Mein Vater – unser Vater (2)


Werden und Wachsen

Ich kann nur beschreiben, was ich von den Eltern erfahren habe oder so nach und nach mir zusammenreimen kann. Jetzt, da der Vater nicht mehr das „Sagen“ hat, jetzt, wo meine Ehrfurcht und Achtung ihn nicht zum unerreichbaren „Gott“ stellt, jetzt also, verknüpft mit eigener Erfahrung – schließlich ist es nicht mehr lange hin, selbst Urgroßvater zu werden, jetzt krame ich in seinem Leben ungeniert herum.

Primus war er im Gymnasium. Das war nichts für ihn, er langweilte sich. Ein Grund, einfach nicht mehr weiter zu machen, einfach alles hinzuschmeißen. Wie gesagt, das passte seinem Vater überhaupt nicht.

Als wir 1936 hinaus nach Eichwalde zogen, wurde ich zum Helfer in Montagesachen für unseren Vater. Er stand oben auf der Stehleiter und hantierte oben an der Decke des Zimmers, das eine Lampe montiert bekommen sollte. So, wie im Operationssaal vom Behandelnden die Kommandos „Tupfer“, „Skalpell“ ertönten, so waren die Elektro-Werkzeuge heraufzureichen. Das musste fix sein. Wie bei „Offenem Herzen“ wurde unter Strom gearbeitet, was manches Mal mit einem Fluch „Autsch!“ angezeigt wurde, wenn den Operateur ein Stromschlag ereilte.

Abends, wenn der Vater nach Hause gekommen war, wurde hinterm Haus am Küchenfenster zum Hof ein Galgen angebracht, der eine große Fotolampe, na so 200 Watt, hielt. Bei diesem Licht entstand der erste Karnickelstall, zwei Buchten nebeneinander, zwei Buchten übereinander. Dann kamen die ersten Kaninchen – feldgraues Fell. Einmal kam eine Frau mit einem Sack, in dem ein Kaninchen zappelte. Das wurde so nach und nach zu den allein wohnenden Kaninchen gesperrt. Ein Toben und Hopsen jedes Mal.

Aus Rüdersdorf, nördlich von Berlin, kam Grete, unsere Ziege zu uns. Weißes Fell, einen Zicken-Bart, keine Körner, kräftiges Meckern. Sie gab eine schöne, helle Milch. Sie ließ sich so gerne von Vater melken, der hatte doch so feine Bürofinger – Mutters Hände waren rauh von der Gartenarbeit, da boxte Grete einfach immer dagegen.

Mit Vater ging es in der warmen Jahreszeit nun hinaus zum Schwarzen Weg bei Schulzendorf zum Grünfuttermähen und nach Hause bringen. Gleich bei der Heimkehr musste das in Säcke gepresste Grünfutter ausgebreitet werden.

Grete bekam ein Lämmchen. Herrlich zu erleben, wie das in der Natur so zugeht, das Saugen der Milch an Gretes Euter. Jeden Tag Biologie-Unterricht life.

Das Lämmchen wurde die zweite Ziege. Beide hausten in dem Verschlag in der Waschküche. Jetzt wurde im Duett gemeckert. Und draußen konnte man das Klopfen der Kaninchen hören.

Vater baute einen neuen Hasenstall. Vier Buchten nebeneinander, zwischen den zwei inneren ein Fach zum Eingeben von Heu, an das die Viecher a la Raufe herankamen. Sonst konnte die Zwischenwand von zwei Buchten herausgenommen und wieder eingesetzt werden. An den schmalen Außenwänden waren Griffstangen angebracht, so zum Transport.

Diesem Bautyp folgten dann noch drei Hasenställe – unsere Selbstversorgung mit Fleisch konnte anlaufen. Aber viel wichtiger war der Bau eines Hühnerstalls. Eine Baracke, von Vater entworfen und dann auch gebaut. Baracke: es wurden Messing-Schlossschrauben verwendet, damit beim irgendwann zu erwartenden Umzug der Stall abgebaut, mitgenommen und vor Ort wieder aufgebaut werden konnte. Sagen wir’s schon gleich hier: als wir 1945 nach der Kapitulation das Grundstück in der Schillerstraße verlassen mussten, konnte Mutter den Stall an die Nachbarn Bär nebenan weitergeben, einfach im Ab- und Aufbau.

Hühner gab’s bald genug. Der Auslauf musste erhöht werden, weil die „Italiener“ (Hühnerrasse) immer über den Zaun flogen. Dann wurden Rahmen mit Küken-Draht gebaut, mit denen man Gänge zusammenstellen konnte, um auf dem Rasen vorne im Garten noch ein weiteres Areal für das Federvieh errichten konnte.

Auf Vaters Nachttisch im elterlichen Schlafzimmer stand schon früh zu Jahresbeginn ein elektrisch betriebener Brutapparat. Ein Thermometer lugte aus dem Deckel. Nun, da hatten wir Kinder gefälligst fern zu bleiben. Nur, wenn Mutter nach den auszubrütenden Eiern schaute, ab und zu ein Küken heraus holte, war unsere Begeisterung groß.

