Lydia's Weihnachtserinnerung


Lydia's Weihnachtserinnerung
Als meine Freundin Lydia noch hier in der Nähe lebte, erzählte sie im Freundeskreise Jahr für Jahr diese humorvolle Geschichte aus ihrer Kindheit im Norden Deutschlands. Inzwischen ist Lydia über Neunzig und lebt wohlversorgt bei ihrer Tochter im Bergischen Land. Da sie es selbst nicht mehr kann, hat sie mich gebeten, ihre Erzählung hier zu posten, da die Entstehung des Heringssalates vielleicht auch die ST-Leser zum Schmunzeln bringen kann.


(gra) Kein Heiligabend ohne Heringssalat, den mein Vater höchstpersönlich herstellte, mit allerhand Schnippeleien. Sehr ernsthaft und korrekt am Küchentisch ausgeführt, wobei besonders interessant war, wie er zuvor Rindfleisch, Kartoffeln und Rote Bete kochte, Walnüsse knackte, Äpfel würfelte, Mayonnaise rührte und einen ganzen Eimer voll Salzheringe seit Tagen wässerte. Dieser Eimer stand so in der Küche vor sich hin. Stumm, aus trüben Pupillen glotzten die Heringe uns fünf Kinder an. Dennoch, trotz zahlreicher toter Fische in der Küche: Weihnachtsstimmung herrschte am Tag vor Heiligabend im Wohnzimmer, wo meine Mutter sich mit alten Tanten um den Adventskranz scharte. Traulich leuchteten die vier Kerzen. Die Tanten stickten und sangen „ O Heiland, reiß die Himmel auf“. Plötzlich fing der Adventskranz Feuer. Und „Feuer!!!“ schrieen die entsetzten Damen. Mein Bruder, zwölf Jahre, dem gerade die Feuersgefahr von mit echten Wachskerzen geschmückten Weihnachtsbäumen erklärt worden war, wusste sofort, wie man als jugendlicher Feuerwehrmann zu handeln hat. Er stürzte in die Küche und riss den gefüllten Wassereimer aus der Ecke. Damit ins Wohnzimmer sausen war Sache von Sekunden. Und den Eimer wie der Blitz mit Schwung auf die Flammen kippen, das war  d i e  Wonne für einen Zwölfjährigen! Plötzlich wurde es stockdunkel im Raum. Doch entsetzliche spitze Schreie ließen das Schlimmste vermuten. Mein Vater eilte daraufhin aus dem Garten herbei, wo er gerade unter unweihnachtlichen Flüchen (wie stets) versuchte, den Weihnachtsbaum in den Ständer zu bringen. Also, was sah der arme Mann: Wie versteinert saßen drei Tanten und meine Mutter da. Dekoriert und begossen, so wie das beste Erbstück, das Biedermeiersofa, mit schimmernden Salzheringen, denn – man ahnt es – der Eimer mit den eingeweichten Fischen war über das Adventsidyll ausgeschüttet worden! Vernichtet Frisuren, Kleider, Handarbeiten und der Wohnzimmerteppich! Nach allgemeiner Erstarrung ging das Einsammeln des Heringsschwarms und ein Großputz los, der jedes Frühjahrsreinemachen in den Schatten stellte. Meine Großmutter, eine würdevolle Dame und die exzellenteste Hausfrau, die ich je erlebte, erschien man nächsten Tag. Sie legte sich zum gewohnten Mittagsschläfchen auf das Biedermeiersofa und verkündete danach: „Komisch, in diesem Hause herrscht keine Weihnachtsatmosphäre! Wirklich eigenartig. Ich träumte eben, ich wäre auf Norderney!!“ Na ja, keiner hatte gewagt, ihr den Heringsguss auf das Erbstück zu gestehen. Dem zwölfjährigen Feuerwehrmann wurde natürlich kein Vorwurf gemacht. Allerdings, Jahrzehnte später, an seinem 70. Geburtstag, als die begossenen Damen längst das Zeitliche gesegnet hatten, gestand er mir, dass er mit Absicht den Heringseimer über sie gekippt hatte. Das wunderte mich nicht, denn dieser aufsässige Bursche spazierte zu jener Zeit meist – wie Vater sagte „am Rande einer Ohrfeige“. Übrigens: Auf die traditionelle Delikatesse musste die Familie damals nicht verzichten. Die Heringe wurden lupenrein gewaschen, geschuppt und kleingeschnitten im roten Salat serviert. Denn: Kein Heiligabend ohne Heringssalat!                

Lydia Grabenkamp

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Kommentare (5)

Christine62laechel

Eine wunderschöne Geschichte, und mit so vielen interessanten Gestalten; am meisten haben mir der Vater (und seine unweihnachtliche Flüche im Garten), der kleine Feuerwehrmann, und - die würdevolle Großmutter gefallen. :)

Mit besten Grüßen
auch an die Freundin Lydia
Christine

ella

Dank an @werderanerin, @muscari und @maslina für die zustimmenden und netten Kommentare. Ich werde sie alle an Lydia weiterreichen, sie wird sich freuen.
Auf dem Foto ist übrigens Lydia's Weihnachtsbaum im Haus im Bergischen Land.
Alles Liebe für 2018,
Ella

Maslina

ich habe nicht geschmunzelt, ich habe gelacht. aber die Beteiligten werden nicht gelacht haben. Hoffentlich hat der Heringssalat dennoch geschmeckt.
Maslina

werderanerin

Liebe ella,

dies ist eine von den Geschichten, die man wohl ein lebenlang nicht mehr vergisst und das ist doch auch irgendwie schön, stellt man auch Unterschiede zu damasl fest..., es wurde "damals" noch soviel selbst hergerichtet und Tage vorher vorbereitet, heute zwar auch noch einiges aber vieles wird "gedankenlos" eingekauft und serviert...auch gut aber eben anders !

Eine amüsante Geschichte..., mein Dank geht auch an Lydia und alles Gute !

Kristine
 

Muscari

               Eine so köstliche Weihnachtsgeschichte habe ich seit
               langem nicht mehr gelesen. 
               Ich sehe die Situation förmlich vor mir. Die Herinnge und
               all die ratlosen Gesichter. Schön auch die Bemerkung
               "am Rande einer Ohrfeige"
...............Dies ist ein wunderbarer Lacher am 2. Adventsonntag.
               Danke dafür, sagt
               Andrea.
         


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