Neun Jahre lebte ich in einem Vorort von Berlin, davon waren acht Jahre mit dem Gang zur Schule versehen. Vor sechsundsechzig Jahren endete das Ganze durch die Übersiedlung meiner Mutter mit uns sechs Kindern. Wir wanderten in den Westen aus.

Zurück blieben die Gedanken an das gemeinsam mit Schulkameraden Erlebte, davon die sechs Jahre mit dem Krieg, seinen Fliegeralarmen, Bombentrichtern und die Einschränkungen, die es Gottseidank heute für uns alle nicht mehr gibt. Aber in den Erinnerungen hängt noch vieles nach.

Als ich einundvierzig Jahre später endlich einmal „nach Hause“ kam – früher ging es arbeitsmäßig nicht – suchte ich nach meinem besten Schulfreund Günter, vergeblich, ein fremder Name klebte da am Briefkasten neben der Gartentür. Und die Postbotin, der ich gerade dort begegnete, wusste mit seinem Namen nichts anzufangen. Es war mir, als fände mein Anker nicht den Grund am See.

Die Wende kam, ich fuhr einfach mit dem Auto von Bielefeld mal so eben „nach Hause“. So vieles hat sich sehr bald in den Straßen geändert. Ich setzte mich da in der Bahnhofstraße in einen Cafe-Garten, so gegenüber unserer Schule, blieb aber alleine, die Leutchen kannte ich nicht. Ich beobachtete das Leben da um die Schule, ging hinüber, kam aber dem Lehrkörper ungelegen, man saß über den Abitur-Arbeiten. Die hätte ich am liebsten gleich mitgemacht – das war mir ja damals durch den Weggang verwehrt worden.

Einige Zeit später war ich geschäftlich in Berlin. Ich kam auf die Idee, doch mal in das jetzt komplette Berliner Telefonbuch zu schauen, ob ich da wohl „meinen“ Günter finde. Und ich fand ihn, im Westen von Berlin. Auf eine Serviette schrieb ich – in Ermangelung des eigenen Schreibpapiers – sofort da hin, schickte Grüße und Adresse rüber. Und es kam Antwort, eben aus Ruhleben.

Beim nächsten Aufenthalt in Berlin schnappte ich mir den Geschäftswagen und fuhr bei Eis und Schnee mal eben hin zu Günter. Ein Wiedersehen! Natürlich war er auch nach den vielen Jahren immer noch der Größere von uns Beiden. Aber eben nicht mehr mit den Jungengesichtern von einst, mit weit weniger Haaren auf unseren Häuptern. Und da im Westen wohnte er nach seinem Studium in Franken, hatte für seine Familie eine Haushälfte eingerichtet. Das Elternhaus hatte er in dieser verdammten Ost-West-Auseinandersetzung verloren.

Viel Post lief eigentlich nicht zwischen uns. Doch dann kam auch an mich die Einladung zu einem Jahrgangstreffen da draußen in dem Vorort. Beigefügt war eine Liste der eingeladenen Mitschüler – Günter fungierte als Postmaster. Ich war gespannt, die Knaben und Mädels von einst wieder zu sehen. Ich war mit einer kleinen Menge Zeit und dem eigenen Auto aus Bayern angereist.

Tja, nun kenne sich einer nach so langer Zeit aus, mancher Herr versteckte sich hinter einem Bart. Um sich wieder zu erkennen, wurden Erinnerungen an gemeinsam Bewegtes und Erlebtes zu Hilfe genommen. Ja, doch, so manchen erkannte ich wieder. Einige andere waren dort zur Schule gekommen, als ich schon längst fort war.

Und fünf Jahre später gab es wieder ein Treffen. Wir besuchten unsere Schule, die sich im Laufe der letzten Jahre auch sehr gewandelt hatte. Gedanklich tobten die Erinnerungen von damals, ein Träumen zurück in die Vergangenheit. Diese Wirbel im Krieg, wo wir doch froh waren, wenn der Hausmeister durch die Flure sein „Ellfuffzehn“ schrie: Luftwarnung in fünfzehn Minuten, und wir nach Hause rannten. Wie friedlich das alles heute.

Allgemein wurde das Fünfjahres-Intervall zum nächsten Treffen in unserem Alter zu lang empfunden. Und so kam in diesem Jahr nach nur zwei Jahren wieder eine Einladung. Ach, war das prima: ich brauchte keine lange Anreise durchzustehen, nein: ich war inzwischen zurück nach Berlin gezogen, war also endlich wieder „zu Hause“ angekommen.

Ein Wiedersehen – nicht alle waren gekommen. Ich nahm mir die Zeit, die Freunde etwas aufmerksamer anzuschauen, zu mustern. Doch…, sie sind älter geworden, das kann man jetzt sehen – wie steht das bei mir? Die meisten sind ins neunte Lebensjahrzehnt eingestiegen, ich auch. Aber schön, dass wir noch mit einander schwätzen können. Auf Wiedersehen.

ortwin

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Kommentare (2)

Traute Es ist scheinbar eine weit verbreitete Eigenschaft des Menschen, die Bekannten aus der Jugendzeit gerne wieder zu treffen. Sie sind unsere Zeitzeugen, sie haben ähnlich empfunden in einer ähnlichen Zeit. Damals.
Weißt Du noch? Etwas vertrauteres kann es bei einer Frage zwischen zwei Menschen wohl nicht geben.
Ganz anheimeld war Dein Rückblick und das Fazit daraus,
mit freundlichen Grüßen,
Traute
brixana
Lieber Ortwin, sehr bewegt hat mich Dein Bericht. Es waren damals die Wirren der Zeit.
"Back to the roots" ist Deine Devise und Du bist glücklich mit Deiner Entscheidung, wieder in Berlin zu wohnen. Schön, dass Du Deinen Freund Günter wiedergefunden hast und von den Klassentreffen nicht enttäuscht wurdest. Welche Freude muss das gewesen sein! Ich wünsche Dir noch viele derartige Treffen mit positivem Ausklang.
Frohe Ostern wünscht Dir
brixana

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