Neun Jahre Eichwalde





Neun Jahre Eichwalde

1936 - 1945

Eine Jugendzeit in einem Ort
in der Mark Brandenburg
an der Grenze zu Berlin


von Wolfdieterich Müller





1936


Ein Zuhause

Die Familie bewohnte in Berlin-Oberschöneweide eine komfortable Wohnung in der Rathausstraße.
Wenn man das Treppenhaus bis zur zweiten Etage erklommen hatte und sich auf das Ziehen des Bügels am Klingel-und Namensbrett hin die Wohnungstür öffnete, empfing den Eintretenden ein langer Flur, der sich am Ende noch verbreiterte.
Gleich links lag die Tür zu Großvaters Zimmer; Opa Müller lebte mit in der Familie. Die nächste Tür verschloss das Reich der Kinder, Bärbel und Dieter konnten da spielen und schlafen. Hinter der weiteren Tür im Flur lag das Eltern-Schlafzimmer, das mit dem Kinderzimmer durch eine zweiflügelige Tür verbunden war. Rechts die Tür im Flur öffnete die Küche. Dort ging am Ende eine Tür zur Mädchen-Kammer. Am Ende des Korridors lag die Tür zum Esszimmer, dem eine Loggia und ein Herrenzimmer angegliedert waren. Ein paar Schritte zurück auf dem Flur war die Tür zu Bad und WC.
Im März gesellte sich Eleonore - kurz: Nörli - zur Familie. Nörli schlief bei den Eltern. Die Eltern wollten mit den Kindern raus aus der Stadt. Und für drei Kinder war hier auch nicht genügend Platz.

Die Christus-Kirche in Oberschöneweide Da war dann in der Christus-Kirche Nörli’s Taufe. Zwei Tanten nahmen danach Dieter mit nach Dessau zu Besuch bei „Dande“ Emmy. In dem Jahr, im Sommer erlebten die Kinder mit der Mutter noch was Tolles:
die Fackel-Läufer zur Olympiade liefen ganz in der Nähe nach Berlin rein.

Wohnungssuche

Die Mutter ging mit Haustochter und den Kindern auf Suche nach einem Haus im Grünen. Sie besichtigten an einem Tag in Grünheide ein im Obergeschoß noch nicht fertiges Haus, das ein Apotheker baute - seine Fenchel-Bonbons bleiben in Erinnerung. Der Opa wollte da nicht hin. Auch war die Verkehrsverbindung zur Behrenstraße in Berlin für die beiden Männer - Opa und Vater - nicht so gut, wie sie heute wohl ist.
Ein anderes Mal besuchten sie einen Ort, der südlich von Oberschöneweide lag. Mit der S-Bahn ging es bis Grünau. Hier musste man umsteigen in den Vorortzug „Görlitzer Bahnhof - Königs Wusterhausen“, um über die Berliner Grenze nach Südosten hinauszukommen.
Die Mutter, die Haustochter und die Kinder sind von Grünau aus gelaufen, auf einem schnurgeraden Sandweg gen Süden durch hohen Kiefernbestand. Nicht leicht, da der Kinderwagen mit Nörli von losen Sandmulden und hoch erhabenen Kiefernwurzeln recht gebremst wurde. Ein warmer, sonniger Tag, der Wald roch nach Harz. Jetzt wurde nach Möglichkeit in dem am Ende des Alten Radelander Weges beginnenden Ort Eichwalde nach den annoncierten Immobilien Ausschau gehalten.

Eichwalde war ein noch relativ junger Ort am Stadtrand von Groß-Berlin, aber nun nicht in Berlin, sondern in der Mark Brandenburg gelegen. Nur ganz wenige Straßen zum Grünauer Forst hin gehören zum Stadtteil Berlin-Schmöckwitz. Eichwalde hat eben einen Bahnhof an der Görlitzer Strecke. Etwa in der Mitte vom Ort liegt an der Fußgänger-Unterführung der Aufstieg und Eingang zum Bahnsteig. Gut einen Kilometer entfernt von beiden Enden des Bahnhofs liegt je ein Straßenübergang mit Schranke als Verbindung der Gemeindehälften.
Westlich der Bahn gab es ein Objekt, das aber nicht gefiel. Doch im nächsten Objekt, östlich der Bahn, wurde ein mietbares Anwesen gefunden.

