Es gibt schon sehr unterschiedliche Arten von Loslassen.

Irgendwie habe ich das Gefühl, als knapp Siebenjährige hätte ich meine Mutter leichter loslassen können, als später die oder den Angehörigen, mit dem man doch einige Jahre mehr verbracht hat. Das war keineswegs leichter oder schwerer, wenn es sehr geliebte oder nicht so geliebte Personen waren!

Es tröstete mich ungemein, als ich am Sterbebett meines Vaters ausgerechnet im mir wichtigsten Moment seine Hand hielt. Es gab mir das Gefühl, er habe auf mein Dasein gewartet, um nun zufrieden vom Leben Abschied zu nehmen. Wir waren alle bei ihm, weil wir gesagt bekommen hatten, ein „Rundum-Herzinfarkt“ verhindere nun wohl eine Gesundung, er würde von uns gehen.

Unsere Stiefmutter – seine zweite Frau – stand an seinem Bett, meine Schwestern mit ihr am Fußende des Bettes, während ich durch meine weitere Anreise erst sozusagen im letzten Moment bei ihm eintraf.

Mein Vater blickte mich an, lächelte und begrüßte mich. Seine Hand drückte ein letztes Mal die meine – und ich sah seinen Blick brechen … Er war offensichtlich glücklich in die Ewigkeit gegangen. Gedanken rasten durch meinen Kopf: ich kam zur Weihnachtsbescherung als junge Erwachsene ins Wohnzimmer, wo unser Vater uns am Hl. Abend erwartete. Mein Gruß riss ihn aus seinen Gedanken – „Huch, ich dachte, Mutter käme grade! Du hörst dich genauso an wie sie!“ Wie sah er mich?

Ich weiß nicht, wie mein Vater auf uns, seine Mädchen, blickte. Die Älteste erschien mir immer wie eine gelungene Mischung unserer Eltern, aber sie hatte mehr vom Äußeren unserer Mutter, wohl auch eine Menge vom rechthaberischen, fast zänkischen Wesen der mütterlichen Oma.

Ich war die Zweite, die die Familie vergrößerte. Aber mein Aussehen war fast eine weibliche Wiederholung unseres Vaters bzw. seiner Mutter. Auch die nicht immer zu viele richtige Zurückhaltung, wenn es um Streitfragen ging, waren mein väterliches Erbe.

Unsere Jüngste war ein Abbild der familiären Gene unserer Mutter: ein strahlend blondes Kind mit himmelblauen Augen. In den Jahren unserer Kindheit und Jugend waren wir Zwei fast unzertrennlich.

Trauer erfüllte mich an diesem bedrückenden Abschied. Das Loslassen meines Vaters fiel schwer. Die nächsten Aktionen habe ich nicht mehr mitbekommen, weil man mich sanft zur Seite nahm, um meinem verstorbenen Vater die gebrochenen Augen zu schließen. Meine Schwestern mussten sich an unserer Stiefmutter vorbeidrängen, um einen letzten Blick auf ihren Vater zu werfen. Später wollte sie mir das Erlebte nehmen, indem sie behauptete, er habe seinen letzten Atemzug nur in ihrer Gegenwart getan.

Ich entzog mich diesem Streitthema, das ich gar nicht ausführen wollte. Mein Erlebnis war in meinem Kopf verankert, das sollte mir niemand nehmen, auch ich selbst nicht … Dieser, ihr „Besitzanspruch“, war nicht von Liebe geprägt. Sie wollte ihren „Besitz“ nur loslassen, wenn wir vorher losgelassen hätten – eine stille Forderung, die gar nicht erfüllt werden konnte.

