Nathalie fliegt nach Afrika


Natalie fliegt nach Afrika

Der Winter hatte begonnen und Natalie sah einen Schwarm aus weißen fliegenden Tierchen vor ihrem Fenster schweben. Der Wind jagte die Wesen wild durch den frühen Morgen und wirbelte sie wieder hoch, wenn sie sich setzen wollten. Aber es waren zu viele. Die Dächer der kleinen Stadt, die Giebel, die Türme, die Straßen, alles verwandelten sie in ein blitzendes Weiß.

Natalie hatte so etwas noch nie gesehen. Sie drückte ihre Nase staunend an die Scheibe, aber dann öffnete sie das Fenster, um ihre Hand nach den Tierchen auszustrecken. Doch sie verschwanden sofort ins Nichts, sobald sie auf ihrer Handfläche landeten.

"Das ist Schnee," erklärte Mutter Gesche beim Frühstück, als Natalie nach den kleinen Wesen fragte, "den gibt es in Afrika nicht". Seit ihrer Flucht war sie bei dieser Familie und es gab hier so vieles, was es in Afrika nicht gab. Nun gehörte auch noch Schnee dazu. Natalie bedankte sich für diese Antwort, auch wenn sie es immer noch nicht wusste, wohin die geflügelten Wesen verschwanden, wenn sie auf ihrer Hand waren. Es war wohl ein Geheimnis. So vieles war ein Geheimnis für Nathalie!

"In Afrika ist alles anders", dachte sie, und in der Schule lachten die Schülerinnen, als sie die Lehrerin fragte, wo die weißen Tierchen blieben, wenn man sie fangen wollte. "Das sind doch keine Heuschrecken", erklärte die Lehrerin. "Das ist Schnee". Natalie wusste es sehr gut, dass es keine Heuschrecken waren. Sie kannte Heuschrecken aus Afrika und sie mochte sie nicht. Sie war so froh, anders leben zu können, bei ihrer neuen Familie. Sie hatte nur noch einen Wunsch. Nur noch einmal nach Afrika, nur noch einmal zu ihrer Mutter.

Auch in den nächsten Nächten wirbelten Schwärme der weißen Wesen wieder vor ihrem kleinen Fenster. "Bitte bringt mich zu meiner Mutter", flüsterte sie in den stobenden Wind, der diesen Glitzer vor ihrer Scheibe hin und her triebt. "Nur einmal!" Und als sie, mitten in der Nacht, das Fenster öffnete, wieder die Hand ausstreckte, und dort eines dieser Tierchen fing, das aber nicht schmolz, sondern immer größer wurde, geschah auf einmal ihr Geheimnis.

Natalie flog nach Afrika! Sie flog auf der großen Schneeflocke wie auf einem Pferd mit Flügeln mitten in der Nacht. Zu ihrer Mutter nach Afrika. Wie auf einem weißen Pferd. "Ihr seid doch gar keine Tiere?", fragte sie erstaunt, denn das hatte ihr die Lehrerin erklärt. "Aber wir können fliegen", antwortete ihr die Schneeflocke. "Das siehst du doch!"

Und so war es wirklich. Natalie spürte den wilden Wind, der die beiden durch diese Nacht trug, immer nach Süden. Alles ging so schnell. Der Flug und ihr Besuch bei ihrer Mutter, die so ein weißes Wesen noch nie gesehen hatte. "Das ist Schnee", erklärte ihr Natalie stolz, "und er kann fliegen".

"Vor der Sonne müssen wir zurück sein, sonst schmelze ich!", drängte die Schneeflocke und kaum war Natalie aufgestiegen, stobte auch der Wind los und trug die beiden wieder nach Norden. Der Flug nach Afrika, der Besuch bei ihrer Mutter, die Rückkehr, das alles war geschehen, aber für Natalie war es wie ein Traum. "Es soll mein Geheimnis bleiben", sagte sie sich, als sie wieder zuhause war. Es gab so viele Geheimnisse und nun kam noch eines hinzu.

An Schlafen war in dieser Nacht gar nicht mehr zu denken. Aber Natalie ließ sich ihre Müdigkeit nicht anmerken, nicht beim Frühstück und nicht in der Schule. "Glaubst du immer noch, dass Schneeflocken Tierchen sind?", fragte die Lehrerin schnippisch. Aber Natalie schwieg. "Sie können fliegen", dachte sie, "fliegen bis nach Afrika". Sie lächelte nur und verriet nichts.

Robert

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