Umzug

Es kamen da im Herbst Ziehleute in ihren blauweißgestreiften Hemden und bauten alles in der bisherigen Wohnung ab, auch die Volliere in der Loggia (das Haus und die Loggia sind noch da!). Der Kaufmann um die Ecke brachte sie mit seinem Auto raus nach Eichwalde. Und Opa Müller zog mit um.
Es war am Abend des Umzugstages eine wunderschöne Überraschung: ein kleines oder großes Haus - wie man’s nimmt - mit ringsum Garten, zur Straße hin nur an der Gartentür einsehbar, sonst von Fliederhecken geschützt. Hatten die Kinder das Anwesen wirklich schon vorher gesehen? Alles war doch neu für sie.
Die Packer schleppten alles aus dem Möbelwagen in das Haus, stellten die zerlegten Möbel wieder auf, stapelten Kisten und Kasten mitten in die Räume. Mit dem Dunkelwerden wurde Mutters Mohrrüben-Suppe mit Kümmel(!!) fertig, der Möbelwagen war entladen und alles saß irgendwie, irgendwo mit ‘nem Teller in der Hand. Die Ziehleute verabschiedeten sich, rumpelnd verschwand der Möbelwagen im Dunkel des zu Ende gehenden Tages.
Ganz toll: Alle schliefen auf den Matratzen auf dem Boden, denn zum Aufbau der Betten hatte das Licht nicht mehr gereicht, und Lampen waren auch noch nicht installiert.

Neuland

Am Morgen weckte die neuen Bewohner eine grelle, ein wenig kalte Sonne und zeigte im Garten auf Obstbäume und Sträucher, Rasen und Hirtentäschel, Schachtelhalm und Königskerze. Ein Weg mit Klinkersteinen führte in der Mitte des Gartens von der Veranda nach Süden zur Gartentür. Hohe Fliederbüsche am Zaun verdeckten jeglichen Durchblick zur Straße oder von dieser hinein in den Garten.
Im Nachbargarten ostwärts stand auch ein Kinderwagen, ein Junge - Peter Bär (jetzt Herderstraße) - plärrte. Und in den Nachbargarten westwärts konnte man kaum hineinschauen, das verhinderten Haselnuss-Sträucher. Da waren die Wilke-Zwillinge zuhause.
Also ganz alleine waren da die Kinder nicht. Der Garten war groß. Ein Spielen auf der Straße gab es nicht - sie waren doch keine „Gassenjungs“! Es dauerte seine Zeit, die neue Umgebung zu erkunden, sie zu vereinnahmen:
die Schillerstraße

und da mitten drin lag das Grundstück Nummer 43.


Drinnen

Über eine Steintreppe mit drei oder vier Stufen gelangte man in die nach Süden ans Haus gebaute Veranda, die ringsum Schiebefenster hatte. Sie war recht geräumig. Gleich nach der Steintreppe ging es in der Veranda zur Haustür.
Von dem kleinen Flur hinter der Haustür ging eine Treppe im Halbkreis nach oben. Unter dieser Treppe war ein Verschlag mit dem Zähler- und Sicherungskasten. Außerdem war da die Luke zum Keller mit der Wasserpumpe.
Im Flur geradeaus kam man in die Küche mit einem Elektroherd und einem eingebauten Kachelherd. Vom Flur links gelangte man ins Wohnzimmer und durch dieses ins Eltern-Schlafzimmer. Wohn- und Schlafzimmer hatten gemauerte Kachelöfen, eigentlich damals die üblichen Geräte zum Heizen.
Wenn man die Treppe im Flur hoch kam, lag links gleich Bad und WC, geradeaus ging es ins Kinderzimmer, durch dieses wiederum in Opas Zimmer und von dort noch zur Mädchenkammer.
Im Obergeschoß, in Kinderzimmer und Opas Zimmer standen eiserne Öfen in grünem, emailliertem Kachelmuster. Das Bad hatte keine Heizung, da war eben der Badeofen, auch mit Holz und Briketts beheizbar.

