Mein unerkannter Urgroßvater


Wenige Tage vor Ostern 1946 waren wir an der Reihe: Wir mussten meinen Heimatort Liebauthal, die Fabrikkolonie im Westen Böhmens zwischen Egertal und Kaiserwald verlassen. Von der drohenden „Ausweisung“, wie der schönfärberische Begriff für unsere Vertreibung hieß, war schon seit geraumer Zeit die Rede. Um für die mageren Zeiten danach gewappnet zu sein, hatte ich bereits vorher auf den Zucker im Morgenkaffee verzichtet (woraus schließlich eine immerwährende Abneigung gegen gesüßten Kaffee entstand). Es war die einzige Vorsorge, die ich für das in Aussicht stehende neue Abenteuer traf. Im Reisen war ich, trotz meiner erst sieben Jahren, nicht ganz unerfahren. Was mir den drohenden Verlust der vertrauten Umgebung außerdem erleichterte war die Hoffnung, wo immer wir auch landen würden, endlich in die Schule zu kommen. Obgleich längst schulpflichtig, war mir der Schulbesuch zu meiner großen Enttäuschung verwehrt worden, von einer tschechischen Lehrerin, gewiss auf Anordnung „von oben“. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass die „Ausweisung“ ein Abschied für immer vom Ort meiner Kindheit sein würde, daran ließen die Gespräche in unseren vier Wänden keine Zweifel, ebenso wenig die Handlungen. So wurde schon früh die bewegliche Habe danach eingeteilt, was man auf die Reise ins Ungewisse unbedingt mitnehmen wollte und was man, wenn auch schweren Herzens, zurücklassen musste. Wer den Mut dazu besaß, wählte einen dritten Weg: Besitz, den man für verzichtbar hielt, ihn aber nicht in die Hände der neuen Machthaber fallen lassen wollte, einfach (verboten-erweise) zu zerstören oder ihn an Zurückbleibende zu verschenken.

Meine Großmutter Marie Nehyba stieß beim Sortieren ihrer Habe auf dem Dachboden damals gleich auf zwei Gegenstände dieser Art, einer davon war eine Mandoline, der andere eine Tabakspfeife mit einem bunt bemalten Porzellankopf und einer Kordel um den langen Stiel. Nach kurzer Beratung mit ihrer Tochter (meiner Mutter), der die Mandoline eigentlich gehörte, zertrümmerte die Großmutter das schöne Instrument unbarmherzig, ja unbarmherzig, so empfand ich es auch wirklich, an einem Balken. Danach reichte sie mir die Pfeife und sagte: "Bring die dem alten Sabransky, der freut sich bestimmt darüber".

Diesen Auftrag übernahm ich gerne, denn "an olten Sawranski", wie er immer nur genannt wurde, kannte ich seit langem schon. Er wohnte in einem der Privathäuser der Kolonie. Alt musste er wirklich schon gewesen sein, das verrieten seine kurzgeschorenen weißen Haare und der zahnlose Mund, der sich tief in das Gesicht eingrub und so das Kinn stark hervorspringen ließ. Gesichter dieses Zuschnitts findet man heute im Zeitalter der Vollversorgung mit Zahnprothesen kaum noch. Besuchte ich den stillen Greis, empfing er mich stets in einem imposanten Sessel mit hoher Rückenlehne und Armstützen. Ein kleiner Kanonenofen, von dem ein langes Rohr ausging, erwärmte zur Winterzeit das Zimmer angenehm.

Wer aber war der "alte Sabranski" eigentlich und was bewog mich überhaupt zu gelegentlichen Besuchen bei ihm? Der kleine Bub hat diese Fragen damals weder sich noch anderen gestellt. Wozu auch! Der alte Sabranski war halt der alte Sabranski. Mit gleicher Selbstverständlichkeit mochte ich auch mit der Pfeife zu ihm gelaufen sein, als man mich dazu aufforderte. Dass mich allerdings mit dem alten Herrn viel mehr verband als eine bloße Bekanntschaft, entdeckte ich erst viele Jahre später.

