Kurze Betrachtung zum Haiku



Kurze Betrachtung zum Haiku...
 
Das auch uns aus der über Jahrhunderte „gewachsenen“ traditionellen japanischen Poesie überkommene Haiku hat einige unabdingbare Besonderheiten, die man zumindest in den Grundlagen kennen möchte, will man diese stark von der Zen-Buddhistischen Empfindungs- und Lebensweise beeinflusste Naturdichtung in ihrer (nicht explizit ausgedrückten) hintergründig mit- und nachschwingenden Sinnhaftigkeit erspüren (nicht nur nach bei uns üblicher Art dem reinen Wortsinn gemäß nur „verstehen“!) und möchte dies unbedingt in der eigenen Haiku-Dichtung beachten.
 
Die dreizeilige Formung in 5 : 7 : 5 Silben (17 Silben) ist allgemein bekannt, obgleich dies nur optisch der japanischen Formung nahe zu kommen versucht. In Japan kennt man keine „Silben“, die Wortlaute der japanischen Sprache nennt man Moren, was aber mit unseren Silben nur sehr entfernt zu einem eher vagen Vergleich herangezogen werden kann. Dennoch hat sich bei uns die dreizeilige Aufteilung mit 5 : 7 : 5 Silben allgemein etabliert. Als Beispiel hier ein deutschsprachiges Haiku:
 
Hat doch die Wicke
mit zarten Schlingenfäden
den Zaun erklommen.
 
Wichtig ist zu wissen, was ein „Kigo“ ist, nämlich das direkt, besser aber indirekt die Jahreszeit eindeutig ausdrückende Wort, das in keinem Haiku fehlen darf. Die Zeit um den Jahreswechsel bildet eine spezielle „fünfte“ Jahreszeit (Neujahr). In diesem Haiku ist das „Kigo“ (Jahreszeitenwort) das Wort „Wicke“, denn die Hauptblütezeit der Wicke ist der Sommer. Somit bezeichnet das Wort Wicke indirekt den Sommer, ohne diesen (als Jahreszeit) direkt zu nennen. Wer an eine blühende Wicke denkt, wird also keinesfalls damit den Frühling, den Herbst oder gar den Winter als Jahreszeit verbinden.
 
Ebenso wichtig ist das „Kireji“, das „Schneidewort“. Es hat die Funktion, das Haiku in zwei Teile zu „schneiden“. Im vorgestellten Beispiel wird das mit dem Wort „Schlingenfäden“ versucht. Wird hier die (nicht direkt bezeichnete) lebendige Aktion der zarten (feinen, biegsamen) Schlingenfäden ins Bild gerückt, folgt unmittelbar der Bruch (Schnitt) zum (abgrenzenden) groben, statischen Zaun. (Schnitt: zart versus grob).
 
Haiku-Dichtung ist grundsätzlich und ausnahmslos Naturdichtung, aber niemals mit einem Reim. Wird nun mit den drei Zeilen ein Bild der Natur „gemalt“ – im Beispiel eine blühende Wicke, die sich mit ihren zarten Schlingenfäden am Zaun hinaufgehangelt hat – wird zugleich unausgesprochen sehr viel mehr an hintergründig mitschwingender Sinnhaftigkeit vermittelt. So hat hier z.B. das Weibliche (die Wicke) das Männliche (der Zaun) auf subtile Weise (mit viel Feingefühl, mit großer Sorgfalt und Genauigkeit vorgehend und zielstrebig ausgeführt) mit zarten Schlingenfäden „erobert“ und es sich so zum Diener, zur Stütze, zum Beschützer (der abgrenzende, schützende Zaun) gemacht (Gegensatz schwach versus stark).
 
Bei nochmaligem Lesen... oder an einem anderen Tag... mag dieses Haiku wiederum noch ganz andere Sinnhaftigkeiten zutage bringen, je nachdem, wie und in welcher Stimmung man das kleine Haiku in sich aufzunehmen vermag. Damit ist das innere Aufnehmen des Haiku-Gedichtes nicht selten auch von der eigenen Stimmung (Befindlichkeit des Lesers) abhängig. Hier muss unbedingt gesagt werden, dass das Haiku nicht „erklärt“, sondern „nur“ betrachtet (Kontemplation).
 
