NACHT-BUCH

🌟🌟🌟🌟
Sind es die Sterne, die mich wach halten?

Dann wird ihr Leuchten mich begleiten, wenn ich hier meine Gedanken eintrage.
 

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Kommentare (4)

MELODYY

Auszug:        'Aus der Gesprächspause' 
                       in  'Roman ohne Titel'
                (- Ein fragmentarischer Versuch -)

... ... ...

Irgendwann erzählte sie ihm davon.

"Ich war neun Jahre alt, als wir aus dem Osten flüchten mussten. Damals haben wir es nicht geschafft, bis zum Süden zu kommen. Wohin wir eigentlich wollten, weil meine Mutter dort Verwandte hatte, die uns nach der Flucht nicht als Fremde angesehen und auch so bezeichnet hätten. Fremde im eigenen Land ... Die, bei denen wir ankamen, ließen es uns überall fühlen. Dass wir nichts mehr besaßen. Obwohl sie selber ärmlich lebten. Aber sie hatten ja noch ihre Häuser, ihre eigenen vier Wände. Zimmer ohne Öfen, in denen Eis an den Wänden glitzerte: der gefrorene Atem von Menschen, die darin lebten. Nicht nur durch diese Kälte sind wir krank geworden. Mehr noch davon, dass wir nun in solchen Löchern leben mussten, die sie uns auch noch verübelten. Sie fühlten sich durch die ' Fremden' gestört und waren nie zum Teilen bereit. Manchmal klauten wir etwas, denn wir hatten Hunger. Eine Rübe vom Feldrand, die - als Nachtisch - sorgfältig portioniert wurde. Wer weiß, wann man wieder eine Rübe klauen konnte. So etwas wurde 'fringsen' genannt. Nach einem Kardinal, der die Nicht-Vertriebenen bat, den Hunger der Flüchtlinge zu begreifen."

Sie unterbrach sich und legte die Hände über den Magen, um dieser Übelkeit Einhalt zu bieten.

"Hast du jetzt Hunger?" fragte er besorgt.

"Ich habe keinen Hunger. Nicht, wenn ich mich an den Hunger erinnere. Mir fiel nur eben ein: Wenn die Bauern die Kartoffel-Felder abgeerntet hatten, durfte man 'nachhacken'. Da zogen dann die 'Fremden' auf die Felder und hackten mit geliehenen Geräten den Boden um, in dem sich noch so manche Kartoffel fand, die die Maschinen der Bauern nicht erfasst hatte. Nicht nur ganz kleine Kartoffeln, die überall hindurchrutschen konnten, sondern auch ab und zu eine dicke. Über die dicken freute man sich am meisten. Sie sahen immer so aus, als könne der heutige Fund für mehrere Mahlzeiten reichen. Aber manchmal kamen die Bauern zurück -, untersuchten, was wir gefunden hatten, und nahmen die dicken Kartoffeln mit. Sie gehörten ja ihnen. Einen Sack hätten sie damit nicht füllen können. Lediglich ihre Mittags-Schüssel. Nur sahen sie nicht aus, als ob sie immer Hunger hätten. Wir stellten dann Wachen auf und versteckten dicke Kartoffeln in der Kleidung. Was uns allerdings nicht davon abhielt, auf dem Rückweg sehr eilig zu sein. Vor Hunger -, aber auch aus Angst, dass uns die Bauern noch einholen könnten."

Er sah sie an. 

"Magst du trotz allem noch immer Kartoffeln?" fragte er.
"Ja. Wenn sie nicht zu viele Augen haben."
"Was stört dich an diesen sogenannten Augen? Man schneidet sie doch heraus, bevor man die Kartoffeln kocht."
"Ja. Aber dann sehen sie wie Ruinen aus."

Er wusste, dass sie darüber reden wollte. Über die Wände mit Löchern.