Das Labor

Im Bad richtete Vater wieder genauso wie in Oberschöneweide seine „Hexenküche“ ein: Fotolabor und Vergrößerungsapparat. Da ging es wieder los mit dem Zählen „21-22-23-....“ beim Belichten; und spannend wie immer, wenn das Bild im Entwicklungsbad richtig auftauchte.
In einem der Dachverschläge wurden Vaters selbstgebauten Lampenreflektoren (zwei davon aus Alu-Napfkuchenformen) aufbewahrt. Naja, aufgebaut hieß es für sie, auf das Vögelchen zu achten und nicht in das gleißende Licht aus den Lampen, sondern in die Linse des Fotoapparates zu schauen.

Binnen und Buten

Es kam der Oktober, die Obstbäume hatten ihre Früchte abgeliefert. Nebel kam und Frost. Es ging zum Kohlenhändler in der Grünauer Straße. Der hatte das Oberteil eines Güterpackwagens (den Wagenkasten) als Büro eingerichtet.
Mit einem von einem Pferd gezogenen Plattformwagen wurden die Braunkohlen-Briketts heran gefahren. Die Kohlenmänner schleppten die Kästen mit den eingeschichteten Briketts auf dem Rücken in den Garten - im Garten wurde eine Miete wie ein Haus aus den Briketts gestapelt - der Wintervorrat.
Die Tage wurden immer kürzer, man versammelte sich im Esszimmer am Kachelofen, der jeden Morgen eine neue Füllung Briketts bekam, so am Nachmittag mit seiner Wärme in einem mit Gittertürchen verschlossenen Fach hin und wieder frische Bratäpfel lieferte - das duftete !

Glockengeläut

In der Rathausstraße in Schöneweide lag gegenüber der Wohnung die katholische St.Anton-Kirche. Da konnte man im Frühjahr vom Balkon aus der Fronleichnams-Prozession zusehen. Von der Kirche zum Park waren Blumen gestreut. Die Häuser waren geschmückt mit Fahnen, gelbweiße, dann Hakenkreuzfahnen, und der Opa Müller hatte seine schwarzweißrot-gestreifte Fahne herausgehängt, war er doch ein Deutschnationaler.
Ganz anders hier in der Schillerstraße: die paar hundert Meter Luftlinie und auch freie Sicht zur katholischen St.Antonius-Kirche ließen das Glockenläuten ungehindert zum Garten dringen. Die Regelmäßigkeit, mit der die „kaloschen Jungs“ in der Schillerstraße – in dem Mehrfamilienhaus schräg gegenüber - zum Romanus-Platz strebten, fiel auf. Fronleichnams-Prozessionen blieben im Bereich Romanus-Platz.

Musik

Die Mutter setzte sich nachmittags ans Klavier, schlug die großen Notenbücher auf und spielte Kinderlieder, die Kinder sangen mit und Dackel Pucki heulte aus Passion dazu.
Wenn abends der Vater ans Klavier ging, spielte er flott und ohne Noten Tanzmusik. Er imitierte das Aufziehen der Spieluhr, indem er mit dem Daumennagel die Stirnseiten der weißen Tasten entlang zog.
Die Spieluhr, die auf einem Bänkchen neben dem Klavier stand, konnte mit einem kräftigen Hebel aufgezogen werden. Die Metallplatten hatten eingestanzte Noppen, die die Zahnräder mit den Tonzungen oder Glockenklöppeln weiter schalteten. Eben die Anordnung der Noppen auf den auswechselbaren Platten ergab dann die Musik, solange das Uhrwerk die Achse mit der aufgelegten Scheibe drehte.
Und dann stand da ein Grammophon-Schrank. Metallnadeln am Abnehmerkopf, im Schrank ein großer Trichter - durch Türen verschließbar, elektrischer Antrieb. Mit schlanken Händen konnte man vermisste, im Trichter verschwundene Dinge wieder aus dem Gefängnis befreien - auch dem Staubsauger musste von Zeit zu Zeit darin Verstecktes abgenommen werden. Die Eltern alleine legten nur Schallplatten auf, konnten auch nur die Nadel wechseln. Wenn die Kinder im Bett lagen, hörten sie noch - heute sagt man „Klassische“ - Musik aus dem Grammophon-Schrank.
Das Radio - daran bastelte der Vater, um immer besseren Empfang zu bekommen. Er wickelte neue Spulen, versuchte den Freischwinger-Lautsprechern mit größeren Trichtern mehr Lautstärke abzugewinnen. Im Garten stand ein Mast, von dem aus ein Draht zum Haus gespannt war, eine Langdraht-Antenne für Mittel- und Langwellen-Empfang, man konnte Königs Wusterhausen und Nauen empfangen, von der Übersee-Funkstelle Zeesen war nichts zu empfangen.
Noch spielte für die Kinder das Radio nicht die Rolle, die es in späteren Jahren hatte.

