Midsommar 2000

Autor: ehemaliges Mitglied

Lasse war eigentlich Musiker, auch wenn er seinen Lebensunterhalt mit dem Zusammenfügen von Blechen bestreiten musste. Aber er war Musiker, hatte in einer Tanzband Bass und Gitarre gespielt und war bis nach Deutschland gekommen. Seine Hände waren, entweder durch sein Gitarrespiel oder durch die schwere Arbeit, zu Schraubstöcken geworden. Dies bewies er gerne bei allen Gelegenheiten und Bilen konnte sich nicht erinnern, jemals so kräftige Hände gefühlt zu haben wie die von Lasse. Dabei war dieser ein Strich in der Landschaft, lang, dünn, haarlos und schweigsam. Aber wenn er von dem Selbst gebrannten getrunken hatte, dann war Lasse nicht zu halten. Er geisterte, gleich Murnau's Nosferatu, mit angewinkelten, erhobenen Armen durch das Festzelt, die Finger weit gespreizt und suchte Opfer. Dabei lag ein seliges Lächeln auf seinen Zügen.
 
Im höchsten Fest dieses Landes, dann, wenn für den langen Winter eine Kuh von der Weide geholt werden muss (denn welch normaler Mensch will schon sechs Monate allein zu Bette gehen?), oder wenn die Frau eines ach zu trägen Gatten überdrüssig ist; dann ist Mittsommer. Tage vorher wird der Festplatz gerichtet, ein Tanzboden wird aufgebaut und die Organisatoren zerbrechen sich den Kopf über Programm und Ablauf.
Obwohl kein offizieller Feiertag, so arbeitet an diesem Tag niemand. Morgens schon wird der Baum geschmückt, eine Art Maibaum mit Querstange welcher mit bunten Blumen umwickelt wird. An den Enden der Querstange hängen Symbole, Kränze meistens. Dann wird der Mast, und in der Tat erinnert er eher an den Mast eines Schiffes, aufgerichtet. Eine Animateure fordert alle auf, um den Mast (Baum?) einen Kreis zu bilden und dann wird von groß und klein ein Reigen mit Gesang aufgeführt, immer intoniert von der Animateure.
Volkstümliche Lieder werden gesungen, bis dann alle gegen Mittag, erschöpft von den unendlichen Polonäsen, ihre Decken auf dem Rasen ausbreiten und vom Mitgebrachten sich stärken.
Lasse hatte sich auch gestärkt, aber seine flüssige Nahrung war mit sehr viel Alkohol gemischt, weshalb er jetzt Bilen umarmte, ihn mit seinem Stoppelbart zu küssen versuchte und selig war. Dabei hatten Lasse und Bilen sonst keine gemeinsamen Berührungspunkte. Nur die Tatsache, dass beide in der gleichen Firma waren reichte aus, dass Lasse in Bilen sein Opfer fand. Er sprudelte fröhlich los, in seiner Sprache die Bilen nicht verstand. Bilen antwortete auf Englisch die Lasse nicht verstand, und dann wurde gemeinsam ein weiteres Opfer gesucht welches übersetzen sollte. Die meisten der anwesenden Gäste im Festzelt, winkten ab. Weniger dass sie nicht konnten, als vielmehr weil sie nicht wollten. Wer will auch schon stundenlang für einen Betrunkenen und einen, sowieso der Bäuche und Sitten nicht mächtigen, Fremden den Übersetzer spielen?
 
So blieb, nach einiger Zeit des misstrauischen Hinhörens, man weiß ja nie ob es nicht eine Beleidigung war  was der Eine oder der Andere sagt -, Bilen allein an dem Tisch sitzen während Lasse sich ein neues Opfer suchte, eines welches zum mindestens der Sprache mächtig war. Der Sprache welche die letzte Silbe betont und nicht hauptsächlich die erste was schon beweist, dass trotz gemeinsamer Sprachwurzel, die Landessprache die melodischer war.
 
Das Zelt füllte sich langsam. Bilen wurde durch neugierige Zugänge, welche aber allesamt die Sprachbarriere nicht überwanden, als auch durch die sich entfernenden Gäste, langsam auf der Sitzbank an das Ende gerückt. Eine hübsche, junge Frau setzte sich Bilen gegenüber auf die Bank und begann ein Gespräch mit ihm. Wie er schnell heraushörte, sprach sie mit stark amerikanischem Akzent. Auf seine Frage bestätigte sie, dass sie einige Jahre in Chicago gelebt, jetzt aber wieder in ihrer Heimat leben würde. Bilen hörte gerne fremden Sprachen zu und versuchte die Melodik zu entdecken welche jede Sprache, mehr oder weniger, auszeichnet. Er hatte aber immer Schwierigkeiten mit schrillem Englisch. Als er ihr sagte, dass er mit der Donald Duck Sprache nicht klarkomme, war er schnell wieder allein auf der Bank. Dort saß er und beschränkte sich auf das Beste, was er konnte -, er beobachtete und analysierte Gäste und Situationen.
Der junge, aber vollends betrunkene Mann, welcher ihm gegenüber saß, hatte offensichtlich Streit mit seiner Braut bekommen. Trunken knallte er von der Bank, blieb liegen und rührte sich nicht mehr. Bilen hatte die Befürchtung, dass er sich ernstlich verletzt haben könne und beobachtete die anderen Gäste. Doch niemand rührte auch nur einen Finger, und in der Tat rappelte der junge Mann sich nach einiger Zeit wieder auf. Bilen hielt sein Bierglas fest, um nicht den teuren Alkohol zu verschwenden. Der Jüngling steckte seinen Ringfinger in den Mund und Bilen wollte schon aufspringen um nicht die volle Ladung aus Magensaft und Pizza einzufangen, als der Junge den Finger wieder aus dem Mund nahm und heftig an seinem Verlobungsring zu zerren begann.
Er hielt seinen Ringfinger in die Höhe und in Verbindung mit Schleim und nachlassendem Blutdruck, konnte er sich den Ring vom Finger reißen. Er knallte den Ring vor Bilen auf den Tisch, dass die Gläser hüpften und drehte sich von der Holzbank. Bilen hatte natürlich nichts mit dem Streit zu tun, aber der Junge hatte wohl instinktiv gespürt, dass Bilen trotz aller getrunkenen Biere, noch immer den Überblick behalten hatte und deshalb auf den Ring aufpassen würde welchen er so verachtungsvoll auf den Tisch geknallt hatte. Heftige Worte ausstoßend, da brauchte Bilen keinen Übersetzer, stolperte er aus dem Zelt.
Eine junge Frau, die Hände vor den Mund geschlagen, nahm nach Abklingen der Schreckminute, den Ring und brachte ihn zu einem weißblonden Mädchen. Die hörte erschrocken den Erklärungen zu und rannte aus dem Zelt. Bilen hörte später, dass sie den Clanchef (ihren Onkel) flehentlich bat, ihrem zornigen Exverlobten doch den Marsch zu blasen. Bilen kannte den Mann und war sicher, dass dieser die Geschichte ins Reine bringen würde.
Er hatte genug, sein letztes Bier würde er nicht mehr austrinken und spendete es seinem Banknachbarn welcher sich lallend bedankte. Da den teuren Alkohol niemand trinken wollte, wurde sich im Zelt ein Vorzeigebier bestellt, ansonsten lieferten die unzähligen Taschen den selbst gebrannten Schnaps, welcher sehr schnell die Zecher ins Wanken brachte.
Bilen schob, leicht angetrunken von dannen, durch die helle, längste Nacht des Jahres.
 


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