Schlimme Gesundheitsprobleme meiner Tochter, einmal sogar durch einen technischen Defekt fast unerträglich gemacht, haben mich bis heute ein wenig im Griff. Ihr Diabetes wurde ihr durch belastete Blutübertragungen während einer LWS-Versteifung „verabreicht“. Wir Eltern besuchten unsere frisch operierte Dreizehnjährige auf der Intensivstation und noch ehe wir mit ihr hatten sprechen können, versagte das Blutdruck anzeigende Gerät, zeigte mit einem langen Warnton nur noch einen geraden langen Strich!! Dummerweise geschult durch diverse TV-Sendungen „sah“ ich gerade, dass das Herz unserer Tochter aufgehört habe zu schlagen, sie gerade verstarb!!! Sie loszulassen war ich nicht bereit! Ohnmächtig sackte ich zu Boden, während eine Krankenschwester zu unserem Kind ins Zimmer eilte und das Gerät wieder zu kontrollieren zwang. Nicht meine Tochter hatte den Geist aufgegeben, sondern das defekte Gerät!

Vier Jahre später war ein tatsächliches Ableben unserer Tochter fast passiert. Ich hatte meinen Mann am Montag Ende Februar 1987 zu einer schweren OP ins Krankenhaus gebracht. Am Dienstag wurde er für die anstehende Operation medikamentös so weit vorbereitet, damit er eine ruhige Nacht, die nicht mit Ängsten vor der OP für Unruhe sorgte, verbringen sollte. Und dann kamen Sohn und Frau um Mitternacht, um auch ihn wissen zu lassen, dass seine Tochter in Lebensgefahr schwebe. Doch sie nun loszulassen, gehen zu lassen, dagegen wollte ich kämpfen!

Genau um 24 oder 0 Uhr klingelten gleichzeitig mein Telefon und die Türglocke. Am Telefon erklärte mir der diensthabende Notarzt in Verden, wenn ich meine Tochter noch einmal lebend sehen wolle, sollte ich umgehend dort hinkommen. Geklingelt hatte an der Haustür mein Sohn, der von der Mutter des Freundes unserer Tochter ebenfalls über ihre Einlieferung ins Krankenhaus auf die Notfallstation informiert worden war, der mich nicht allein die lange Strecke – 170 km über die Autobahn bei frisch fallendem Neuschnee – fahren lassen wollte. Auch ihm wäre ein Loslassen seiner Schwester zu schwer gefallen. Doch das Risiko, dadurch auch seine Mutter – mich – vielleicht loslassen zu müssen, das wollte auch er verhindern.

Wir suchten zuerst kurz meinen Mann im heimischen Krankenhaus auf, ließen ihn das Nötigste wissen, versprachen, sofort, wenn wir wiede rvor Ort seien, ihm zu berichten und dann nahm ich ihm sicherheitshalber noch seinen Pkw-Schlüssel weg, damit er unter dem Medikamenteneinfluss nicht durch die frostige verschneite Nacht hinter uns herführe.

Daher ging es für Sohn und Mama nun ab auf die Strecke. Es gelang ohne Unfall und um 3:30 Uhr trafen wir im Verdener Krankenhaus ein, mussten noch eine halbe Stunde warten, bis meine Tochter wieder „wach“ war, uns wenigstens für einen Moment als Besuch vertragen konnte. Ein Häufchen Elend blickte uns verlegen lächelnd an. Aber ihre Augen waren schon wieder richtig da! Wir konnten beruhigt nach Hause fahren, mussten ja schließlich beide morgens wieder am Arbeitsplatz sein.

Mein Sohn setzte mich zuhause ab. Ich frühstückte und fuhr zur Arbeit, die mich bis 17 Uhr sehr beschäftigte. Dann klingelte dort mein Telefon. Ein Pfleger aus dem heimischen Krankenhaus ließ mich wissen, mein Mann habe die Operation gut überstanden, aber er wolle mich nicht sehen!

