Mutige Veranlagung oder Leichtsinn???


Mutige Veranlagung oder Leichtsinn???

Grad las ich von Songeur einen sehr interessanten, mit vielen Fotos bestückten Wander-Bericht über einen recht abenteuerlichen Wanderweg in Belgien. Danke dafür, Hubert. Das rief mir doch umgehend einen Nur-Spaziergang in der Nähe der uns zur Verfügung stehenden Hütte in Brilon-Wald in Erinnerung, den mein zukünftiger Mann seinen Gästen – damals meinen Eltern – zumutete!

Sein Reden ließ erkennen, dass er doch sooo stolz war, diesen steilen Pfad nicht nur an diesem Tag sturzfrei bewältigte, sondern sich noch darüber freute, wie fast verzweifelt sich seine älteren Gäste, meine Eltern mit 54 bzw. 41 Jahren, als absolute Flachland-Tiroler mit mehreren Rutschern auf dem feuchten Waldboden und ziemlich steil ansteigendem Aufstieg von einem „ordentlichen“ Waldweg zum nächsten hoch hangelten.

Er verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, dass es ein Sonntagsausflug war, wir alle gute Klamotten anhatten, mit denen meine Eltern garantiert keine Rutschpartie auf den Knien oder dem Hosenboden machen wollten.

Heute verstehe ich diese Tour überhaupt nicht mehr, denn inzwischen weiß ich, dass mein Göga – im Gegensatz zu mir – ein überaus ängstlicher Mensch war! Den Aufstieg auf den Aussichtsturm „Hermannsturm“ auf dem Dörenberg im Teutoburger Wald machte er Jahren später, schon als Familienvater, nur einmal auf meinen und dem Wunsch mit – unseren Kindern (bzw. sich selbst) zuliebe, um sie nicht von seiner eigenen Ängstlichkeit wissen zu lassen.

Im Verlauf ihres Erwachsenwerdens haben sie es dennoch erspürt. Nicht nur einmal bekam ich in den vergangenen zehn Jahren von meiner Tochter zu hören, wovor ihr Vater ständig Angst gehabt habe ... Ich muss es wohl immer einfach überhört haben, denn darauf eigegangen oder dagegen protestiert habe ich nie.

Doch! Einmal gab es dazu ein wenig Streit: Der Urlaub mit unseren Kindern in Österreich - zehn Jahre nach unserer Heirat - ließ uns auch einen Berg hochkraxeln. Doch ein Geröllfeld zu überqueren, das wusste ich aus meiner Kinderzeit, war tatsächlich gefährlich. Käme man dort ins Rutschen, könnte es sein, dass die Kinder oder auch wir mit dem rutschenden Gestein nirgends mehr Halt fänden - mit ungeahnten Folgen! In der Nähe gab es die Möglichkeit, eine Seilbahn zu nutzen. Doch die zu besteigen, war meinem A....-Hasen zu gefährlich! Da während der Fahrt hinunter "ins Bodenlose" sehen zu können, gefiel dem Vater meiner Kinder gar nicht. Seine Höhenangst (?) ließ ihn bei dieser Vorstellung schon ins Schwitzen geraten. Unverständnis bei mir, denn er erklärte sich nicht, und große Enttäuschung bei den Kindern ...

Danach sind wir nie wieder in die Alpen gefahren. Die hohen, felsigen Berggipfel machten ihm Unwohlsein.  Dass es mir 2003 - da waren wir längst über 60 Jahre alt - gelang, endlich einmal mit dem Flugzeug in einen Urlaub zu fliegen, hat Jahre an Überredungskunst gebraucht. Erst die Tatsache, dass die Optica nicht mehr in Köln sondern in München stattfand, die Anfahrt der Geschäftsleute mit Zug oder Pkw ihnen zu lange dauerte, ließ ihn zähneknirschend mit dem Kollegen und mir als seine "Beschützerin" das befohlene Flugzeug nutzen. Dieses Erlebnis half mir bei meinem Wunsch auf Urlaub am Mittelmeer. Gewundert hab ich mich nie darüber, warum ich stets im Flieger einen Fensterplatz, den ich sehr genoss, nehmen durfte.

