Mein Vater – unser Vater (5)


Ohne Vater

Der Krieg atmete langsam aus. Und da war unser Vater weit weg. Er war „geschützt“, während wir die letzten Tage um und in Berlin da in Eichwalde mitmachten.

Ich war im Winter 1944/45 schon vorzeitig in die Nachrichten-Hitlerjugend eingetreten – unsere ganze Klasse war übergetreten, um damit weg von der Braunen H.J. zu kommen. Joachim Pöppel, ein Schüler ein oder zwei Klassen älter in unserer Oberschule war unser Scharführer. Wenn wir draußen keinen Dienst hatten oder in der (verhassten) Schule büffeln mussten, dann lernten wir mehr als im Physik-Unterricht, Praxis.

Wir mussten für den Volkssturm Fernmeldenittel vom OKH (Oberkommando des Heeres) in Zossen abholen. Die S-Bahner frozelten, wir kämen nicht mehr nach Eichwalde, der Russe wäre schon da. Wir überhörten dieses Wortgeplänkel, wollten doch nur unseren Auftrag durchführen.

Wir zogen Leitungen durch Eichwalde, wer weiß noch für wen. Im Schulzendorfer Gutshaus richteten wir eine Feldvermittlung auf und schoben Dienst am Klappenschrank. Nur: bei Fliegeralarm schickten uns die Vorgesetzten in den Keller, was uns überhaupt nicht schmeckte.

Hunger hatten wir, keine normale Verpflegung und nicht nach Hause können. Wir wechselten uns ab, überall, wo etwas Militärisches oder der Volkssturm sich etabliert hatte, wurde geschaut, ob wir was zu essen bekamen. Man schickte uns schließlich nach Hause.

Mutter lief in die Bahnhofstraße, um da noch die Marken für Tabakwaren einzulösen. Auf dem Rückweg, sie hatte die Schillerstraße gerade erreicht – also keine Deckung wie in der Grünauer Straße durch die hohen Kastanienbäume – da fegten zwei sowjetische Jagdbomber IL-2 heran, beschossen Mutter, die sich da mit ihrem schwarzen Mantel deutlich vom Märkischen Sand abhob, flogen sie noch zweimal an – und Mutter konnte keinen Schutz in einem der Gärten bis zu unserem Grundstück finden, die Gartentüren waren verschlossen.

Als die Flieger da anflogen, hatte uns Aurelia, unsere liebe Offiziersfrau aus Litauen, alle versucht, mit den Köpfen in der Küche unter den hochbeinigen Elektroherd zu drücken.

Ich hielt es zu Hause ebenso wenig aus wie andere Kameraden. „Wir fahren nach Potsdam!“ Potsdam? Wir wollten uns freiwillig zur Wehrmacht melden (gerade man vierzehn Jahre alt!). Unsere Mütter sperrten uns im Keller ein. Wir kamen erst wieder an die frische Luft, als draußen die ersten Laken, weiße Fahnen geflaggt waren. Unsere Wut musste verblassen.

In der Nacht – wir hausten ja im Luftschutzkeller – flüsterte der Nachbar hinter uns, dass die Russen eingedrungen wären und schon nach „Uhri, Uhri“ gefragt hätten. Aber immer noch ballerte die Artillerie in Richtung Berlin. Ja nur zu Hause bleiben!

Aus dem Radio kam kein Laut mehr – wir hatten ja keinen Strom mehr. Wir konnten die Meldung, dass der Führer tot sei, nicht empfangen. Unsere Wasserpumpe im vorderen Keller lief auch nicht. Wir hatten Glück, dass unser Vater schon rechtzeitig die versandete Pumpe im Garten noch frei gemacht hatte, dass wir so wenigstens Wasser hatten, wenn auch mit Schwierigkeiten verbunden.

Da kamen zwei Russen in unseren Garten. Sofort scharte Lotte uns Kinder um sich, „Ein Russe tut einem Kind nichts!“ – Vielleicht schützte sie sich damit auch. Doch diese Soldaten, ein Sergeant und ein Gemeiner sahen so sauber aus. Hat man die Kämpfende Truppe abgelöst? Sie baten um Wasser, dann gingen sie wieder.

Wir wagten uns nach und nach auf die Straße, sahen Russen in Richtung Berlin im Gänsemarsch zu Fuß marschieren, da und dort ein schweres MG – das mit Rädern und Schutzschirm – mit sich ziehend.
Parolen schwirrten durch die Luft: da wir ein Lager geplündert, da und da und da. Es wurde immer ruhiger – Das Geschützfeuer verstummte. Ja ungewohnte Stille machte sich breit und dazu das gleißende Sonnenlicht.