Die so lieblos dahergesagte Nachricht ließ mich zusammenbrechen! Es war zu viel an emotioslosem Benehmen, das auf mich einwirkte. Ich konnte nicht mehr stark bleiben, musste nun auch mein Gemüt, stets alles kraftvoll durchzustehen, loslassen. Die Angst um meinen Mann durch die OP, die nahe Todeserfahrung unserer Tochter, die schlaflose Nacht und nun die kühle Benachrichtigung aus dem hiesigen Krankenhaus – das war zu viel für mich. Ein Heulkrampf schüttelte mich, ich glaubte mich ja allein in meinem Büro. Die Kolleginnen waren schon nach Hause, da sah das ja niemand, dass ich meinen Gefühlen freien Lauf ließ.

Ich irrte: Unser Allgemeinarzt und der führende Psychologe kamen in mein Büro und überraschten mich in meinen Gefühlsausbruch. So nett ich jeden von ihnen auch fand – jetzt mich tröstend von einem von ihnen in die Arme nehmen lassen, das konnte ich nicht! Ich warf sie achtkantig 'raus – und bedauerte sofort, dass ich mir das nicht gegönnt hatte. Es hätte so gut getan …

Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, wie es sein würde, als Mutter das eigene Kind viel zu früh zu Grabe tragen zu müssen, wie es meinen beiden Großmüttern beschert wurde. Die eine wurde 88 Jahre alte und musste fast zwanzig Jahre zuvor ihre Älteste, meine Mutter, gehen lassen. Mir ist oft durch den Kopf gegangen, wie meine Oma das wohl verkraftet hat. Anmerken ließ sie sich das nie. Vielleicht hat sie der Verlust ihrer weiteren Babys nach fünf Kindern gelehrt, nicht mehr Lebensfähiges loszulassen.

Karge Lebenszeiten sowie die beiden Weltkriege nahmen meiner väterlichen Oma den Vater ihrer zwei ältesten Kinder sowie den jüngsten Sohn aus zweiter Ehe als Soldat an der Wolga in Russland. Sie wird auch den Tod unserer Mutter, ihrer Schwiegertochter schwer genommen haben. Doch sie stellte sich umgehend als Mutterersatz viele Jahre für ihre Enkelinnen zur Verfügung.

Diese Großherzigkeit könnte ich heute meinem zehnjährigen Enkel gar nicht mehr bieten. Doch eine zweite Oma hat er nicht, die starb bereits vor 15 Jahren. Da kann ich nur hoffen, dass meine Tochter ihren Sohn noch bis in sein Erwachsenenleben begleiten darf, denn die Hilfe, sein legasthenes Leben in den Griff zu bekommen (was momentan schon sehr gelungen ist!), braucht er auch noch einige Jahre. Sein Papa ist dazu – bei aller Liebe zueinander – nicht in der Lage. Es wäre inzwischen sogar fast schon umgekehrt! Ob diese beiden „Männer“ ihre Frau und Mutter loslassen könnten – wer weiß das schon?

Aber auch diese Einsicht entspricht einer gewissen Art des Loslassens. Als Mutter seine erwachsenen Kinder selbst Entscheidungen treffen zu lassen, als Oma „nur“ zuzusehen, wie der Enkel lernt, sein Leben zu erobern, fordert von den „Großeltern“ schon eine nicht geringe Form und Vielfalt des Loslassens. Es ist Elternsache, die Kinder zu erziehen, ihnen zu helfen, in ihr eigenes Leben hineinzuwachsen. Unterstützung darf sein, doch altersbedingte Besserwisserei verkneife ich mir …

Was aber auch die erwachsenen Kinder lernen müssen: den alten Eltern nicht – wie dem eigenen Kind – nun Vorschriften zu machen! Diskussionen ja, Hilfe, wenn sie gewollt ist und angenommen wird, auch, aber nicht Bestimmungen über den Kopf der Senioren hinweg. Es nimmt ihnen die ihnen zustehende Würde! Auch da ist eine Art Loslassen angezeigt, kein neues wieder Festhalten richtig. Wohl dem, der das auf angenehme Weise erfährt.