Die Männer

Wenn die Männer vom „Büro“ nach Hause kamen, setzte sich der Vater an seinem Schreibtisch, befasste sich mit Ahnenforschung. Doch jetzt zeichnete und rechnete er für den Bau von Kaninchen- und Hühnerstall, konstruierte Mistkästen für den Garten.
Pucki begleitete Opa Müller, dem der Rauhaar-Dackel gehörte, durch die Straßen. In seinem Revier beschnüffelte der und markierte recht eifrig.
Opa Müller war morgens der Erste im Aufstehen. Als Dieter mit in sein Zimmer zog, da stand er auch so früh auf und half beim Frühstückstisch-Decken, Opa bekam seine extra große Zwiebelmuster-Tasse und im Eierbecher ein Gänse-Ei - mit Hühnereiern gab er sich ungern ab.
Opa Müller hatte eine Uhr im Biedermeier-Stil, ein Tempel mit vier Säulen, dazwischen Uhrwerk mit Pendel und kreisrundem Zifferblatt mit römischen Zahlen. Es gab immer Probleme mit der Laufgenauigkeit, also drehte der Opa von Zeit zu Zeit die Zeiger für zwölf Stunden minus der Differenzzeit vorwärts, musste alle halbe Stunde halten und warten, bis das Schlagwerk seine Portion abgearbeitet hat,
Diese Uhr schlug noch immer bei der Mutter in Bonn, nur lief sie jetzt genauer nach intensiver Durchsicht.
Der Großvater hatte ein Aquarium in seinem Zimmer. Die Belüftung des Wassers erfolgte durch eine Pumpe mit Synchron-Motor, die von Hand angeworfen werden musste. Noch „durfte“ Dieter Mittagsschlaf halten. Die Pumpe war durch einen Stromausfall stehen geblieben; der Motor brummte ganz laut, als der Strom wieder kam, es war auch dunkel geworden, Dieter hatte große Angst, bis die Mutter vom Einkauf wieder kam und den Motor anwarf.
Der Wasserwechsel im Aquarium war schon eine schwere Arbeit, Eimer für Eimer ins Bad bringen und dann frisches Wasser neu auffüllen - die Fische waren bei dieser Prozedur in einem Kanister untergebracht.Einkauf
Allmählich hatte Dieter zum Einkaufen die Selbständigkeit erlangt, durfte also in die Markgrafenstraße (heute Uhlandallee) nach rechts. Ecke Herderstraße war ein Eckgeschäft, das da ein Reklameschild hatte
Ich hab’s URBIN der gute Schuhputz“.

Noch einige Schritte weiter gab es Milch. Zur Schmöckwitzer Straße musste Dieter nach links in die Markgrafenstraße, bis zur Schmöckwitzer Straße und da nach rechts zu »Stümer Kolonialwaren«. Ganz toll: die Kästen mit losem Mehl und Haferflocken, die Fässer mit Heringen und Sauerkraut. Und die großen Gläser mit Bonbons, Lutschern, Lakritzen.
Hinter dem Laden von Stümer lag der Schuppen von Wimmer. Da gab es alles für den Garten und Futter für die Tiere. Ein ganz besonderer Geruch empfing einen da.
Der Vater holte Holz zum Bauen bei Kurz in der Kurfürstenstraße. Nägel und Schrauben wurden in der Bahnhofstraße geholt. Geld gab’s bei der „Sparkasse des Kreises Teltow“ in der Bahnhofstraße. Die Postscheckbriefe wurden in der Post am Bahnhof eingeworfen, da ging monatlich immer eine Überweisung zu „Bausparkasse der Freunde Wüstenrot“.