Wir hatten Mutter einmal gefragt, was „Krieg“ wäre. Nun erlebten wir einen „Frieden“ – nicht friedlich, eher ängstlich darin, was nun käme. Vater war nicht da. Mutter hatte uns sechs Kinder und sonst nichts mehr. Geld? Woher nehmen? Es gab ja keine Bank, die Geld abgab, es gab auf der Post kein Geld, das es, seit Vater eingezogen war, monatlich zum Leben abgab.

Im Haus wehte nun ein anderer Wind: Die Tiemanns – die Kinder der Vermieterin – waren jetzt „Erzkommunisten“. Und schon sollten wir aus dem Haus raus. Aber wie und wohin? Es gab noch Menschen im Rathaus, die Mutter kannten, wo sie doch beim Roten Kreuz die ankommenden Flüchtlinge betreut hatte. Eine kleine, schwache Hilfe.
Uns wurde ein leerstehendes Haus zugewiesen. Also wurde da erst einmal fleißig geputzt. Und dann nahm man uns das Haus wieder weg.

Das wiederholte sich noch einmal. Beim dritten „Anlauf“ landeten wir in einem Mehrfamilienhaus in der Zeuthener Straße. Mit dem Bauwagen des Maurers Müller in der Schillerstraße bugsierten wir zu Fuß in vielen Fahrten unsere Sachen hinüber, Weglänge zwei Kilometer, Hunger.

Lotte hatte H.-O.‘s NS-Uniform in Schwarz umgefärbt und dann im Mistbeet vergraben, jetzt mussten die Sachen wieder herausgeholt und heimlich unter das Umzugsgut versteckt werden.

Wenn wir das vorher gewusst hätten, dass die Sowjets anordneten, dass alle Bücher, die nach 1933 gedruckt waren, verbrannt werden sollten, dann wären es schon ein paar Fuhren weniger gewesen. Nun schwelte über Tage im Garten in der Zeuthener Straße ein schwergängiger Brand – ohne Zusatz brennt kaum ein Buch. – Wie war das denn 1934??

Langsam kam das Leben wieder in Gang. Schule war für uns „out“ – Vater und Mutter hatten doch den „Bonbon“ getragen. Ich musste mich beim „Arbeitsamt“ melden. Anfangs war ich dabei, wenn es mit dem aus vielen Resten zusammengebastelten Lastwagen zum Lebensmittelholen über Land ging. Und beim Abbau der Bahngleise bis auf eines durfte ich die Kleinteile einsammeln.

Mutter paukte Russisch bei einer Fremdsprachen-Lehrerin. Die Vokabeln fehlten, in der Aussprache war sie bestens. Als wir mal hinaus in den Grünauer Forst zu den dort lagernden Russen gingen, etwas gegen Essbares einzutauschen – Mutter hatte eine Flasche von unserem Odenwälder Blaubeerwein mit einer Flasche Branntwein 75% gemixt und sie den Russen feilgeboten. Sie bekam etwas Fleisch dafür. Aber auch etwas anderes passierte: ein Russe meinte, Mutter käme aus Moskau, was er an ihrer Aussprache erkannt hatte. Wir sind nie wieder zu den Russen gegangen.

Ich trat in eine Lehre ein. Eine Aluminium-Gießerei. Doch war es sehr bald damit zu Ende: ich erkrankte an dem, damals nicht selten, Magen- und Darminfekt. Unser Kleines, Uschichen bekam die Ruhr. Gerade, als Mutter in den Harz zur Oma Müller gefahren war. Bärbel holte die letzten Winzlinge von Kaninchen aus dem Stall, ich tauschte einen Fahrrad-Dynamo bei einem Nachbarjungen für zwei dicke Kartoffeln. Wir haben unser Uschi durchgekriegt.

Mutter kam wieder. Hosianna! Vater lebt! Mutter nähte Rucksäcke. Jedes von uns durfte ein persönliches Teil mitnehmen. Für Vater wurde unbedingt Wäsche mitgenommen. Und Nörli(9) trug in ihrer Schultausche das elektrische Bügeleisen. Auch der große Aluminium-Topf ging mit. Unsere Absetzbewegung begann.

Nur stückchenweise pendelte die S-Bahn wieder. Wir brauchten lange bis nach Berlin-Witzleben. Da ging’s in ein Lager der U.N.N.R.A.
Abschied von Eichwalde, Wehmut und Hoffnung zugleich.
ortwin

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