Mutters Tagebuch - 2


Aus Mutters Tagebuch von 1996 übertrug ich das Kapitel »Moskau«
Wir sind im Jahr 1915, also mitten im ersten Weltkrieg mit Mutter und ihrer mitgereisten Familie in Ohrdruf in Thüringen angekommen.


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Wenn man mich beschäftigen wollte, dann gab man mir ein Stück Papier und einen Bleistift. Ich malte so unendlich gern, ganze Geschichten, oder wenn ich irgendwo etwas gesehen hatte, besonders Karikaturen begeisterten mich. So hatte ich wohl einmal in einem Schaukasten in Moskau den deutschen Kaiser entdeckt, eine Karikatur! Der deutsche Kaiser auf dem Nachttopf mit Pickelhelm und Schnauzbart!! Das malte ich … Die Verwandtschaft war empört! „Oh, ich „enfant terrible“.
Die Stimmung zwischen den Verwandten war sowieso gespannt, man ließ es die armen Verwandten, die so viel in Russland erreicht hatten und so stolz gewesen waren, die Verärgerung merken.
Wohl hatte meine Mutter ihren Schmuck in ihrer Kleidung eingenäht, auch mein Vater hatte eine Menge Geld in ausgehöhlter Seife und anderen Dingen über die Grenze schmuggeln können, so waren sie nicht ganz arm. Aber sie hatten keine Bleibe. Vater bekam eine Anstellung als Dolmetscher in einem Kriegsgefangenenlager bei Ohrdruf und fand auch eine möblierte Wohnung für uns.

Ich kam in die Schule!! Wir hatten Schiefertafeln und ich lernte das „ABC“. Da ja Krieg war und es keine Schultüten gab, mußten wir Schultüten auf die Schiefertafeln malen. Aber von irgendeiner Tante bekam ich doch noch eine richtige Schultüte! –

Irgendein Sieg wurde gefeiert und man hatte am Rathaus einen Hindenburg aufgebaut und der sollte nun benagelt werden. Die Bürger mußten die Nägel kaufen, je nach Spende aus Gold, Silber oder Kupfer. Ein großes Fest wurde veranstaltet mit Blas- und Marschmusik. „Heil dir im Siegerkranz“, „Hoch weht die Flagge Schwarzweißrot“ wurde gesungen. Wir Kinder bekamen Matrosen-Anzüge, mit weißen Blusen, Matrosenkragen, blauen Hosen oder Faltenröckchen. Wir Mädchen hatten Rosenkränzchen im Haar. Beim Goldenen Anker gab es Rostbratwürste in langen Brötchen. Das war noch 1916. –

Auch 1916 wurde mein Vater in das Kriegsgefangenlager bei Güstrow in Mecklenburg versetzt:
Wann und in welchem Monat wir nach Güstrow kamen, das weiß ich nicht mehr. Vater hatte eine große möblierte Wohnung von zwei alten Damen mieten können. Es ging wieder aufwärts.

Meine Mutter war auch in dem Lager als Dolmetscherin tätig. Wir Kinder gingen in die Schule, zu einem Mittagstisch und nachmittags konnten wir unsere Schularbeiten unter der Aufsicht einer alten Lehrerin machen. –

Die erste Zeit in Güstrow war für mich fürchterlich, oft wurden wir auf der Straße angepöbelt „Ruski, Ruski“ und die Steine flogen. Wie oft habe ich mir da die Hosen naß gemacht. –

Auch in der Schule hatte ich es anfangs sehr schwer. Ich verstand wohl Deutsch sehr gut und Alles, was man sprach, aber ich hatte immer nur auf russisch geantwortet. Wenn ich dann in der Schulstunde etwas sagte, in diesem unmöglichen Russendeutsch, fing die ganze Klasse an zu lachen. Man ärgerte mich, riß meine Kleidung vom Haken und zertrampelte sie. Meine Mutter ging zum Direktor, der meinte, ich solle doch die Schule verlassen. –