Der erste Winter

Schnee ! Die Jungs in der Schillerstraße nahmen Dieter mit zum Schlittenfahren zu den Karnickelbergen , wenn sie aus der Schule kamen. Man schleppte seinen Schlitten die Hügel hinauf, setzte sich alleine oder mit anderen auf den Schlitten und „raste“ die langgezogene Rutschbahn wieder hinunter.
Ein Abend war schlimm, hatte Dieter doch die Jungs zur Rückkehr verpasst, sollte in der Dunkelheit den Heimweg alleine antreten. Da kamen die Gruselgeschichten „Die Bremer Stadtmusikanten“, „Hänsel und Gretel“ und... und... und... auf; ein schwaches Licht schimmerte durch den Wald, Dieter tappte darauf zu - er kam wohl ganz verheult zu Hause an. Recht lehrreich.

- 1937 -


Schule

Im Februar gingen die Mutter und Dieter zur Schule zum Anmelden. Auf dem Rückweg schneite es ganz kräftig - Schneeflocken kamen ihm in die Augen. Vom Großvater gab es ein Fünfmarkstück.
Gleich nach Ostern ging’s in die Schule - Achte Klasse , Klassenzimmer im Altbau Südost-Ecke im Hochpattere.
Dieters erster Lehrer war Herr Staerke, der wohnte in dem großen Häuserblock Grünauer Straße Ecke Bahnhofstraße.
Rektor Froböse wohnte in der Kurfürstenstraße (heute Puschkin-Allee) nahe der Schule. Er liebte seinen Schulgarten, der in der Joachimstraße (heute Humboldtstraße) Ecke Bahnhofstraße gegenüber der Schule lag - Schwester Bärbel bekam später von vom Rektor ein Beet zugeteilt (somit war der Anfang zu ihrer späteren Gartenbau-Lehre abgesteckt).
Die Kurfürstenstraße wurde ausgebaut. Dazu war das Straßenbett tief ausgehoben - so schöner gelbweißer Sand! Dieter kam nicht von der Schule heim, war es doch so toll, da unten im Aushub zu buddeln, er vergaß die Zeit. Es war Nachmittag, ganz oben am Rand tauchte der Großvater auf. Mit seinem harten Gehstock gab’s die erste Abreibung noch vor Ort. Zuhause half die Mutter nach, und ab ging’s ohne Mittagessen ins Bett. Am Abend „belehrte“ ihn der Vater, danach gab’s dann was zu essen: Bouletten. Als am nächsten Tag der Schul-arzt in die Schule kam, war Dieter froh, dass er nicht die Hose herunterlassen musste - so hatte er sich des verdeckten „Denkzettel“ geschämt.

Die erste Dampferfahrt - mit den Eltern - ging von Schmöckwitz, Gasthaus Palme, zur Woltersdorfer Schleuse. Ein anderes Mal ging eine Dampferfahrt mit der Klasse nach Neumühle.
Dieter bekam Scharlach. Die Mutter ging mit ihm in Quarantäne ins Schlafzimmer, alle anderen durften gerade bis zur Tür. Als Dieter wieder in den Garten durfte: ach fiel das Laufen schwer, er bemühte lieber das Dreirad.
Ein Zweirad stand da eines Tages im Garten, ein Mädchenrad für Dieter, eben ein Mädchenrad, damit später auch die Schwestern damit fahren konnten. Es dauerte eine Weile, bis er das Rad beherrschte, eigentlich ganz gut in der Schillerstraße, denn die war betoniert.
Es ging mit den Eltern hinaus in die schöne Umgebung von Eichwalde. Man schaute dem Reichsarbeitsdienst zu, wie er die Autobahn baute. Man fand im Wald Bäume, aus deren fächerartig angebrachten Ritzen Harz in kleine Tontöpfe floss. Bekanntschaft mit den ersten Zecken.
Das Pilzesuchen wurde zur festen Einrichtung am Sonntag im Sommer. Die Kinder lernten die vielen Arten von Pilzen da draußen unter Anleitung des Vaters kennen. Zurückgekehrt in die Schillerstraße ging es ans Pilzeputzen. Die Mutter weckte Pilze ein (manchmal gingen die Gläser auf, weil gegoren und damit verdorben) oder man trocknete sie in der Sonne.