"Auf der Flucht mit den letzten Zügen, die noch abgefertigt wurden, sah man zuerst noch heiles Land. Manchmal fragte man sich, weshalb man sich auf den Weg gemacht hatte. Wir Kinder fragten es immer wieder. Und die Erwachsenen zeigten auf die anderen Menschen, die den Zug überfüllten, und sagten: 'Wenn es keinen Grund gäbe, wären hier nicht so viele. Sie fahren alle nach Süden.'- 'Und was ist im Süden?' - 'Dort gibt es keine Feinde. Keine Bomben. Keine Vernichtung. Nur Freunde und Sicherheit.' - Ich weiß nicht einmal, ob die  Erwachsenen das selbst glaubten. Dort, wo wir dann 'Fremde' waren und von den Einheimischen auch so genannt wurden (“die Fremma”), fanden wir jedenfalls keine Freunde. Die Flüchtlinge blieben unter sich. Und ehe es auch dort aufhörte, dass wir überall von Tieffliegern beschossen wurden und nie wussten, hinter welcher Mauer wir in Sicherheit sein könnten, gab es Sicherheit eben auch nicht."

"Später auf der Flucht sah man die Ruinen der Städte, die schon alles hinter sich hatten. Wir mussten oft den Zug verlassen und uns zu einem Bunker begeben wegen der Bomber-Geschwader, die oben in die Richtung der nächsten Stadt flogen. Die es noch nicht hinter sich hatte. Oder sie wiesen uns zu einem Not-Quartier, wo dann mehrere Kinder auf einem Strohsack schliefen, während die Mütter am Tisch sitzenblieben und nur manchmal die Köpfe auf die Arme legten. Ich glaube, unsere Mütter haben wochenlang nicht geschlafen."

„Wie doch unsere Mütter uns damals bewacht haben. Die lange nicht schlafen durften - und es später nicht mehr konnten. Bis an ihr Lebensende. Manche hofften auf den Tod als Schlaf-Ersatz. Oder dass er ihr Bedürfnis befriedige, allen Schlaf nachholen zu können. Ein Wunsch, der oft kam, sobald sie ihre Kinder nicht mehr bewachen mussten. Man sagte dann, das sei, weil sie keine Aufgabe mehr hätten. Aber das war es nicht."
"Was war es dann?"
"Es waren die Schäden des Krieges. Der Krieg hat sie zu Ruinen gemacht. Wie die, zwischen denen wir nachts zu den Quartieren gingen, in denen nur die Kinder schliefen. Nachts konnte man die Ruinen schwanken sehen. 

Die durchlöcherten Mauern würden einfach nach vorn fallen. Neue Schuttberge auf denen bildend, die man am Rand aufgehäuft hatte, um die Straßen für die Flucht der Menschen freizuhalten. Da wuchs nichts mehr. Bäume, deren Stämme grau waren von der Asche -, mit Ästen wie Mahnfinger. Alles verbrannt. In einem Feuer, das dunkler war als die Christbäume, die über der Stadt hingen, als es losging."
"Christbäume?"
"Ich weiß nicht, warum sie sie so nannten. Weihnachten lag schon Wochen zurück. Ich weiß auch nicht mehr, wie und wo wir das letzte Weihnachten hatten. Diese sogenannten Christbäume waren Leuchtkugeln, die sie über die Städte setzten, um die Ziele ihrer Vernichtung von oben her besser erkennen zu können. Wir sahen sie von unserem Zug aus, als im April 1945 Dresden starb. Und alle, die in dieser Stadt lebten, und die, die zufällig dort waren. Oder nicht zufällig. Vielleicht, weil sie nicht weiterwussten. Auch mein Onkel und seine Frau. Man nimmt es jedenfalls an. Ihre letzte Spur verlor sich in der Nacht, in der diese Stadt vernichtet wurde. Vielleicht haben wir sie unter den Christbäumen sterben sehen. Ich weiß es nicht."

"Warum kannst du es nicht vergessen?"
"Ich müsste mich damit auseinandersetzen, aber es quält mich, wenn ich daran denke. So habe ich alles verdrängt."

"Bring' es zu Ende. Es wird dir helfen."