Die Erzählungen anderer über so schöne Urlaube auf den kanarischen Inseln weckten auch in mir Fernweh. Erst war mein Göga einverstanden, beispielsweise nach Teneriffa oder Gran Canaria zu fliegen. Dann aber sahen wir einen TV-Bericht über einen Vulkanausbruch auf einer Atlantikinsel - es kam sein Ausspruch, auf so eine Vulkaninsel würde er nie fahren! Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm zu erklären, dass all diese Inseln - auch im Mittelmeer - vulkanischen Ursprungs oder durch Erdverschiebungen entstanden seien. Oh, oh! Gibt es etwa auch an der Nordseeküste Tsunamies?? Klar! Ich musste ihn einfach veräppeln, hatte ich doch gerade das Buch Der Schwarm von Frank Schätzing gelesen. Obwohl - ganz unwahrscheinlich ist auch das nicht!

Mich konnte er mit all seinen Jugenderlebnissen im Briloner Wald nicht schocken oder gar schrecken. Mir gefielen solche Erlebnisse, wenn ich sie meistern durfte, sie dann geschafft hatte.

Ich glaube, von so manchem Kindheits- oder Jugenderlebnis hätte meine Familie auch nichts wissen dürfen, die waren manchmal ganz schön riskant! In die Bäume in der Promenade zu klettern, zwei Meter hohe Mauern zu bezwingen und davon wieder hinunterzuspringen oder gar mit dem Schlitten schon als Grundschülerin auf der „Todesbahn“ der Promenade auf den benachbarten zugefrorenen Teich „mit Karacho“ zu springen, obwohl ein fast meterbreiter Wassersaum zu überwinden war, in den keiner fallen wollte – all diese Dinge reizten mich von klein auf. Hätte mein Vater gewusst, wie oft und gern ich freihändig Fahrrad fuhr, er hätte mir das Fahrrad genommen!! Von Haus aus wurde immer ein etepetete-Benehmen erwartet. War so gar nicht mein Ding ...

Schiffschaukel zu „fahren“ auf dem Send war lange dort mein Lieblingsunternehmen, bis ich nach viel Schaukelei es dann doch einmal riskierte, mit meinem Schiffchen die ganze Runde – kopfüber – zu machen. Da endlich begriff ich, warum das kaum jemand machte: Ganz oben kopfüber „stehen“ zu bleiben, bis sich das Schiffchen wieder dazu bewegen ließ, weiter gen Boden in die Runde und wieder nach unten zu schwingen, ließ mich doch erkennen, dass „da oben“ nun die Kraft in meinen Händen, Armen und Schultern mich festzuhalten hatte, die Beine gleichzeitig meinen Körper fast auch noch gen Boden drückten. Doch noch ehe ich tatsächlich Angst empfand, schaukelte das Schiffchen wieder hinunter – puh, war ich froh!! Dass ich ein Gefühl von "Pudding" in meinen Knien hatte, vergaß ich allerdings recht schnell wieder.

Jedenfalls führte dieser „Briloner Spaziergang“ bzw. diese Kletter-Rutsch-Partie in den Bergen des Briloner Waldes dazu, dass meine Eltern nie wieder mit uns ins Sauerland fuhren. Irgendwann nahmen wir dann meinen Zukünftigen mit auf die Insel Spiekeroog. An der See war er noch nie gewesen. Aber er hatte ja seinen DLRG-Rettungsschwimmer-Schein gemacht. Da war dem fast 22-Jährigen das Planschen in der Brandung zu unmännlich, zu kindisch. Also traute er sich, bei ablandigem Wasser, beginnender Ebbe,  die ihm kurz vorkommende Strecke zur Nachbarinsel, die Tiderinne, zu durchschwimmen: mach ich doch mit links! Es dauerte geschlagene drei Stunden, bis er wieder zu uns zum Strandkorb geschlichen kam, sichtlich total erschöpft! Irgendwann gestand er mir, dass er halt nicht wusste, dass die Strömung zwischen den Inseln ihn fast ins offene Meer gezogen hätte … Der angepeilte rettende Strand entfernte sich ihm eine Zeit lang immer weiter!.