Tiere

Der Vater hatte seinen ersten Karnickelstall gebaut. Dann kam der Hühnerstall dran: abends, wenn der Vater vom Büro nach Hause kam, wurde im Hof am Küchenfenster ein „Galgen“ montiert, der eine ganz helle Glühbirne hielt. Es wurde der Hühnerstall gebaut: Wände und Dach wurden mit lösbaren Messingschrauben zusammengehalten; außen mit Dachpappe verkleidet, die Ritzen geteert. Innen war alles mit Carbolineum getüncht, später mit weißer Kalkfarbe überstrichen. Im Innern waren Sitzstangen zu finden und Fallnester zum Eierlegen.
Der Hühnerstall war so gebaut, dass er später, wenn es nach Bernau gehen sollte, wie eine Baracke ab und wieder aufgebaut werden konnte.
Dieter „durfte“ krumm geschlagene und wieder heraus gezogene Nägel gerade klopfen, eine fiese und nicht gerade beliebte Arbeit.
Eine Frau brachte lebende Hühner. Damit diese zusammen blieben, wurde im Hof um den Hühnerstall ein hoher Zaun gezogen, so hoch, dass auch die „Italiener“ nicht mehr drüber fliegen konnten. In die Karnickelställe zogen die ersten Kaninchen ein.
Im Waschküchenhaus gab es eine Stallabtrennung, gut für die erste, weiße Ziege Grete. Grete bekam ein Lämmchen. Als dieses dann selber „Mutter“ wurde, kamen noch mal Lämmer dazu. Eine Zentrifuge kam ins Haus, mit der der Rahm von der Ziegenmilch getrennt wurde. Also kam auch eine Buttermaschine dazu - Ziegenbutter. Die Ziegenbutter wurde, weil sie so weiß war, mit Kuhbutter eingefärbt.
Dieter begleitete den Vater auf dem Fahrrad nach Schulzendorf zum Schwarzen Weg zum Futterholen. Da war eine Wiese gepachtet worden. Dieter hatte das ewige Pech, in den Wasserlöchern mit der schwarzen Brühe auf dem Weg notzulanden, dass er sich dann am Graben säubern musste, also nicht beim Grasrechen helfen konnte. Dafür aber konnte er den Wasserläufern zuzusehen, die auf dem Wasser schlidderten.
Auf Vaters Nachttisch stand ein zylindrischer Koffer, in dem eine elektrische Heizung die eingelegten Eier bebrütete - das war sicherer, als die Hennen glucken zu lassen. Die geschlüpften Küken kamen in ein extra geheiztes Holzhäuschen, bis es draußen nicht mehr zu kalt für sie war. In den Hühnerhof kamen sie erst, wenn die ersten Hähnchen von ihnen mit dem Krähen anfingen, Töne wie von einer Blechtrompete. Die Eier der Hühner wurden sortiert und gestempelt. Einige der Eier wurden verkauft.
Enten kamen dazu, die schmadderten vielleicht. Man sah wie ein Schwein aus, wenn man in das Entengehege krabbeln musste, um Näpfe zum Säubern heraus zu holen.

Pucki

Wenn mal wieder ein Wolkenbruch die Gullys in der Schillerstraße, direkt vor der Tür zum Grundstück, voll laufen ließ, kam ja einiges in diesen Kurzzeit-Teich: die Enten, die Hunde. Pucki musste sich einmal ganz gewaltig gegen den Terrier aus Schillerstraße 40 wehren; als die Mutter mit einem Eimer Wasser dazwischen ging, ließen beide Hunde von einander -
nur Pucki ging mit erhobener Rute nach Hause, Sieger?
Pucki lag neben der Küken-Einzäunung und döste in der Sommersonne. Ein Küken pickte so durch den Zaun auf Puckis Nase und das immer wieder bis ... ja, bis er nach dem Störenfried durch die Zaunmaschen langte. Das Küken blieb vor seiner Nase leblos liegen. Pucki zog es aus dem Gatter heraus, trug es ganz behutsam in die Veranda, legte das Küken vor sich unter der Sitzbank nieder.
Als die Mutter das sah, machte Pucki ein trauriges Gesicht, so als wollte er sagen: „Tut mir sooo leid, ich wollte das nicht“ – die Mutter kann die Wahrheit der Geschichte beschwören.