Ich bin sehr dankbar, für meine Kinder bis heute dasein zu dürfen. Ich konnte sie selber bei mir groß werden lassen, ihnen die gewünschte Unterstützung zu geben oder sie auch selbst entscheiden lassen, was sie erreichen wollten. Ich hatte ja selbst erlebt, wie unser Vater meine Schwestern in seinen Beruf zwang, obwohl beide Anderes im Sinn hatten, damit warten mussten, bis sie erwachsen waren, um auch dann noch zu hören, dafür gäbe es keine finanzielle Unterstützung! Ihm muss das langsame Loslassen doch nach vielen Jahren auch die Mutter teilweise zu ersetzen, schwer gefallen sein.

Ich nahm mir die Freiheit, den Beruf zu erlernen, den ich wollte. Und bis heute bin ich froh darüber. Auch der Vater unserer Kinder wollte unsere Tochter in seinen Beruf zwingen. Obwohl er sie schon als Zweijährige von sich stieß, war sein Besitz- und Bestimmungswunsch übergroß, ließ ihn an ihr wieder festhalten, in einer Weise, die ihm nicht wirklich zustand. Aber ihre Gesundheitsprobleme gaben ihr die Möglichkeit, in einem Ausbildungsinternat sich ihren Berufswunsch herauszupicken. Das führte dazu, dass ihr Vater sie emotionell von sich stieß und wir Zwei, meine Tochter und ich, bis heute mit ihrer Berufswahl glücklich sind. Sie hat daddurch ihr Elternhaus recht früh losgelassen, das ich zwangsweise dann mitzumachen hatte.

Ihr Bruder durfte seinen Berufswunsch leider nicht verwirklichen, weil er dazu keine Rot-Grün-Farbunterschiede sehen konnte. Als Elektriker muss man auch die geringsten Farbunterschiede der diversen Kabel sehen! Da gab's dann den Beruf, den er nebenbei gern verwirklicht hätte: Schrauber … Sein Vater ließ ihn recht schmerzhaft spüren, was er von dieser Berufswahl hielt. Er ließ nicht los, er strafte mit Mißachtung.

Seine Erkrankung löste bei keinem von uns das große Helfersydrom aus, allerdings wollte er das auch nicht. Er stieß uns von sich mit dem schwer verdaulichen Spruch: ... meine Krankheit geht euch nichts an! Sein Tod vor vier Jahren war für unsere Kinder und mich wie auch seine Geschwister kein Grund, eine große Beerdigung planen. Ihn wollte niemand festhalten. Er muss es wohl gespürt haben, dass er seine Umwelt nicht mit großartigen Sympathiebezeugungen für sich eingenommen hatte. Seine Art, mit Anderen umzugehen, ließ Viele spüren, dass es von ihm oft nur Freundlichkeit gab, wenn er sich dadurch Gegenleistungen versprach. Man ließ ihn gerne los.

Erst in seinen letzten zwei Jahren erkannte er, dass auch er lieben konnte! Unser einziger Enkel lehrte es ihn als Kleinkind! Und seine von ihm verstoßene Tochter hatte die Größe, es ihm öfter zuzugestehen, den Opa zu besuchen, obwohl sie Jahrzehnte zuvor eine Therapie benötigte, um die von ihm ausgelösten Panikattacken wieder loszuwerden.

Er wünschte sich ein Urnenbegräbnis an annonymer Stelle. Außer unseren Kindern und mir gab es nur den Friedhofsgärtner, der aktiv dieses Begräbnis durchführte. Er wollt es so. Traurig, so aus dem Leben zu scheiden.

Denke ich an die Begräbnisse meines Vaters, meiner Oma oder meiner Stiefmutter – die waren alle von vielen Angehörigen begleitet und die Gräber lagen jeweils dicht beieinander! Ich habe eine Seebestattung für mich bestellt, wenn es mal so weit ist. Wer an mich denken will, kann das auch tun, ohne einen Friedhof besuchen zu müssen … Die Liebe hat uns viel miteinander erleben lassen, was durch Erinnerungen wieder aufleben kann.
 


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