Es gibt noch vieles mehr zum Haiku zu sagen, doch soll es hier bei den wenigen Hinweisen bleiben. Zusammengefasst: Haiku ist immer und grundsätzlich tiefsinnhafte Naturpoesie mit klar bezeichneter Jahreszeit (Kigo) und inhaltlicher Zäsur bzw. sinnwendendem Schnitt (Kireji). Der Mensch selbst spielt in einem Haiku keine handelnde, höchstens eine indirekte oder lediglich betrachtende Rolle.
Und ganz wichtig: Ein lediglich dreiteiliger Satz mit 17 Silben hat mit einem Haiku absolut nichts zu tun! – Basho, der wohl berühmteste japanische Haiku-Dichter sagte, er habe in seinem ganzen Leben vielleicht 3 oder 4 „echte“ Haiku formuliert. Sein bekanntestes lautet:

 
Original:                                   sinngemäße (sehr freie) Übersetzung:
 
furu ike ya                                Der alte Weiher.
kawazu tobikomu                     Ein Frosch springt vom Rand hinein.
mizu no oto                              Im Wasser ein Ton.

 
Jeder, der sich mit ehrlichem Interesse auf das hintergründig wunderbar sinnvermittelnde Haiku „ein-lässt“ und sich seiner oft vielfältigen und hintergründig schwingenden Sinnhaftigkeit öffnet, wird seine kleinen Gedichte, so liebevoll sie auch formuliert sein mögen, nur dann „Haiku“ nennen, wenn zumindest die oben beschriebenen unabdingbaren Aspekte erkennbar eingearbeitet sind, sonst ist es kein Haiku, allenfalls ein (dem Haiku entfernt ähnliches) Senryu. – Haiku-Dichter, die all die wichtigen und unabdingbaren Merkmale des Haiku beachten, werden große Freude an der auch zu uns überkommenen traditionellen japanischen Haiku-Dichtung haben.
 
Diesen allen wünscht poetisch-kreative Eingebungen bei der tiefsinnig-nachhallenden Betrachtung der Natur
Syrdal
 

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Kommentare (6)

ehemaliges Mitglied

Lieber Syrdal.
hab herzlichen Dank für diese klare Erläuterung.
Nun hab ich ein schlechtes Gewissen, denn bei Deinem Wickenbild hab ich eins dazugestellt, BEVOR ich es hier las.

Als ewig Lernende werde ich weiterhin auch die Übende sein.



einen frohen Griuss in Deinen Tag
Clematis



 

Syrdal



Nun denn, lieb Clematis, es freut mich doch immer, wenn sich Lyriker und Freunde der Poesie auch mit dem außerordentlich schönen und vor allem vielseitig interessanten Haiku beschäftigen und sich dann selbst in der Formulierung solcher kleinen Gedichte üben. Ich schrieb ja in meinem kurzen Beitrag, dass es zum Haiku noch vieles zu sagen gäbe... So z.B. sollte ein Haiku möglichst nicht als „Denkprodukt am Schreibtisch“ entstehen, sondern idealerweise unmittelbar im Moment der Beobachtung oder Erfahrung der Natur „empfunden“ sein. Denn Haiku-Dichtung ist ausnahmslos eine naturverbundene Poesie, freilich durchaus mit hintergründigen Aussagen, also nicht nur einfache Naturbescheibung, sondern mit nachklingender, oft auch philosophisch determinierter Natur- und Lebensempfindung.
 
Dir sei Dank für Deine Offenheit, was ich gerne mit sehr freundlicher Ermunterung zu weiterer Beschäftigung mit der traditionellen japanischen Form der Haiku-Dichtung verbinde. Unterstrichen habe ich den Hinweis auf die Tradition, weil ich selbst allergrößten Wert auf die in Jahrhunderten gewachsene Formung lege. Die sich im deutschsprachigen Raum mehr und mehr verbreitende „neu-moderne“ Haiku-Dichtung mit ihren völlig sinnlosen Zerfransungen betrachte ich als aus Unwissenheit erwachsende dümmliche Verbiegung und damit auch zugleich als grausame Verhohnepipelung der Jahrhunderte alten traditionellen Haiku-Poesie der ehrwürdigen japanischen (und auch deutschen) Haijin.
 
Übrigens: Das Wort „Clematis“ (die meisten Sorten haben Blütezeiten zwischen Juni und August / September) ist ein feines Kigo (Jahreszeitenwort) für Sommer... 
 