Sommerzeit

Vom einstigen Rasen im Garten war nicht viel übriggeblieben. Viel Fläche im Garten war für Gemüse und Obst freigemacht worden. Das kleine Stückchen Rasen war gerade gut genug zum Aufstellen der großen, verzinkten Wannen und Bottiche. In sie kam im Sommer Wasser, das am Morgen und Abend zum Gießen bestimmt war. Am Tage konnten die Kinder in dem Wasser planschen, ließen sich manchmal auch das neue Wasser in den Po spülen.
Nörli stand vor der Veranda in ihrem Laufstall. Jetzt war sie schon so groß, dass sie das Gitter zu den Johannisbeersträuchern schieben konnte. Sie futterte die grünen Beeren und ... - mehrmals am Tag konnte die Mutter Gitter und Kinderstühlchen im Wechsel säubern, weil Nörli sofort wieder die Stäbe mit dem, was in Windel oder Hose zu finden war, braun einfärbte.

Gaslicht

Abends vorm Dunkelwerden kam Dieter vom Einkauf bei Stümer‘s zurück, blieb an der Gaslaterne, Ecke Schillerstraße und Markgrafenstraße, stehen, schaute hinauf zum Glühstrumpf in der Lampe. Noch brannte nur die schwach blaue Zündflamme, er lauerte darauf, wollte erleben, wie das Gas kam und dann die Laterne ein helles Licht abgab. Dieter bemerkte nicht, dass der Vater schon eine ganze Weile neben ihm gestanden hatte. Nun erklärte er Dieter das Funktionieren. Das war auch später interessant, wenn es andere Leuchten zu sehen gab. Eichwalde hatte eben nur Gaslicht, jede Laterne hatte zwei Glühstrümpfe.

Bahnhof Eichwalde

Der Vater hatte ein bis zwei Koffer bei sich, in denen sich je zwei Blechka-nister befanden. Die Großen fuh-ren die Koffer morgens den
Vater begleitend zum Bahnhof. Vater und Großvater fuhren mit der Vorortbahn nach Grünau, stiegen dort in die Stadtbahn um und fuhren bis Bahnhof Friedrichstraße, eilten dann die Rolltreppen hinunter, gingen weiter zur Behrenstraße zur Versicherung „Friedrich Wilhelm“.
Abends holten die Kinder den Vater wieder vom Bahnhof ab. Er brachte die Koffer wieder mit. Die Kanister darin waren mit Resten aus der Büro-Kantine gefüllt: Futter für die Tiere.
Da am Treppenaufgang des Bahnhofs gibt es ein Lädchen. Ein Süßwaren-Kiosk war das. An Ultimo durften die Kinder mit dem Vater in den Kiosk und sich einige Süßigkeiten aussuchen, also einmal im Monat. Der Großvater brachte von Bolle Sahnebonbons in Flaschenform und Rosinen-Schokolade mit.
Wenn der Großvater vom Großmarkt kam - da zog es ihn immer hin, war er doch da der „Chef“, der sich mit Pilzen auskannte. Er brachte Schachteln Kieler Sprotten und Bücklinge mit.
Wenn er dagegen vom Botanischen Garten kam - da nannte man ihn den „Direktor“ -, hatte die Mutter im Garten wieder neue Pflanzen und Stecklinge zu versorgen (seine „Versorgung“ der Pflanzen bestand darin, mit seinem Schuh eine Kuhle zu scharren, die Mitbringsel darin einzulegen und mit dem Schuh einfach Erde drüber zu scharren, und alles wuchs an !).
Großvater hatte viele Semester Botanik studiert, nicht jedoch Jura, bis ihm sein Vater den monatlichen Scheck strich, und er dann Korrespondent bei der „Friedrich Wilhelm“ wurde.
Auf der Schulzendorfer Seite des Bahnhofs war die Haltestelle der Buslinie „Dahmetal“, auf der Eichwalder Seite fuhr ein Post-Bus nach Wernsdorf ab.
Wenn man ein Auto brauchte, dann fuhr eine der beiden Eichwalder Taxen, die am Bahnhof ihren Standplatz hatten, vor. Die eine Taxe war ein Horch, die andere, die Herrn Beyer gehörte, war ein Mercedes.