Gegenüber unserer ersten Wohnung in der Rostocker Straße war ein Ackerbürger, stand eine Scheune. – In der ersten Zeit konnte man oft den regelmäßigen Takt der Dreschflegel hören. Das Tor stand weit auf und oft habe ich beim Dreschen zugeschaut. Ich hatte mich dort auch angefreundet. Ich durfte die Eier im Heu suchen und sammeln, die Zentrifuge bedienen. Ich bekam dann oft den Schau von der Magermilch und dazu ein Stück Schwarzbrot. Auch Erdbeeren durfte ich im Garten pflücken, allerdings mußte ich dabei immer pfeifen. Bald hatte ich aber raus, Erdbeeren essen und dabei pfeifen, --

Dann kam der berüchtigte Kohlrübenwinter 1918. Ich bekam vom Arzt einen ½Liter Vollmilch verschrieben wegen Unterernährung. Bei unserem Mittagstisch gab es immer öfter Dicke Bohnen, ohne Fett und Fleisch.
Im Kriegsgefangenenlager kamen oft Liebesgabenpakete für Gefangene aus ihrer Heimat, dann kaufte mein Vater Lebensmittel von ihnen ab. Besonders die Engländer wurden gut versorgt, Da lernte man Goldensyrup und Chesterkäse in Dosen kennen. So gab es auch abends, wenn mein Vater Geschichten vorlas ein kleines Stückchen Schokolade. Oft schmeckte sie nach seife uns sonstigen Dingen, aber sie war süß.—

Dann kam im November 1918 die Revolution. In der Stadt wurde geschossen. Wir mußten auf Umwegen von der Schule nach Hause gehen. Ich hatte gesehen, wie man eine verletzte Frau vorbeitrug, ich hatte eine Wahnsinnsangst, daß meiner Mutter etwas passieren könnte. Abends saßen wir in den hinteren Zimmern, damit zur Straße kein Licht war. In erleuchtete Fenster schoß man. Dann ging das Plündern los, auch die Bäckerei, uns gegenüber, räumte man aus. Da kam meine Schwester mit zwei großen Broten, sie hatte einfach mitgemacht. –

In dieser Zeit hatten wir auch ein Stück Feld, einen Garten. Vater hatte dort ein kleines Häuschen aufgebaut. Ganz in der Nähe war auch ein kleiner Tümpel, aus dem wir unser Gießwasser holen konnten. In dem Tümpel waren gelbbäuchige Molche, viele Frösche und Blutegel, vor denen hatte ich besonders Angst. Ich bekam auch ein Beet, auf dem ich Bohnen erntete und mir hübsche Blumen zog. Das war weit draußen an der Schweriner Straße.

Auch an die Inflationszeit erinnere ich mich noch. Wenn wir unser Taschengeld bekamen, sausten wir in die Stadt und setzten Alles in Süßigkeiten um, Millionen, Trillionen, ach ich weiß es garnicht mehr.
1922 konnte mein Vater in Dettmansdorf bei Güstrow ein Haus bauen. Wir bekamen jeder ein Zimmer und durften uns die Farben für den Anstrich aussuchen, Vater hatte in dem Kriegsgefangenenlager Werkstätten eingerichtet. Schreinerei, Korbflechterei. So konnte er auch Möbel für uns bauen lassen. Meine Schwester und ich bekamen jeder einen Schreibtisch. Vater ließ sich Bücherschränke bauen. Die Kosaken konnten wunderschön schnitzen und so bekamen wir ganz besonders schöne Möbel. Auch meine Schwester erhielt einen Schrank mit geschnitzten Vögeln. –

Der Krieg war zu Ende und die Kriegsgefangenen wurden entlassen.
Nach den Kriegsgefangenen zogen jetzt Flüchtlinge in das Lager. Flüchtlinge aus dem polnischen Korridor, die für Deutschland optiert hatten.

