Das Jahr neigte sich seinem Ende entgegen und es begannen die Vorbereitungsarbeiten für die Weihnachtsfeier – oder die Jahresendfeier, wie Dr. Marder und seine Genossen sie nannten.
Da die Kollegen meinten, das Wichtigste daran seien die alkoholischen Getränke, galt es den Alkohol dafür zu beschaffen. Um das Fest nicht unnütz zu verteuern, musste Lothar einen Bestellschein über fünf Liter Brennspiritus vom Forschungsdirektor persönlich unterzeichnen lassen, denn nur dieser hatte die Berechtigung dazu. So zog Lothar mit einem Handkarren zum Chemikalienlager am anderen Ende des Betriebsgeländes und durfte einen Glasballon mit der gewünschten Flüssigkeit abholen.

Die Chemiker der Abteilung sahen es als Herausforderung an, aus dem vergällten Alkohol trinkbaren zu machen. Sie betrieben einen großen Auf­wand, aber das Ergebnis war schlecht – der Alkohol blieb ungenießbar. Nun war guter Rat teuer, denn vom Forschungsdirektor würden sie ganz sicher keine Unterschrift für fünf Liter unvergällten Sprit erhalten, aber kaufen wollte auch niemand so viel Alkohol, der ja bekanntermaßen versteuert und deshalb teuer war. Die Zeit drängte, denn das Fest rückte näher.
Mit dem Mut der Verzweiflung rief einer der Chemiker im Lager an und bekam die Auskunft, dass tatsächlich reiner Alkohol vorrätig sei und zu seiner größten Überraschung wurde ihm gesagt, dass zu dessen Bezug ein einfacher Bestellschein mit Unterschrift eines beliebigen Mitarbeiters der Forschungsabteilung reiche. So schnappte Lothar sich erneut den Handwagen sowie einen Blanko-Bestellschein und holte aus dem Lager einen Glasballon mit reinstem Alkohol. Den Bestellschein unterschrieb er selbst, genau wie den Lieferschein.
Nun stand der Feier nichts mehr im Wege. Ein Weihnachtsbaum wurde besorgt und geschmückt.

Die Weihnachtsfeier begann schon am Nachmittag mit Kaffee trinken, Stollen essen und Julklapp. Lothar bekam einen hässlichen alten Kerzenhalter und er nahm sich sofort vor, diesen bei nächster Gelegenheit weiter zu verschenken. Er selbst war extra in einen Kunstgewerbeladen gegangen, um einen teuren Brieföffner in Form eines kleinen Säbels zu kaufen, was ihm jetzt in Anbetracht seiner knappen Finanzen und seines erhaltenen Geschenks leidtat.
Als der gemütliche Teil des Abends begann, wurde ein Riesengefäß mit Bowle in den Festsaal geschleppt. Diese Arbeit übernahm der Hausmeister Theodor Tintenfisch, dem leider beim Absetzen des Gefäßes ein kleines Missgeschick passierte, indem ihm sein vollgesabberter Zigarrenstummel aus dem Mund in die Bowle fiel. Obwohl einer der Umstehenden geistesgegenwärtig die Schöpfkelle nahm und den Fremdkörper samt umgebender Flüssigkeit entfernte, hatte keiner mehr Lust auf Bowle.

Zum Glück reichte der Alkohol auch noch zur Herstellung anderer Getränke, sodass niemand nüchtern bleiben musste, der es nicht wollte. Es gab verschiedene Fruchtsirups, die nach Wunsch mit dem Alkohol gemischt wurden. Lothar verlor mit zunehmendem Alkoholpegel die Hemmungen und unterhielt sich recht angeregt mit dem rumänischen Gast seines Chefs. Er sprach plötzlich fließend englisch und war selbst verblüfft, wie viel er bei der BBC gelernt hatte, deren Englischkurse er so oft wie möglich gehört hatte. Der Dialog mit dem Besuch aus Rumänien war interessant, denn dort hatte man offenbar eine ganz andere Meinung zu Fragen der Weltpolitik als die Genossen in der DDR.
Ab und zu kam Dr. Marder zu ihnen und sprach mit seinem Gast einige Sätze auf Russisch, dann verschwand er wieder. Lothar schien ihm wohl als Betreuer des ausländischen Gastes gut geeignet zu sein und er hatte mehr Zeit sich mit seinen Genossen über den richtigen Weg zum Sozialismus zu einigen.

Als Kommunist war Dr. Marder selbstverständlich auch überzeugter Atheist und kurz vor den Feiertagen, brachte er seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass es in einem sozialistischen Staat Weihnachtsfeiertage gab. Zu seiner Freude war wenigstens Heiligabend ein Arbeitstag und während in allen anderen Labors die Kollegen bei Kerzenschein und Spekulatius zusammensaßen, hatte sich Lothars Chef für seinen Mitarbeiter eine besonders große und schwere Aufgabe vorgenommen. Er wollte eine riesige Versuchsapparatur von einem Labortisch auf einen anderen umgesetzt haben.
So schuftete der Ärmste von morgens bis zum Feierabend im wahrsten Sinne des Wortes im Schweiße seines Angesichts und als er um 17 Uhr damit fertig war, entließ ihn Dr. Marder gnädig in die Feiertage. Als Lothar erschöpft über den Flur schritt, bemerkte er, dass alles ganz ruhig war und die anderen schon längst Feierabend gemachte hatten.

Aus dem Buch "Er war stets bemüht" von Wilfried Hildebrandt

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Kommentare (1)

Syrdal


Und so treibt jede Zeit und und jedwede Ideologie ihre ganz eigenen Blüten – mit und ohne Alkohol, aber immer einzigartig und Zeitgeist-typisch...

...meint
Syrdal


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