Die ersten Indizien dazu ergab ein "Geburts- und Taufschein", den ich unter Familienpapieren fand, die 1941 vom Pfarramt Königsberg a. d. Eger zwecks "Ariernachweis" anhand der dortigen Taufmatrikel angefertigt worden waren. Diesen obskuren "Nachweis" mussten damals nicht nur die „Reichsdeutschen“ sondern auch die Menschen der von Hitlerdeutschland 1938 annektierten Gebiete der Tschechoslowakei, also auch die Egerländer, beibringen - als Beleg dafür, dass man keine jüdischen Vorfahren hat. Jener Schein nun fiel mir dadurch auf, dass er auf den Namen Johann Georg Sabransky lautete, geboren am 2.3.1865 zu Königsberg a./E. 280. Wie hätte ich da nicht stutzig werden sollen! Das bewirkte nicht allein der Name, der sogleich Erinnerungen an meine Kindheitsbekanntschaft wachrief. Mehr noch verwunderte mich, dass keine der Personen in den weiteren Papieren mit Johann Georg Sabransky verwandtschaftlich verknüpft zu sein schien. Was also hatte er in meinem "Stammbaum" verloren?

Das Rätsel war schnell gelöst. Auf die Frage an meine Familie, ob es sich bei dem Sabransky aus dem "Ariernachweis" etwa um den "alten Sabransky" handele, hieß es: Ja, natürlich. Er sei doch der Vater meines bereits im 1. Weltkrieg gefallenen Großvaters Anton Träger gewesen, oder anders ausgedrückt: Johann Georg Sabransky war mein „leiblicher“ Urgroßvater, einer der vier Urgroßväter, die jedermann zustehen. Dass dieser Umstand aus keinem der Familienpapiere herauszulesen war, besaß freilich seinen Grund: Georg Sabransky hatte Anna Träger, die Frau, mit der er als 17-Jähriger (!) das Kind Anton zeugte (und die zwölf Jahre älter war als er), nicht geheiratet, folglich dem Kind, das später mein Großvater wurde, nicht seinen Namen geben können. Wenn er trotzdem - wenn auch nicht klar als Vater ausgewiesen - in meiner „Ahnenreihe“ erscheint, so ist das keineswegs selbstverständlich und wohl eher eine Ausnahme. Denn Kindsväter wie er wurden gewöhnlich offiziell als nichtexistent betrachtet, abzulesen daran, dass auf Geburtsurkunden nichtehelicher Kinder in der Regel allein die Mutter genannt wird.

Ungeachtet dessen muss Georg Sabransky sich irgendwann einmal als Vater seines illegitimen Sohnes Anton geoffenbart haben. Dass er diese Vaterschaft nicht leugnete, drückte sich auch darin aus, dass er den Kindern seines Sohnes Anton durchaus zugetan war. Einem davon, meinem Onkel Rudolf, verhalf er, wie der mir erzählte, in schlechten Zeiten zu einer Arbeitsstelle in der Liebauthaler Fabrik, wo er selbst als Webmeister tätig war; meinem Vater Josef machte er sogar ein wertvolles Hochzeitsgeschenk, eine Wanduhr. Damals hatte er längst eine eigene Familie mit Tochter und zahlreichen Enkelkindern.

Alle Welt, die kleine Liebauthals wie die behördliche, wusste also offenbar, dass Georg Sabransky mein Urgroßvater war. Und alle verschwiegen sie es mir! Sogar er selbst. Dabei hätte ich sehr wohl verstanden, was ein Urgroßvater ist, redete man in der Familie doch oft genug von einem, der zu eben jener Zeit an ganz anderem Ort gestorben war. Der freilich hatte, im Gegensatz zum jugendlichen „Sünder“ Sabransky, die zuständige Urgroßmutter zum Traualter geführt.

Das Schicksal meines Urgroßvaters Sabransky nach der Pfeifenübergabe war mir bis vor kurzem nur ganz ungenau bekannt. Erst 60 Jahre nach der letzten Begegnung mit ihm erfuhr ich, sein Urenkel, durch zwei seiner Enkelinnen endlich, wann, wo und woran er gestorben ist: 1951 in Wolmirsleben südlich von Magdeburg nach einem Oberschenkelhalsbruch. 1947 hatte ihn, der 1946 ebenfalls aus der Heimat vertrieben worden war, seine Tochter Anna T. aus einem Altersheim in Alzenau bei Aschaffenburg nach Wolmirsleben, dem Vertreibungsort der Familie T., geholt.

Und am Ostersamstag 2006 besuchte ich den Friedhof, auf dem Georg Sabransky beerdigt ist. Sein Grab ist längst eingeebnet, die Stelle seiner Grablegung aber konnte mir noch gezeigt werden.

Siegfried Träger



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