Bei dem Haus war auch ein Stall und wir hatten zwei Schweine. Vater hatte auch einen Hühnerstall aufgestellt. Hühner, Enten und Gänse bevölkerten nun unseren Hof. Vater hatte im Garten Spindelbäume am Zaun entlang gepflanzt und um den Komposthaufen Himbeeren.
Unser Haus lag nicht weit von einem Buchen-Hochwald. Im Frühling blühten dort Anemonen, Leberblümchen, die Frühlingswalderdbeere. Es war wunderschön im Frühling, wenn die Buchen ihr zartes Grün entfalteten und der Zilpzalp seine Stimme hören ließ.
Auch einige Schonungen mit weichen Mooswegen waren nicht weit, dort habe ich oft gesessen und meine Schularbeiten gemacht, ganz still. Dann kam schon mal eine Häsin mit ihren Jungen heraus gehoppelt und die Vögel hüpften ganz dicht an mich heran.
Ganz in der Nähe war auch ein Teich. Wilde Iris, Vergissmeinnicht, Schilf umsäumten dieses Kleinod, in dem es nur so wimmelte von Fröschen und Molchen. Oft war der ganze Teich dicht bedeckt mit dem grünen Entenflott. Ich hatte auch die Aufgabe unsere Enten dorthin zu treiben, damit sie sich so richtig satt fressen konnten. Ich saß dann in einer alten Weide und wollte französische Vokabeln lernen, aber meistens träumte ich, ersann und erzählte mir Märchen und Geschichten.

Wir hatten ja zwei Schweine und kurz vor Weihnachten und im Januar war Schlachtfest. Mutter konnte phantastische Wurst machen, nach alten thüringischen Rezepten. Die Würste und Schinken mußten wir dann mit dem Handwagen zu einer Fischräucherei bringen.
Unser Haus stand in Dettmannsdorf, eine Art Vorort von Güstrow.

Eine neue Mitschülerin, Inge Schlie, zog auch dorthin, nicht weit von uns. Sie wurde meine beste Freundin. Wir hatten zusammen Tanzstunde und Konfirmationsunterricht. Und ich war ein richtiger Backfisch! Ich schwärmte für einen Jungen mit blonden Haaren und schwarzer Schülermütze, aber auch für meinen Zeichenlehrer. Wie oft hatte ich Etwas vergessen und mußte nachmittags nachsitzen, wenn Herr Torban den Seminaristinnen Zeichenunterricht gab. Ich bekam dann einen Zeichenblock, und diese Bilder wurden dann meist ausgestellt.—

Als wir nach Dettmannsdorf zogen, durfte ich mir vom Bauern gegenüber einen kleinen Hund abholen von der Terrierhündin, mit der ich oft gespielt hatte. Geschenkt ? Ich durfte 2,50 Milchgeld bezahlen. Aber stolz fuhr ich meinen kleinen Hund in einem Korb auf dem Fahrrad nach Hause. – Mein Hund, mein Flocki !! Ich hatte etwas zum lirben, etwas Weiches, was zu mir mit ins Bett kroch (er war ja weiß). Ich zog ihm Puppenkleider an und brachte ihm Kunststücke bei. –

Dann waren die letzten Flüchtlinge untergebracht und mein Vater wurde als Direktor nicht mehr gebraucht. Mein Vater hätte gern die Werkstätten weiter ausgebaut und wäre gern in dieser wunderschönen Gegend geblieben, aber meine Mutter wollte nicht. Sie wollte in eine Großstadt weg von diesem mecklenburgischen Kaff. Sie wäre in Orenburg Geschäftsfrau gewesen und wollte nun auch ein Geschäft haben.

Sie hatten dann auch ein kleines Delikatessengeschäft in der Französischen Straße in Berlin gefunden, neben dem großen Delikatessen-Borchart.

Dezember 1924 zogen wir nach Berlin.

Zum Abschied schrieb mir mein Zeichenlehrer in mein Poesie-Album:
Gaben, wer hätte sie nicht !
Talente, ein Spielzeug für Kinder !
Erst der Ernst macht den Mann,
Erst der Fleiß das Genie !

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Das war nun die so erlebnisreiche Zeit in Güstrow.

Eins zwei drei im Sauseschritt läuft die Zeit! Wir laufen mit!

Im nächsten Abschnitt wird es dann ernster, erwachsener.
Bis später …


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Kommentare (1)

tilli Diese Reihe von der Biografie deiner Mutter und deine Erinnerungen an diese Zeit,
müsstest du eigentlich in Form eines Buches veröffentlichen.
Ich grüsse Tilli

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