Es kam ein Problem auf: da waren mehr Hähnchen als Legehühner zur Welt gekommen. Also setze sich Vater hin, befolgte den Rat eines „Weisen“ und „pendelte“ die vorausgewählten frischen Eier mit seinem Ehering aus. Haha, da waren es schließlich noch mehr Hähnchen. Das Pendeln also untauglich.

Die Eier-Produktion lief an. Jedes Mal, wenn ein Huhn im Fallnest mit dem Legen fertig war, trompetete der ganze Hühnerhof, dass Mutter alles stehen und liegen ließ, um das Huhn zu befreien, sich die Nummer am Flügel sich merken und im Lege-Buch einzutragen. Mutter stempelte die Eier ab. Ich habe nicht gesehen, nicht erlebt, ob Mutter Eier verkauft hatte.

Im Hühnerhof tobten Leghorn, Rodeländer, Italiener – ein buntes Gemisch. Die Eltern züchteten Zwerg-Wyandotten, eine mittelgroße Hühnerrasse, weiße Federn, kleiner roter Kamm.

Der Kleintierzüchter-Verein (war das drüben in Schulzendorf?) stellte an einem Wochenende aus. Und alle Züchter kamen. Vater hatte einen Käfig gebaut, den man auf den Handwagen packen konnte. Die Hühner, die zur Ausstellung sollten, wurden erst einmal gewaschen, ehe sie auf ihre Sitzstange in den Einzelbuchten platziert wurden.
Auch Hund Pucki, unser (Opas) Rauhaar-Dackel, kam in das Waschwasser, da hat er sich die Milben geholt – ein Kratzen und Jucken. Wir zogen los zu der Gastwirtschaft, in deren Hof das Spektakel ablief. Hat’s Preise gegeben? Nix weiß ich.

Vater war ganz früher mal in der SA. Was ihn veranlasste, da wieder aus zu steigen, hat er nirgendwo hinterlassen. Mir hat er mal in den siebziger Jahren erzählt, dass er in die Partei (NSDAP) gegangen ist, weil er vor seinem Vorgesetzten, der in der SS war, seine Ruhe haben wollte. So war er in der Partei, wurde Blockleiter, hatte seine braune Uniform, die er dann und wann „zum Lüften“ anzog. 1938 war er zum Reichsparteitag in Nürnberg – für uns das mitgebrachte Backwerk in den Blechdosen. Sonst halfen wir dem Vater, trugen die Schulungsbriefe aus. Wir konnten den Vater zu Hause erleben, wo er seine zu haltenden Reden oder Vorträge stehend im Wohnzimmer deklamierte. Unsere Welt war noch in Ordnung.

1939 kam der Krieg. Noch fuhr Vater – jetzt alleine, weil Opa Müller inzwischen pensioniert worden war – in die Behrenstraße ins Büro. Wir begleiteten ihn morgens mit dem Handwagen zum Eichwalder Bahnhof, damit er den mitgeführten Koffer nicht tragen musste.

Abends standen wir wieder am Bahnhof. Der Koffer war schwer: im Koffer zwei Weißblechkanister, darin Essenreste aus der Kantine der „Friedrich Wilhelm“ für unsere Enten und Hühner – für Pucki auch Würste. Unser Lohn war bis zu Kriegsbeginn etwas aus dem Kiosk am Bahnhof: Zuckerstangen, Lakritz, Brausepulver, Schokolade. Dann war dieser monatliche Sondertag passee.

1940: Opa Müller, Vaters Vater, war heimgegangen. Vater übertrug mir die Aufgabe, unsere und Opas Bibliothek zu registrieren. Alle Bücher wurden in einem Schulheft notiert. Die Arbeit ging schleppend voran, weil ich doch eine Menge der Bücher nicht bloß aufschrieb, sondern auch las.

Unsere Mannschaft war inzwischen auf vier Kinder angewachsen. Nummer fünf war unterwegs. Vater musste einrücken. Wir brachten ihn zu einer requirierten Gastwirtschaft in der Chausseestraße. Aus Zeltbahnen hatte man große, mit Stroh gefüllte Matratzen ausgelegt. Und dahin entließen wir unseren Vater.

Vater kam (als Weißer Jahrgang) zuerst nach Polen zur Grundausbildung. Danach wurde er nach Holzkaten über Stolp in Pommern versetzt. Da zum Grenzschutz. Er vertrug mit seinen „Plattfüßen“ das Laufen im Dünensand nicht – man schickte ihn nach Hause.

Lange blieb er, er konnte man gerade seinen zweiten Sohn in Empfang nehmen – wir hatten jetzt zur Abwechslung einen Buben in unsere Mitte nehmen dürfen. Kurz vor Weihnachten kam Uli in Eichwalde an, das erste Kind von uns sieben, das in Eichwalde landete.

