Musikbegabung oder mehr?



Die Geschichte Josefine ist anders von Maslina brachte mir die eigenen Erfahrungen als Kind und mit meiner Tochter wieder nahe. Während mein fast fünf Jahre älterer Sohn ein sehr ruhiges Baby war, das so gut wie nie schrie, auch nicht, wenn er erst um zehn Uhr sein Fläschchen statt um sechs Uhr früh bekam! Seine Besonderheit war sehr frühes Laufen mit sechs Monaten - aber er krabbelte nie, typisch für legasthene Kinder - und im Alter von zehn Monaten konnte er bereits ganze korrekte Sätze zu sprechen.

Unsere Tochter war rebellischer, meldete sich durchaus mit Geschrei, wenn etwas nicht nach ihrem Sinn geschah. Dafür lief sie erst sehr spät (mit 18 Monaten, doch auch sie krabbelte nicht), beobachtete alles regelrecht überlange und erklärte mir mit zwei Jahren, als ich ihre „faule Aussprache“ korrigierte, sehr klar: „Ich weiß doch, dass das Wasserpistole heißt!“, um sofort danach wieder zu krähen: „Tole ham!“ Der große Bruder gab ihr dann seine Wasserpistole.

Selber lernte ich ab meinem sechsten Lebensjahr Klavier spielen, genau wie meine Schwestern. Unser Vater hörte es in seinem Salon, ob und wer von uns übte. Schließlich lag die Wohnung im 1. Stock genau über dem Salon.

So lästig ich es auch als Kind fand, täglich eine Stunde zu üben, als ich selber Kinder hatte, lernte meine Tochter als Vorschulkind die Flöte spielen. Jedes Kinderlied, das sie als Übung aufbekam, spielte sie – da die Bedeutung der Noten nicht erklärt wurden – Ton für Ton in der Folge vom Blatt ab, ohne dass die genannte Melodie erkennbar wurde.

Das verstand ich nun so gar nicht! Ich spielte ihr auf ihrer Flöte das Liedchen vor und nur nach der ein- oder zweimal gehörten Melodie spielte sie es nach Gehör korrekt nach und freute sich, die Melodie „auf die Reihe“ zu bekommen. Der Erfolg war ihr dann im Unterricht sicher: sie kam jedes Mal mit einer Eins für ihr Spiel nach Hause!

Ich weiß nicht, welches Talent da in ihr steckte. Ob es das „absolute Gehör“ war oder ihre anderen Wahrnehmungen durch die legasthenen Begabungen – schließlich wusste ich, dass von einem Onkel ihres Papas bekannt war, das absolute Gehör zu besitzen. Von Legasthenie wusste ich zu der Zeit kaum etwas, außer, dass die Grundschullehrerin ihn als faul und dumm hinstellte. Zu der Zeit hielt er es für unnötig, sich in  den Schulbüchern etwas zu erlesen, denn das fiel ihm sehr schwer. Er hörte zu und vergaß nicht die kleinste Kleinigkeit! Aber zur Konzentration legte er seinen Kopf auf die Arme - er schien zu schlafen ...!, beschwerte sich die Lehrerin.

Für meine Tochter gab es in Musik keine schulischen Probleme. Es dauerte auch nicht lange, dass sie sich an mein Klavier setzte und dort Melodien nachspielte. Als Teenager wünschte sie sich eine Gitarre, auf der sie bald ihr Lieblingsmelodien nachspielte. Ein Keyboard folgte. Und in ihrer Ausbildungszeit in einem Internat in Hannover wurde sie recht schnell als Keyboarderin in die Lehrer-Band aufgenommen, die auch öffentlich auftrat …

Fast schmerzt es mich etwas, dass mein Vater, Violinist und Pianist mit Konzertreife, es nicht mehr erleben durfte, was seine Enkeltochter sich autodidaktisch – wie er auch – aneignete. Wenn ich heute darüber nachdenke, was meine Kleine so alles gelernt und ausgereift sowohl beruflich als auch pädagogisch für betroffene Lego-Kids erarbeitet hat, frage ich mich doch, wie es sein kann, dass man (auch weibliche) legasthene Menschen als dumm und nicht lernfähig zurückstößt. Ich freue mich heute schon darauf, irgendwann festzustellen, wie ihr Sohnemann, mein Enkel, sein Leben meistert. Gestern erbat sie sich von mir ein Klaviernotenheft mit Mozart-Stücken für den Musik-Unterricht unseres Viertklässlers …

 

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Kommentare (2)

Tulpenbluete13

Liebe Uschi,

es ist bekannt daß gerade Legastheniker oft eine herausragende Begabung auf einem "anderen" Gebiet haben und daß sie vor allem ganz liebe emphatische Menschen sind....und ansonsten genau wie alle anderen Menschen mit einer "kleinen" Schwäche...

meint aus Erfahrung (bereits in der 3. Generation)
zum Sonntag grüßend
Angelika

nnamttor44

@Tulpenbluete13  
Liebe Angelika, auch bei uns muss diese Begabung wohl mindestens in der 3. Generation vererbt worden sein. Ich selber bin nicht betroffen, aber meine beiden Kinder und nun mein Enkel.

Wenn ich nach all dem, was meine Tochter in ihrem Studium zur Diploma für Legasthenie- und Dyskalkulie-Trainerin erfahren hat, kann ich weder meinen Vater noch die Familie meiner Mutter ausschließen. Es tauchen so viele Besonderheiten, Begabungen auf, die ich zuordnen kann.

Zu ihren Kinderzeiten wusste man so gut wie nichts über dieses Thema oder man vertuschte, dass man annahm, eins oder mehrere der Kinder seien zu dumm zu lernen. Meinem Patenonkel erging es so, dann aber machte sein Ältester sein Abitur und studierte Kunst und Architektur ... und alle ließen die Kinnlade herunterfallen!

Den Lehrmeistern meiner Tochter sowie meines Sohnes erging es ähnlich. Dabei wollten zuvor die Lehrer jeweils beide als nicht fähig hinstellen, auch nur die Realschule besuchen zu können.

Nun bin ich gespannt, wie es meinem Enkel ergehen wird. Er muss bzw darf sich jetzt für den weiteren Schulweg entscheiden.  

Ich freue mich, dass Du kommentiert hast!

Uschi


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