Morning has broken


Als sie an die Kasse trippelte mit ihrer fahrbaren Gehhilfe, war es noch früh am Morgen. Sie stand mit ihrem Wägelchen vor mir und schien ein wenig tüttelig. Die grauen Haare waren unordentlich hochgesteckt, die dicken Socken in den Hauspantinen glichen einer Ziehharmonika, aber sie hatte einen schönen Mantel an. Ihre faltigen Hände suchten tapsig nach dem Kleingeld im Geldbeutel, die knotigen Finger schafften es jedoch nicht, die Münzen herauszufischen. Ratlos reichte sie der jungen Frau an der Kasse ihr Portemonnaie.

Frau Martin, das Brot, die Milch, Mohnkuchen und Tee machen 4 Euro 80, aber hier sind nur 3 Euro 42 drin.“ „Was haben Sie gesagt?“ In diesem Moment trat ich dicht heran, schob der Kassiererin fünf Euro zu, legte den Zeigefinger an meinen Mund und bedeutete ihr, nichts weiter zu sagen. Die Alte war noch dabei, die Päckchen zittrig vorne im Netz ihres Wagens zu verstauen, als ich das Restgeld in ihr Portemonnaie steckte, es verschloss und ihr übergab. Die Kassiererin rief zu ihr hinüber: „Alles in Ordnung, Frau Martin. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

In dem Augenblick, in dem ich in der Halle noch einmal den Einkaufszettel meiner Frau mit dem Inhalt meines Einkaufswagens abglich, eilte meine Tochter auf mich zu. Während wir gemeinsam den beladenen Wagen an der kleinen Person vorbei schoben, kam mir eine Idee.

„Wie wär’s“, sagte ich zu meiner Tochter, „möchtest Du nicht heute, einen Tag vor Weihnachten, Frau Martin Deine Hilfe anbieten, egal was.“ „Für drei Stunden 15 Euro, was hältst Du davon?“ Sie rechnete und wollte wohl noch verhandeln, doch ich kam ihr zuvor: „Mit An- und Abfahrtszeit 20 Euro, weil morgen Weihnachten ist, o.k.?“ Sie überlegte noch ein wenig. „O.k. Papa. Aber wenn es mich ätzt, holst Du mich sofort ab. Lass Dein Handy an, damit ich Dich erreichen kann.“ „Einverstanden!“ sagte ich. „Das ist ein fairer Deal“. Dann ging sie langsam hinüber zu der alten Frau. Obwohl mein Anliegen von ihrer Seite sicher flott durchkalkuliert worden war, schlich sich ein wenig Stolz in meine Vaterseele. Ich beobachtete, ob sich die Alte wohl auf das Hilfsangebot einließe. Als ich sah, wie sie zu ihr hoch schaute und sie anlächelte und wie beide einträchtig nebeneinander hergingen, fuhr ich los.

Im Autoradio sang Cat Stevens „Morning has broken“, diese bekannte Textversion eines alten gälischen Weihnachtsliedes. Ich sang laut mit und versuchte, das Motorengeräusch meines klapprigen Opel dabei zu übertönen.

Zuhause angekommen, erzählte ich meiner Frau die Geschichte und legte das Handy in Reichweite. Als drei Stunden später wie verabredet, aber erstaunlicherweise nicht früher, das Telefon klingelte, hatten wir gerade den Tisch für das Mittagessen gedeckt. „Papa, hol uns ab in der Seestraße 40 bei Matin, Erdgeschoß. Den Namen hatte sie ausgesprochen wie den französischen Morgen, und sie hatte „uns“ gesagt. Bevor ich die Haustür schloss, rief ich meiner Frau zu: „Wir bringen vielleicht noch einen Gast mit.“

Als ich eine Viertelstunde später in einem unscheinbaren Zweifamilienhaus klingelte, öffnete meine Tochter lächelnd die Tür. Ich trat ein und war überrascht. Vor mir tat sich ein heller Raum auf. Von der Diele aus blickte ich am anderen Ende des Wohnzimmers durch ein Fenster auf einen Garten mit einer großen Rasenfläche, der mit einer Birkenreihe abschloss. In der Mitte des Raumes stand ein großer schwarzer glänzender Flügel. Ich trat ein paar Schritte näher. Die alte Dame war elegant gekleidet in einem lorbeergrünen Samtkleid, mit dünnen Strümpfen an den Beinen und dunklen Wildlederpumps an den Füßen, die Haare zu einem hübschen Knoten hochgesteckt, das Zauberwerk meiner Tochter. Und diese äußere Verwandlung verlieh der Frau eine Würde, die sie sicher einmal ausgestrahlt hatte.

„Papa, Frau Matin war früher Sängerin. Ihr Mann war Charles Matin, ein französischer Jazzpianist. Er hat sogar für sie komponiert, und sie hat Texte geschrieben. Ich habe ihr beim Ankleiden geholfen. Sie ist 94. Sonst kommt jeden Tag eine Frau, aber die ist über die Feiertage weggefahren.“

Ich wollte ihre Begeisterung nicht unterbrechen und schaute mich daher ein wenig um. Auf den Bildern in Silberrahmen seitlich an der Wand erkannte ich die alte Dame als junge Frau hinter einem Mikrofon vor einer Jazzband in einem langen schwarzen Kleid mit der gleichen Silberbrosche in Form einer gebogenen Feder, die sie auch heute trug.

Ich blickte hinüber zu der Dame, die ich mit der Alten am frühen Vormittag nicht mehr in Einklang bringen konnte. Meine Tochter plapperte aufgeregt weiter: „Frau Matin hat mir angeboten, dass ich einmal in der Woche zu ihr kommen kann. Ihr Flügel klingt tausendmal schöner als mein Klimperkasten zuhause. Sie lässt ihn immer noch stimmen, obwohl sie selbst nicht mehr spielen kann.“ Madame Matin saß auf ihrer Chaiselongue. Sie nickte freundlich, und ein Lächeln ruhte auf ihrem Gesicht.

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Kommentare (8)

horsti Hallo franziska
Eine sehr schöne Geschichte. Beim Lesen sieht man es deutlich vor Augen ))))
Lieben Gruß, horsti
pharaox hast mir mit Deiner Geschichte sehr viel Freude bereitet, mach weiter so, Du kannst es im Gegensatz zu vielen anderen die es können wollen!
Herzlichen Gruß
pharaox
uki trotzdem möchte ich mich noch begeistert anschließen.
Liebe Grüße von uki
ika1 durch zufall hat mich auf dich aufmerksam gemacht.
Und ich bin ncht enttäuscht worden.
Eine sehr schöne Geschichte.
Liebe Grüße Ika
Medea Ich wußte es ja schon lange, Joan, Du bist zum Schreiben geboren.
Was für eine positive Erzählung, paßt nicht nur zu Weihnachten.

Herzlichen Gruß von Medea.
malachit Vielen Dank für Dein schreiben... ich bin begeistert.. Bravo
Es grüßt Dich Helga
ehemaliges Mitglied du schreibst so schön, ich wünschte ich könnte es dir nachmachen.
Es ist sehr realistisch und ansprechend geschrieben. Super

Hartmut
joan Du kanst schreiben.Es macht Spass,Deine Texte zu lesen-vm ersten Satz an..JOAN

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