Vater wurde wieder eingezogen. War kurz in Pommern, aber dann landete er im Wehrmeldeamt II in Jüterbog, also südlich von Berlin. Eigentlich eine Beruhigung, war er doch nicht zur „Kämpfenden Truppe“ gekommen – wohl der vielen Kinder wegen. Da blieb er einige Zeit.

Was macht man da in der Baracke in Jüterbog, wo tags und nachts die Artillerie ihr Schießen übte. Er sägte Figuren aus Sperrholz aus, Menschen, Tiere, Bäume. Dazu auch noch zwei Häuser mit abnehmbarem Dach, in die die Figuren nach dem Spielen untergebracht werden konnten. Das alles brachte er mit nach Eichwalde. Mutter (und später ich als Verstärkung) bemalte die Figuren, saß dazu im ungeheizten Wohnzimmer – sehr schwer trocknete die aufgetragene Farbe.

Dann kam Unruhe auf. Versetzung! Erleichterung: Vater landete in Berlin in der Greifswalder Straße. Da wieder in der Schreibstube. So konnte er schon leichter und öfters nach Hause kommen. Weil es in Eichwalde keinen Herrenfrisör mehr gab, durfte ich zu Vater in die Kaserne in der Greifswalder Straße (wohl eine umfunktionierte Schule) fahren, wo mir einer seiner Kameraden den „Militär-Haarschnitt“ verpasste. Aber bevor ich da in Pimpfen-Uniform zum Vater durfte, musste ich mich immer beim Kompanie-Chef artig melden.

Wie bin ich damals immer da hin gefahren? Mit dem Vorortzug von Eichwalde nach Grünau. Umsteigen in die Stadtbahn, bis zum Alexanderplatz, dann (ich meine zu Fuß) bis zur Kaserne.

1942: Mutter nahm mich mit ins Glatzer Bergland. Mutter brauchte Erholung.

1943: Am 1.April kam unser Uschichen zu uns.

Immer mehr Häuser hatten Bombentreffer erhalten. Alles wurde mehr und mehr grau. Eichwalde bekam am 23.Dezember auch seine Bomben ab.

Nicht die Stabbrandbomben gezählt, die sich unbemerkt in die gefrorene Erde unter dem Schnee gefressen hatten – welches Glück. Manche Laube aber bekam solch einen Besuch, ging nach einem Schwelbrand in Flammen auf. Mutter und ich kamen am 24., also Heiligabend dreckig und todmüde von den Löscharbeiten nach Hause. Da saß Bärbel mit den Geschwistern und übte die Weihnachtslieder. Bald kam Vater aus Berlin dazu. Wir waren auch zu diesem Weihnachtsfest alle beisammen.

1944: Am 16.Januar war Eichwalde wieder dran und noch schlimmer. Es hat Tote gegeben, in der Taut-Siedlung ist eine Mine eingeschlagen. So ging es nicht weiter. Tante Trudel hat in Eichkamp ihr Haus durch eine Brandbombe verloren, nachdem sie kurz zuvor in das geerbte Anwesen in Erbach im Odenwald umgezogen war. Die Schwestern hatten verabredet, dass wir uns nach Erbach evakuieren sollten.

Mutter packte, Mutter holte Fahrkarten, Mutter telefonierte mit Vater – wir hatten kein Telefon, also lief sie zu Dr. Schumann in die Schmöckwitzer Straße. Vater kam – soll stinksauer gewesen sein – und brachte uns zum Anhalter Bahnhof. Diese Fahrt dahin dauerte sehr lange. Um 19 Uhr verließen wir Berlin.

Die beiden Schwestern nahmen mich mit zu einer Inspektionsfahrt von Erbach nach Ober-Kainsbach. Dort wurde für unsere Familie Quartier gemacht. Mit Mutter fuhr ich noch einmal nach Eichwalde, um einiges für das Wohnen im Odenwald zu packen und zu expedieren. In dieser Nacht schliefen wir bei Schumanns. In der folgenden Nacht fuhren wir wieder nach Ober-Kainsbach zurück.
Ober-Kainsbach: ein Pseudo-Frieden.
ortwin

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Kommentare (1)

Traute Was sind das für Wundergeschichten für die, die die Zeit nicht so kennenlernen mussten wie wir.
Kam ja keiner und fragte , wann wollt ihr auf die Welt?
Raus und durchbeißen hieß die Devise.
Das haben wir gekonnt und an Deiner Chronik kann ich meine anfügen, so war es und so haben die Eltern und wir es ruck-zuck durchgemacht und sind dabei noch brave Bürger geworden.
Wenn ich das lese, und denke an die Besuche in Ostpreußen, jetzt, wie die armen Russen leben, dann weiß ich woran es liegt. Daran, dass sie es nicht so taten wie es Menschen tun, wenn es nötig ist sich selbst zu versorgen.Da ist so viel Land und um die Häuser Nesseln und Wildnis und Armut. Kein Huhn ,Karnickel , Ziege Schaf,nichts.
Mit freundlichen Grüßen, auch an Spatz, Traute

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