Im Februar 1980 begannen wir, unser eigenes Haus zu bauen, das Mitte August fast bezugsfertig war. Zu der Zeit hörten wir immer mal wieder, das von Baustellen viel Material gestohlen wurde. Unserer zukünftigen Bleibe fehlte noch die Haustür. Aber sich so kurz vor dem vollendeten Hausbau Teile aus dem Haus stehlen zu lassen, wollte mein Mann sich nicht bieten lassen. Also beschloss er, dort zu übernachten. Allerdings war ihm die hölzerne Verschlagstür nicht so sicher. Wie er unseren damals 14-jährigen Sohn überredete, habe ich nicht mitbekommen. Doch unseren Sohn reizte das "kleine Abenteuer", mit dem Papa schon mal eine Nacht im neuen Zuhause zu schlafen. Zum Schutz nahm mein Göga obendrein seine kleine Pistole mit. Einen Waffenschein dafür hatte er ja. Aber sich zu überlegen, dass so eine Waffe eher keinen Schutz bot, sondern eher eine Gefahr für ihn und seinen Sohn darstellte, der Gedanke kam ihm erst gar nicht!

Glücklicherweise kam in dieser Nacht niemand, von dem Gefahr drohte. Mir verursachte der Gedanke, dass sich mein Mann Schutz von unserem damals 14-Jährigen im Fall der Fälle erhoffte, so manches Mal Grübelei, auch Empörung ...

Wenn ich mir heute all diese Erlebnisse durch den Kopf gehen lasse, kann ich feststellen, dass mein Sohn eher der fehlenden Abenteuerlust seines Vaters folgt, meine Tochter doch tatsächlich meinem Erlebnishunger folgt. Eine Fahrt mit der Achterbahn oder einem „wilden Karussell“ machte sie gern mit mir. Sohn und Vater blieben lieber wartend stehen.

Die legasthenen Wahrnehmungen meines Enkels lassen in seinem Kopf nur bekannte Abenteuer blitzschnell zu. Schon als Kleinkind fuhr er nur einmal in einem hörbar ratterndem Kleinkinderkarussell mit. Danach wollte er dort nie wieder einsteigen. Er erklärte, das Karussell sei ja defekt! 

Roller fahren war lange keine Option für den Kleinen, zum Fahrradfahren lernen mussten wir ihn fast zwingen. Wenn wir heute sehen, wie er (9) viel zu vorsichtig Rollschuh fährt, eher darauf nur geht, dagegen der drei Jahre jüngere Sohn (6) einer Freundin aber schon gut Rollschuh fährt, zeigt sich der Unterschied fast dramatisch. Aber Quadfahren erschien ihm schon früh beherrschbar, das genießt der inzwischen Neunjährige seit vier Jahren wie ein Alter! So ein wenig scheinen ihn diverse Erlebnisse schon zu reizen, aber so, wie ihm im Kopf seine Wahrnehmungsfilmchen keine akzeptablen Geschehnisse vorspielen können, verweigert er jeden Versuch.

Könnte es sein, dass sein Opa, mein Mann, auch so gewisse legasthene, andere Wahrnehmungen kannte? Bringt mir die Überlegung nahe, dass die Legasthenie nicht nur das Lesen und Schreiben lernen sooo stark behindern kann, da ich inzwischen so einiges darüber erfahren habe. Durch das Studium meiner Tochter für ihren Sohn zur Diploma-Legasthenie-Trainerin weiß ich inzwischen, dass da sehr viel mehr "andere Wahrnehmungen" betroffen sein können, als nur lesen, schreiben: visuelle, akustische, sereale, die Ordnung, die Lust zur Bewegung im Sinne von Sport, Empathie und Hilfsbereitschaft, oder noch eine ganze Reihe anderer Sinne!

Selber dieses Anderssein zu verstehen fällt nicht nur den Betroffenen schwer - die Nichtbetroffenen ignorieren die Menschen mit diesen anderen Wahrnehmungen zumeist, stellen sie einfach als zu dumm hin - weil sie selbst nicht wissen, dass es eben andere Wahrnehmungen gibt. Linkshänder wurden auch lange als zu dumm, ,,schreiben zu lernen" hingestellt ... Gehört in die gleiche Kategorie

Jeder, wie's ihm gegeben ist ...


 

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