Liebesgrüße per Post


Michael war fast drei Jahre alt. Ein kleiner Mann sozusagen. Fragte der Mutter Löcher in den Bauch, wollte immer vorndran sein. Er war fast seinem Alter voraus.

Gerade deshalb meinte seine Mutter: es wäre nun an der Zeit, dass er sich endlich von seinem geliebten Nukkel trennen würde. Denn Michael nukkelte mit Leidenschaft.

Der Herbst ging allmählich in den Winter über; die Blätter fielen von den Bäumen, verloren ihren Halt. Die Mutter des kleinen Jungen überlegte sich: warum ist es nicht möglich, dass sich auch ihr Sohn von seinem Nukkel trennte, ohne Zwang, wie die Blätter vom Baum. Und dabei kam ihr eine Idee: In der kleinen Parkanlage gegenüber hatte sich inzwischen ein Teppich voller Blätter in den schönsten Herbstfarben gebildet. Nachdenklich blieb ihr Blick darauf haften. Schweifte weiter zu dem gelben Postbriefkasten neben der Telefonzelle. Was wäre, wenn ihr Sohn den Nukkel per Post einem anderen Kind zum Nikolaustag schicken würde? Michael hätte dann auch gute Karten beim Nikolaus, könnte von seiner guten Tat erzählen.

Und da sie ihre Entschlüsse nie auf die lange Bank schob - ein Versuch war es allemal wert - sagte sie zu ihrem Sohn." Michael, du bist doch jetzt schon so groß und gescheit. Wie findest du das, wenn du deinen Nukkel einem anderen Kind zum Nikolaustag schicken würdest?! Da drüben ist der Postbriefkasten." Der kleine Michael schaute seine Mutter mit großen Augen an, überlegte kurz, gab ihr die Hand und sagte: "Dann aber jetzt gleich, Mami!"

Die Mutter ging mit ihrem Sohn über die Straße zum Park zum Briefkasten, hob den Deckel hoch, Michael warf seinen Nukkel in den Briefkastenschlitz, und der Nukkel ging auf Reisen. Der Sohnemann war ganz stolz, er brauchte jetzt keinen mehr.

Die Jahre vergingen, Michael kam in die Pubertät. Kaufte sich ein breites, schwarzes Lederarmband mit lauter Nieten drauf, die wie kleine Pyramiden hervorstachen. Er wollte damit seine Männlichkeit zum Ausdruck bringen. Natürlich trug er dieses Lederarmband voller Stolz auch bei einem Besuch bei Freunden im Schwarzwald. Der Freundin der Mutter fiel es sofort auf. Sie hielt auch mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. "Sag mal," fragte sie Michaels Mutter verstohlen, "findest du das schön, was er da am Handgelenk trägt?" - "Nein", sagte die Mutter, "aber wenn ich ihm jetzt etwas sage, ist das Opposition für ihn. Dann tut er ganau das Gegenteil"
"Dann sage ich etwas zu ihm", meinte die Freundin und wandte sich an Michael mit den Worten: "Sag mal, Michael, so kenne ich dich ja gar nicht. Du bist doch ein großer und starker Junge, beinahe schon ein richtiger Mann. Brauchst du eigentlich dieses Lederarmband, um deine Männlichkeit zu beweisen?"

Michael sagte nicht darauf. Aber nach dem Mittagessen, beim Verdauungsspaziergang durch die Stadtparkanlage, nahm er stillschweigend das Lederarmband ab und steckte es in den Schlitz vom Postbriefkasten, für ihn war die Sache damit erledigt.

Inzwischen ist er ein richtiger Mann geworden, erfolgreich im Beruf. Möchte immer zeigen, was er alles kann und schon erreicht hat. Für seine Frau und sich hat er ein großes Haus gebaut; dafür werden sie noch sehr viele Jahre an Baudahrlehen abarbeiten müssen.Schuften Tag und Nacht. Die kleinen Kinder sehen ihre Eltern kaum. Klammern sich an sie, wenn sie mal kurz Zeit haben. Die Eltern haben Sorgenfalten im Gesicht, ihr Lachen darauf ist fast verloren gegangen.

Schade, denkt sich manchmal die Mutter vom Michael, dass man ein Haus nicht mit der Post verschicken kann ...


Celida I.Gr.


Anzeige

Kommentare (2)

barbarakary Hallo, es lohnt sich über diese Geschichte nachzudenken - und wenn man auch mal das, was belastet oder überflüssig ist, in einen visualisierten Briefkasten wirft!

Liebe Grüße - Roma
stratamontana Du schreibst hier ganz einfach eine Geschichte. Erfunden oder nicht, aber es trifft die Realität. Und wieviele sind über das Erwachsen werden und Erwachsen sein schon gestolpert oder haben Schiffbruch erlitten? Oder nachdem sie glaubten, alles erreicht zu haben und nach dem Erwachen aus dem Erwachsensein-Rausch, wieder alles verloren haben?-
Ich finde richtig gut, daß Du Dich mit dieser Problematik beschäftigtst und es kommt mir so vor, als hättest Du schon eine entsprechende Erfahrung persönlich gemacht.-
Auch ich möchte manchmal gerne einiges in einen Breifkasten werfen.
Liebe Grüße Walter

Anzeige