Mein Vater - Unser Vater (4)


Greifswalder Straße

Es kam der Tag in Jüterbog, wo Vater seinen Platz in der Baracke abgeben musste, also nach Berlin in die Greifswalder Straße versetzt wurde. Wie gesagt, da konnte ich zum „Frisör“ auf Vaters Achtmann-Bude fahren.

Gestern sind Spatz und ich wieder mit der Tram die Greifswalder lang gefahren. Oh, hat sich in den vielen Jahren soo viel verändert – da, wo die „Kaserne“ mal gestanden hat – nicht zu orten.

Egal, einfach war der Dienst für Vater wohl nicht. Ein gutes Verhältnis zu den Kameraden – er saß in der Schreibstube – hatte er. Ein Urlaubsschein für den Bauern aus der Prignitz wurde mit einem kleinen Sack Kartoffeln „belohnt“. Andere Kameraden konnten mal eben schnell nach Hause fahren, ohne, dass es dafür ein Entgelt gab.

Das Schicksal verfolgte Vater aber auf Schritt und Tritt. Ein Sonderauftrag: „Fahren Sie nach Spandau und begleiten die Verhandlung!“. Vater fuhr mit der Aktentasche nach Spandau. Eine Verhandlung vor einem Kriegsgericht. Prozess. Und sofortige Hinrichtung. Vater musste als Zeuge dabei sein! Völlig aufgelöst kam er nach Eichwalde nach Hause. „Was musste dieser Mensch sein Koppel in dem Güterwagen liegen lassen, in dem der sich „bedient“ (geklaut) hatte!“

Wachdienst im Westhafen. Wachhabender. Fliegeralarm. Vater ging mit der Wache und den Beamten in den Keller. „Die Tür muss aufbleiben!“ weil sie nach außen aufging, und Vater logisch dachte, dass ein Treffer sie dann am Ausstieg hindern könnte. Der Treffer kam. Gut, dass die Tür offen war, so konnten sie alle aus den Trümmern ins Freie krabbeln.

Ringsum brannte es. Ein fürchterlicher Geruch: Zuckersäcke brannten, eine schwarze Brühe breitete sich aus. „Ich verstehe das nicht! Dass der Zucker brennt?!“ jammerte ein „Zahlmops“ (uniformierter Verwaltungsbeamter). Vater belehrte ihn, dass bei der Schichtung und Stapelung der brennende Zucker genug Sauerstoff erhielt.

Vater nahm seine freigekommene Wache, und sie stemmten die Lkw’s aus den Garagen hinaus ins Freie. Das bergauf! Was für Kräfte kann man entwickeln, wenn es sein muss.

Vater muss zur Wache nach Tegel. Sondereinsatz! Ein Kinderheim war getroffen. Sie mussten zupacken. Vater trug auch eines der kleinen Kinder ins Freie, es war tot.
Wie Vater von diesem Einsatz nach Hause kam, hat er uns der Reihe nach umarmt und geherzt – das, bevor wir den Grund dazu erfuhren.
Und so gab es für manchen Soldaten da in Berlin oder in anderen von Bomben zerstörten Städten den Antrag oder die Bitte oder den Wunsch, an die Front versetzt zu werden.

Vater musste zum Lehrgang nach Bromberg. Nun wurde er (endlich) Unteroffizier. Vater bekam das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern. Er wurde gleich nach Weihnachten 1944 nach Dänemark versetzt, also weit weg.

Dänemark: eine Scheinwerfer-Stellung sollte bei Gjedser in dem Dünensand eingerichtet werden. Vater zog also mit seinem Trupp in das gut kartografierte Minenfeld da am Nordseestrand. Ihn ereilte das, was anderen Soldaten da auch zum Verhängnis wurde: er traf auf eine Mine „Wer tritt seinem Unteroffizier da in den Arsch? Wem habe ich denn was getan?“

Vater kam ins Lazarett – wir erfuhren, dass er als Einziger des Trupps schwer verwundet überlebte, dass die Anderen alle tot waren - er hatte die Mine ausgelöst - an seinem Wintermantel konnte man noch die ganz feinen Löcher von den Splittern sehen. Vater lag im Lazarett, als die Versetzung an die Ostfront anstand. Das wurde nun nichts. Die Splitter in seinem Gesäß hat man nicht alle herausoperiert. Und die wanderten von Zeit zu Zeit, dass er kaum mehr laufen konnte.

Der Krieg war aus! Jetzt wickelte Vater „seine“ Kompanie zum Rückmarsch ab. Erst kamen sie alle in das natürlich eingegrenzte „Eider-Kanal-Dreieck“ in Schleswig-Holstein. Wer dann in die neue Ostzone nach Hause musste, wurde nicht entlassen, musste zum Minenräumen da bleiben. Alle anderen Soldaten mit westlicher Entlassungsadresse bekamen die Fahrkarte und den Entlassungsschein.

H.-O. schrieb sich seinen Entlassungsschein nach Walsum Kreis Dinslaken zu den Heddenhausens, Vaters Vetter. So kam er weg, kam nicht nach Eichwalde zurück. Eine Postkarte schrieb er zu einer Tante nahe der Zonengrenze, die von dort zu Fuß in den Postumlauf der SBZ, nach Stolberg im Harz zu Oma Henny, seiner Mutter, ging.

Und Lotte, unsere Mutter, fuhr von Eichwalde nach Stolberg, fand dort die Karte vor. Nichts eiliger als das: Kofferpacken und ab nach West-Berlin und von dort aus in den Westen. Wir bekamen in Walsum unseren Vater wieder.

Alles das, was ich hier von unserem Vater schrieb, stammt aus Erlebtem und Erzählungen – manches Mal war ich Zeuge, manches Mal gab Mutter das eine und andere weiter, sehr oft nur mir (ich war doch der Stellvertreter!).
ortwin

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Kommentare (2)

Traute Ja so war es bei denen die in dem ganzen Schlamassel noch Glück hatten. Wenn man das Glück nennen kann, wissen wir beide wie das Unglück ausgesehen hat in diesen Zeiten voller Zorn.
Was zählte da ein Menschenleben offiziell, nichts. In den Familien um so mehr. Wie viel Tränen sind da geweint worden, das sollte mal einer ausrechnen. Ein Salzsee mitten in dem zertrümmerten Deutschland.
es war mir ein Erlebnis, Deine Chronik zu lesen,
mit freundlichen Grüßen,
Traute
henryk September(henryk)


September(henryk)


Lieber Ortwin....danke..fuer dein Schreiben....mit den meinen bescheidenen Blumen...weiter so! Henryk

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