Auf neuen Clematis-Haiku freut sich, hier interessiert und freundlich grüßend
Syrdal

ehemaliges Mitglied

Ja, das mit den Haikus ... das dürfte schwieriger sein, lieber Syrdal, als Du es hier angerissen hast.
Es gibt in der BRD zwei oder drei Haiku-Gesellschaften, die Jahrbücher herausbringen und zu Einsendungen von eigenen Haikus (evtl. auch von übertragenen) aufrufen. Die Bilanz ist etwa so: von ständigen Einsendern wird vielleicht jedes zehnte genommen; von sporadischen oder von Neulingen praktisch ... gar keines: SO streng sind die dort.
Dagegen kann man in der Silbenzahl bis 21 gehen, und wenn man eine gewichtige 3. Zeile den ersten beiden gegenüberstellt, dann sogar bis 25.
Wers nicht glaubt, sollte googeln und einen Versuch bei einer Gesellschaft machen. Ike nike!
Gruß - elbwolf

Syrdal



Diesen „Versuch“, verehrter Herr Kollega, habe ich vor vielen Jahren mit schmerzlicher Erfahrung praktiziert. Schmerzlich, weil durch den ungesiebten Zustrom unbedarfter Haiku-Dichterlinge die ursprünglich reine Form der traditionellen japanischen Haiku-Dichtung mit ihren wohlbegründeten und unabdingbaren Grundausrichtungen mehr und mehr „zerfranst“ wurde zu sogenannten „modernen" deutschsprachigen Haiku-Formen, die mit dem traditionell-klassischen japanischen Haiku soviel zu tun haben wie eine nackte Feldmaus mit dem vereisten Gipfel des Ararat. (Bildhaft könnte man die verquere deutschsprachige Haiku-Entwicklung vergleichen mit dem Farbgekleckse der „Jungen Wilden“ in der „modernen“ Nachkriegsmalerei.) Aber unter diesen dilettantischen Haiku-Zerfransungen verbirgt sich nichts als eklatantes Unwissen, ungebremstes Selbstdarstellungsgetue und übersteigerte Anerkennungssucht, zumal die „Neu-Dichter“ mit ihren völlig aus der Tradition fallenden „Wortfetzen-Werken“ schnellstens und sofort auf dem Büchermarkt erscheinen wollten (und undienlicherweise auch oft im teuer bezahlten Selbstverlag erschienen sind). Altmeister wie der renommierte, mich einst freundschaftlich beratende Japanologe Prof. Horst Hammitzsch oder auch der mir persönlich verbundene Japanologe Prof. Jürgen Berndt und andere, auch in Japan bekannte und anerkannte deutsche Haijin würden sich vor erschrockener Verwunderung noch im Grabe umdrehen, um dies alles nicht mit ansehen zu müssen. – Für mich war diese, das Wesen des Haiku bewusst zerstörende Entwicklung dringender Anlass, mich sehr bald aus der gesellschaftsgebundenen Mitgliedschaft zu verabschieden, um nicht selbst in dieses abschüssige Fahrwasser zu geraten. Dabei will ich nicht verhehlen, dass es in den Gesellschaften durchaus sehr kluge, hintergründlich wissende und ernsthaft bemühte Haiku-Persönlichkeiten gibt, die sich aber geflissentlich nicht auf die Ebene des riesigen Schwarms von öffentlichkeitssüchtigen Möchtegerndichterlein hinab ziehen lassen. Ich selbst habe mich für den größtmöglichen Abstand entschieden und werde in diesem Erdenleben auch keine Haiku-Buchveröffentlichung vornehmen. Das überlasse ich postum meinen Erben.
So grüße ich ebenfalls mit „Ike nike!“
Syrdal

ehemaliges Mitglied

Lieber Syrdal,

hab herzlichen Dank dafür, dass Du mir diese für mich ganz fremde Tür geöffnet hast.

Ich habe sehr sehr gerne hinein geschaut und habe mir ein stilles Plätzchen zum Verweilen gesucht und gefunden.

Brita 

Syrdal



Liebe Brita,
 
so gelangt man im Leben immer mal wieder durch eine bislang unbekannte Tür in einen neuen Garten, dessen feinsinnige Schönheit man bislang nicht ahnen konnte. Ich hatte das Glück, dass mir meine Lebensliebe bereits in ganz frühen Jugendjahren die Tür zum Haiku gezeigt hat. In all den Jahren habe ich erfahren, dass sich im Haiku – der kleinsten Lyrikform der Welt – mit nur 17 Silben ein ganzes Universum eröffnen kann.

Viel Freude mit dieser wunderbaren Poesie wünscht Dir
Syrdal
 
Dank auch für das freundliche Schneeflocke

 


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