Kuli mit Honig

Immer, wenn ich meinen Koffer ausgepackt und alle Taschen
durchsucht habe, sind plötzlich alle meine Kugelschreiber weg. Geht
mir jedes Jahr so. Dabei weiß ich genau, dass ich mehrere dabei
habe.

Und was ich dann auch mache, jedes Jahr, als erstes, nachdem ich in
Naklua mein Revier wieder abstecke: Ich gehe in den Schreibwaren-,
Bastelzeug- und „Alles-was-man-sonst-nirgends-findet“- Laden.
Gleich gegenüber! Sieht dort aus wie seit zehn Jahren: Immer noch
dieselben toten Fliegen im Schaufenster.

Und immer noch derselbe Inhaber: ein leicht angestaubter
Thaichinese mit richtungslos abstehenden Haaren und Ohren, runder
Nickelbrille mit Lupengläsern vor wachen Augen und einem ewigen
Grinsen, dass seinem fehlenden Schneidezahn die richtige Geltung
verschafft. Er schaut mich an und sein Grinsen wi rd noch breiter: Er
hat mich wiedererkannt!

Sehr gut! Das ist doch die beste Voraussetzung für den
erfolgreichen Kauf eines Tintenkulis. Ich durchstöbere die
Schreibstiftabteilung, die aus mindestens dreißig Marmeladengläsern
mit hunderten verschiedener Kulis darin besteht. Sogar ein Blatt
Papier ist da, wo man die verschiedenen Schreibgeräte ausprobieren
kann und wo auch jemand mit gekonnter Hand eine wenig bekleidete
Dame gezeichnet hat. Ist wohl auch angebracht, so ein Testpapier,
denn mancher Kugelschreiber stammt offensichtlich noch aus der
Null-Serie oder ist ein Prototyp.

Und was sehe ich da? Da sind immer noch welcher von der Sorte, die
ich auch das Jahr zuvor gekauft habe. Die waren nämlich
ausgezeichnet, haben sogar eine Kappe, so dass man hoffen kann,
dass sie nicht ausgetrocknet sind. Ich angle einen aus dem etwas
verstaubten Marmeladenglas und probiere ihn aus: Er schreibt
hervorragend! Ist zwar alles etwas klebrig, war wohl vorher nicht
Marmelade sondern Honig im diesem Glas. Hat auch die tote Fliege
gedacht, die unten am Kuli klebt. Ich transportiere mit vorsichtigem
Griff den Kuli zur Kasse – wobei ich darüber nachdenke, dass das
Wort „Kuli“ im Angesicht dieses permanent lächelnden Chinesen
möglicherweise diskrimi nierend sein könnte. Na was soll‘s!
Ich streife das gute Stück gekonnt am uralten Bakelit-Zahlteller ab.
Ohne ihn anzufassen, schnippst der Chinese gekonnt die tote Fliege
vom Kuli, so dass nur noch ein Flügel kleben bleibt. Dann holt er einen
Handscanner aus einer Schublade und hält ihn an den Zettel, der mit
Tesafilm am Kuli festgeklebt ist.

Und das muss man ihm lassen: Jedes Stück in diesem verstaubten
Laden, jede Klebstoffrolle, jeder Bleistiftanspitzer, jeder Bogen
Papier, jede Stricknadel, na eben jeder Artikel (und das müssen
hunderttausende sein) ist mit einem Barcode-Aufkleber beklebt und
somit in seiner Scannerkasse erfasst!

Bevor der Chinese seine Hand aufhält, um für den klebrigen Kuli samt
Fliegenflügel zu kassieren, hoffe ich noch, dass er ein Gefühl dafür
entwickelt, dass man den Honig (oder was auch immer das ist) im
Sinne eines korrekten Services vor Auslieferung an den Kunden von
diesem Schreibgerät entfernen sollte. Also drücke ich einen Finger
an den Kuli und hebe in demonstrativ nur am Zeigefinger hängend auf
Augenhöhe, um zu zeigen, dass man damit so wohl kaum schreiben
kann. Beeindruckt von meiner Demonstration schaut er sich das an,
bricht in Begeisterungsschreie aus und ruft seine Belegschaft
herbei. Ich wusste gar nicht, dass sich im Geschäft und im Lager
nebenan so viele Leute aufhalten. Wenigstens umringen mich im
Handumdrehen rund zehn Angestellte. Die mei sten sehen allerdings
dem Kassenchinesen ausgesprochen ähnlich, wenn ich mal vom
fehlenden Schneidezahn absehe.

Mein Kunststück, einen Kugelschrei ber mit nur einem Finger in die
Luft zu halten, findet große Bewunderung. Jeder will es selbst
versuchen und man erfindet recht sinnvolle neuartige
Anwendungsmöglichkeiten. Einer dieser Ladenschwengel
demonstriert dem umherstehenden Publikum mit seinen
schmuddeligen, von Tintenresten und Kleber verzierten Fingern, wie
man etwas schreibt und, nachdem man den Kuli oben auf die Hand
gepappt hat, dann anderen Tätigkeiten nachgehen kann, und danach
sofort wieder schreibbereit ist.

Das ist mir dann doch zu viel. Ich schnappe mir den immer
schmieriger werdenden Kuli und halte ihn freiwillig unter den
Scanner, bevor er wegen der ungeahnten Anwendungsmöglichkeiten
evtl. noch teurer wird. Man klopft mir auf die Schulter ob des
hervorragenden Kaufs und nickt mir zum Abschied wohlwollend zu.
Seitdem sind wir Freunde, der Thaichinese und ich. Wir winken uns
zu, immer, wenn ich an dem Laden vorbeikomme. Und dann grinst er
noch breiter als vorher, wobei sein fehlender Schneidezahn gut zur
Geltung kommt.
Letztes Mal hat er mich sogar gefragt, ob ich
wieder einen Kuli brauche. Ich habe ihn auf nächstes Jahr
vertröstet.


castellanos

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Kommentare (2)

tilli Nach langer Zeit lese ich dich wieder und das Lachen
will von mir nicht weichen-
Danke für diese Unterhaltung

Mit Grüßen Tilli
finchen im nächsten Jahr dann fehlen....dann schreib mir....
genügend Kulis im Haus und Honig auch!!!
Danke für diese nette Geschichte und mit einem Schmunzeln im Gesicht einen lieben Ostergruß
das Finchen

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