Mein Wald

Ohne ihn wären die Rehe, die Käfer und die Eulen heimatlos. Auch die Wildschweine. Ohne ihn fehlten uns die Türen, die Parkettböden, die Tische und die Kleiderbügel. Ohne ihn hätten wir kein Papier und keine Bücher, keine Papierflieger, kein Klopapier. Ohne ihn gäbe es keinen Waldrand, wir suchten vergeblich nach Bärlauch, Steinpilzen und Heidelbeeren. Ohne ihn fehlte das Holz für die Almhütten, die Kuckucksuhren, die Ruderboote und die Stubentische. Die Sommer wären heißer, die Winter eisiger und die Stürme heftiger. Das Wasser wäre schmutzig und die Luft schlechter. Der Kamin bliebe kalt und erholsame Spaziergänge fielen aus.
Ich habe eine Anleihe bei John Carlson, dem Landschaftsmaler, gemacht. Er schrieb einmal, dass ein ganzes Leben nicht ausreichen würde, um das Wesen der Bäume zu ergründen. Das habe ich mir zu Herzen genommen. Seither mache ich mich mit Bäumen vertraut, mit ihrer Natur, ihrem Wachstum, ihrer Bewegung. Begreife sie als lebendige Wesen mit Sehnsüchten, die den meinen nicht unähnlich sind. Ich wandere durch Wälder und erlebe die Persönlichkeiten der Bäume. Dort stehen sie schweigend und würdevoll, doch niemals unfreundlich. Und oft ist mir dann, als würden sie mit dunkler Stimme zu mir sprechen.

Es gab eine Zeit, da war ich empfindungslos. Der Wald war für mich nichts weiter als viele Bäume. Ein guter Bestand ließ sich in Kosten/Nutzen erfassen und allenfalls noch für die Jagd nutzen.

Seit ich ins Leben zurückgefunden habe, ist mir der Wald ein Asyl des Friedens, der tanzenden Schatten, des sonnengefleckten Grüns. Wie trotzige Wächter scheinen die verwitterten Stämme, deren ausladende Äste sich in vornehmem Bogen neigen. Tönende Stille schwebt in der Luft. Hunderte kleiner Augenpaare leuchten im Verborgenen, feine Ohren sind aufgetan, um die Absicht des Eindringlings zu verspüren. Ich bin nicht tiefer als eine Handbreit in die Geheimnisse der Natur eingedrungen. Gebe mich damit zufrieden, dass ich den Apfelbaum habe, dass er schön ist, und mir seine Früchte spendet, dass ich die Fichte habe, die mir Schatten schenkt und dass dieselbe Feuchtigkeit, die in dieselbe Erde sickert, Zapfen aus der Fichte treibt und Äpfel aus dem Apfelbaum.

Seltsam wie meine Beziehung zum Baum sich änderte, als ich erst einmal seinen Wert und seine Würde als lebendiges Wesen erfasst hatte. Bäume sind Persönlichkeiten, die in ihrer Art über eine unendliche Fülle des Ausdrucks verfügen, sodass sie meinem Auge heroisch erscheinen mögen, oder komisch, oder tragisch.
Der Baum bedrängt selten oder nie die Freiheit eines anderen Baumes. Er scheint zu erfühlen, dass seine Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt. Niemals vergeudet er sein Wachstum nutzlos. Dreht und wendet er sich, so geschehen diese Drehungen und Wendungen in engem Zusammenhang, ja in Übereinstimmung mit denen seines Nachbarn und führen zu jenem Rhythmus, jenem Fließen verwandter Linien, die dem Walde eigen sind.

Nehmen wir uns ein Beispiel.

© story by ferdinand 
© photo by ferdinand


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Kommentare (5)

Roxanna

Buddha hat gesagt:

"Der Wald ist ein besonderes Wesen, von unbeschränkter Güte und Zuneigung, das keine Forderungen stellt und großzügig die Erzeugnisse seines Lebenswerks weitergibt; allen Geschöpfen bietet er Schutz und spendet Schatten selbst dem Holzfäller, der ihn zerstört.

Nicht umsonst, Ferdinand hat der Mensch den Wald wieder entdeckt und bezeichnet neuerdings den Aufenthalt dort als "waldbaden". Schon immer haben Menschen im Wald Kraft geschöpft, weil der Wald ein Kraftort ist.

Lieben Gruß
Brigitte

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Rosi65

Hallo Ferdinand,
ein Wald liegt ganz in der Nähe unseres Lauftreffs. Wir, eine kleine Walkinggruppe, planen unsere Laufstrecke oft so, dass wir dieser ruhigen Oase einen Besuch abstatten können.

Dabei spürt man sofort ein wunderbares Gefühl des Vertrauens und der Geborgenheit. Ob es an dem großzügigen Laubschirm liegt, den der Wald hoch über unseren Köpfen aufgespannt hat? Oder ist es die unendliche Stille, die nur manchmal von einem geheimnisvollen Rascheln im Gebüsch unterbrochen wird? Vielleicht ist es auch die plötzliche Einsamkeit, die wir Stadtmenschen ja gar nicht gewohnt sind, denn man sieht nur wenige Spaziergänger auf unserem Weg.

Und gerade deshalb lieben wir unser „Grünes Fitness-Center“ wohl so sehr.💚

Herzliche Grüße
   Rosi65

Manfred36

Der Wald, sich selbst belassen, ist ein Organismus. Wir werden nie einer sein. 

Ernu

Das Wesentliche fehlt in deiner Aufzählung: Der Wald – jeder Baum – lässt uns atmen ;-)

Steff.m

Sehr schön, Eisenwein.
Waldbaden mit Menschen, die Bäume, Farne, Moose, dunkle kleine, von Weiden gesäumte Teiche und Tiere in frühen Morgenstunden von einer Kanzel beobachten. 
Stille, nur Tierlaute oder die gegenseitigen Mitteilungen der Bäume, wenn sich Fressfeinde einstellen, das ist Leben. 


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