine Heimat ist Deutschland!« Das sagt er jedenfalls, wenn man ihn fragt. Was in seinem Herzen vorgeht, darüber schweigt er sich aus ...
 
(©by H.C.G.Lux)

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Kommentare (3)

Pan

zu "ist Heimat auch Heimat?"

Eine unwirkliche Geschichte,
das ist eine ganz platte Erwähnung eines Dramas, das sich in einer Zeit ereignet hat, als alles noch unwirklich war! Ich habe Jan noch gekannt, er war zwei Klassen über mir in meiner Schule in Stolp/Pom. Vor sieben Jahren verstarb er in Kiel an Krebs.
Und das war auch wirklich!
Als Jan damals entführt wurde, war ich selbst 11 Jahre alt, ich entkam diesem Drama nur, weil ich noch nicht »arbeitsfähig genug« war.

Es mag ja rührselig erscheinen - ich schrieb dieses Ereignis auf, um all jenen Kindern (es waren nicht wenige) dieser unseligen Zeit ein Mahnmal zu setzen für ein Leben, das sie nicht selbst wählen konnten! Sie litten stellvertretend für alle anderen. Wenn sie dann an ihre Heimat dachten, geschah dies gewiss nicht aus Sentimentalität, sondern weil sie hier bei uns noch Familie hatten! Und doch wurden sie in Deutschland als zweitklassig angesehen, als »Russlanddeutsche« verächtlich gemacht wegen ihres russischen Akzents.
 
Natürlich - Kasachstan - nicht unbedingt ein Ferienziel für gut betuchte Bundesbürger. Vielleicht aber war gerade deshalb der Zusammenhalt unter den Menschen fester? Das kann niemand beurteilen, ich könnte es jedenfalls nicht!
Übrigens: Er hat sich nicht zurückgesehnt! Ich sprach von manchen Momenten, in denen der Gedanke vielleicht aufkam,(so sagte er jedenfalls).
 
Dieser Nachtrag sollte nur Klarheit schaffen für die Leser, die zweifelnd vor den Gedanken stehen und den Kopf schütteln ...

Manfred36



Es ist eine rührende, aber für mich unwirkliche Geschichte. Ein 13-jähriger Junge, in Deutschland aus seiner Familie gerissen und nach Kasakstan deportiert, sehnt sich nach der Rückkehr nach 49 Jahren wieder zurück in die Steppe Kasachstans, weil der dort Mensch war, hier nur ein drittklasssiger "Aussiedler". Seine Gedanken " Deutschland ist ein kaltes Land, es hat keine Seele mehr. Die Menschen hier sehen hauptsächlich nur sich selbst, das Geld und den Luxus, den jeder glaubt, beanspruchen zu müssen" Und  Kasachstan?.
 

Syrdal


Das imaginäre Band zu dem, lieber Pan, was man im Allerinnersten als Heimat in sich trägt, ist unzerstörbar, wie auch immer sich die äußeren Umstände gestalten.
Deine Familiengeschichte hat mich ergriffen und bewegt – vielleicht auch, weil es in meiner Familie etliche Parallelen gibt. So hat meine mir sehr verbundene Tante achtundfünfzig Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahr 2003 auf ihren im Krieg verschollenen Mann gewartet und ging im hohen Lebensalter schließlich im festen Glauben an ein nun nahendes Wiedersehen. – Es gibt Bindungen, die durch nichts zu zerstören sind!
Und so ist es auch mit dem urtiefen Band zur Heimat. Dies bedarf keiner weiteren Erklärung, weil es ohnehin unser oft sehr kleinliches Denken bei weitem übersteigt.
 
Nachdenklich grüßt 
Syrdal


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