"Ja. --  Nachts also konnte man die Ruinen schwanken sehen. Wenn der Mond schien und von der anderen Seite her die Löcher erhellte, als hätten dahinter noch Menschen Lampen brennen. Aber dahinter war ja nichts mehr. Das wussten auch die Kinder. Die vielleicht aber noch nicht so genau wusste, dass Wolken am Himmel wandern können. Und wenn dann die Ruine links von dir war und die Wolken nach links zogen, neigte sich scheinbar die hohe, durchlöcherte Wand nach rechts und musste gleich fallen. Auf die Mutter, die mit dem Baby vorausging, auf den jüngeren Bruder, - auf dich. War man der ersten Ruine noch entkommen, standen da die nächste und die nächste und die nächste. Es war entsetzlich!"

"Du musst in einem ständigen Angstzustand gelebt haben."

"Wochenlang. - Ich erinnere mich an den Beginn unserer Flucht. Da saßen wir noch nicht in den Eisenbahnen. Wir waren ein paar Tage bei einem Freund meines Vaters, weit weg von der Front -, bis wir auch von hier wieder woandershin gehen mussten. Niemand mehr durfte jemanden aufnehmen -, wegen dieser Groß-Bombardements. - Der Sohn dort hatte eine Menge Kriegs-Spielzeug, das wir nicht kannten. Mich faszinierte, dass die kleinen Panzer richtig Feuer spucken konnten. Aber sogar vor diesen Flämmchen fürchtete ich mich. Dass mir die Flämmchen die Finger verbrennen könnten. Ich rieb mir ständig die Augen. Dieses Gefühl der Unwirklichkeit kann man einfach nicht beschreiben. Ich hoffte die ganze Zeit, nur schnell wieder aufwachen zu können. Irgendwann früher hatte ich von einer Bombe geträumt, die hinter einem schwarz-weißen Hund herflog. Den Traum musste ich überall erzählen. Mein Vater fand ihn komisch. Für mich war es ein Albtraum. Aber das war nichts gewesen im Vergleich zu dem, was ich jetzt zu träumen glaubte. Überall Nebel. Und das Augen-Reiben half gar nichts."

"Wie konnte es auch,"  sagte er.  "War dein Vater nicht mit - auf der Flucht?"
"Nein. Er war zu Hause geblieben. Um noch Angelegenheiten zu regeln. Wir wussten lange nichts von ihm."

"Und wie war deine Mutter in dieser Zeit?"
"Sicher hat sie meine Ängste bemerkt. Aber sie hatte das Baby. Und musste auf unser bisschen Gepäck aufpassen -, unsere letzten Habseligkeiten. Was konnten wir Kinder schon tragen als jeder einen Rucksack. - Einmal hat sie sich mit einem Mann geprügelt, der auf den anfahrenden Zug sprang, als sie mit dem Baby schon drin war und mein Bruder und ich noch draußen standen. Glücklicherweise fuhren die Züge damals noch langsam an. Vielleicht -, weil sie völlig überladen waren. Jedenfalls konnte sie uns dann zu sich hochziehen, und der Mann in der Soldaten-Kleidung kam auch noch mit. Er saß die ganze Zeit auf dem Deckel der Zug-Toilette, und mein Bruder saß auf seinem Schoß. Der Mann war nachher ganz freundlich."

... ... ...



Das ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus meiner Leidens-Anamnese.
Die Ruinen, von denen ich als Kind befürchtete, getötet zu werden, sehe ich noch heute vor meinen inneren Augen. 
Und nicht nur die Ruinen: auch die “Christbäume” über Dresden, als die Stadt 1945 vernichtet wurde, während wir in einem der letzten Züge saßen, die uns in eine Sicherheit bringen sollten.
Eine Sicherheit, die sich als scheinbar und fragwürdig erwies.

14.8.2016

 

silesio

Gedanken zu haben, ist das Eine, Gedanken zu Papier zu bringen etwas ganz Anderes
Christoph, UK

MELODYY

@silesio  

Ich stecke die Kritik ein.
Sicherlich kannst Du das besser als ich.

Syrdal


Darf man gespannt sein auf sternklare Gedanken des Himmels...

...fragt Syrdal


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