1938


Parade

Zum 20.April. Eichwalde bekam Einquartierung. Militär-Einheiten, die zur Parade nach Berlin mussten, wurden in Eichwalde untergebracht. Eine motorisierte Einheit; die Kübelwagen und Mannschaftswagen wurden geputzt und aufgetankt und machten dann mit den Kindern kleine Rundfahrten.
Vater fuhr mit Dieter in den Tiergarten zur Parade. Sie standen an der Ostwestachse (der heutigen Straße des 17.Juni). Man hatte mit Taschenspiegeln Periskope gebastelt, damit man über die in der Sicht stehenden Großen hinwegsehen konnte. Dieter fand aber noch vor der Absperrung einen Platz, wo er sich hinhocken konnte. Er konnte ohne Hilfsgerät alles sehen.
Nach der Parade kamen die Soldaten wieder zurück nach Eichwalde. Die Fahrzeuge wurden aufgetankt, wieder durften die Kinder mitfahren, die Soldaten verschenkten ihre Schokoladen-Ration, die sie eigentlich als Verpflegung während der Parade haben sollten. Am Abend veranstaltete die Partei auch in Eichwalde einen Fackelzug. Die Jugend lief mit. Ein langer Tag! Dieter holte man schlafend vom Klo.

Gartenarbeit

Die Fleischmann’s hatten in Eichkamp beim Anbau einer Tiefgarage mit zwei Zimmern oben drüber ausgebaute Fenster übrig. Die ergaben im Eichwalder Garten die Abdeckung von Mistbeeten. Eine Erdpresse wurde angeschafft, mit der man verschieden große Erdtöpfe zum Einpflanzen von zu pikierende Sämlingen herstellen konnte. Gegen die Fröste bis zu den Eisheiligen schützten keglige Hauben aus Wachs-Papier, die dann mit Größerwerden der Buschbohnen nach und nach auf-gerissen wurden.
Zur Gartenarbeit gehörte auch das Entleeren der Sickergrube - das Grundstück hatte keinen Kanal-Anschluss. Die Jauche wurde mit einem Schöpfer aus der Tiefe geholt und mit Eimern weiter auf die Komposthaufen verteilt. Auch der Mist der Tiere wurde unter den Haselnuss-Büschen am Zaun der Wilkes aufbewahrt. Der Vater machte Versuche mit der Brikett-Asche: ganz tolle Zwiebeln! An den Wasserschlauch wurde eine große Büchse (Düse) angeschlossen, aus der das durchfließende Wasser das „Übermangansaure“ löste. Mit einem Topf mit Grießbrei ging es zu den Kohlpflanzen, um von diesen die Raupen des Kohlweißlings einzusammeln.
Süßkirschen und Schattenmorellen waren die ersten Früchte im Garten. Einkochzeit! Erdbeeren, Pflaumen. Es war keine besonders beliebte Arbeit, die Johannesbeeren zu ernten - also etwa zwanzig Sträucher gab es im Garten. Die Fruchtpresse musste gedreht werden - die Zeit der Roten Grütze und: Dieters Lederhose hatte vom Abwischen der vom Saft genässten Hände das Aussehen wie das Hinterteil eines Pavians.
Im Birnenbaum lebte jedes Jahr eine Hornisse, man bekam sie nicht weg. Das erste Fallobst. Gemüse kam ins Haus: erst der Salat und Radieschen, dann der Mangold, die Möhren, Bohnen, Erbsen, Kohlrabi, Gurken, Blumenkohl, Weiß- und Wirsingkohl; Rosen- und Grünkohl warteten auf den ersten Frost.
Der Herbst bescherte Äpfel. Ein lebendiges Bild im Garten. Nicht zu vergessen: die Blumenpracht in den Rabatten links und rechts vom Klinkerweg inmitten des Gartens - Mutters besondere Liebe, begleitet von Großvater, der eben allerlei Pflanzen und Stecklinge aus dem Botanischen Garten anbrachte. Die trockenen Bohnen der Feuerbohnen vom Bär’schen Zaun waren das Spielgeld. Die Äpfel wurden im Keller aufbewahrt. Die Bäume verloren ihre Blätter. Raureif und Nebel hielten ihren Einzug, Krähen strichen über die Gärten.
Ecke Grünauer Straße - Bahnhofstraße
An der Ecke Grünauer Straße und Bahnhofstraße gibt es den Laden von Foto Wollermann (und den Laden gibt es immer noch!). Ganz selten gab der Vater da mal einen Film zum Entwickeln ab. Der Vater knipste noch immer auf Glasplatten, die er ja selbst entwickelte.
Gegenüber von Wollermann zum Bahnhof hin gab es eine Kneipe.
Und gegenüber von Wollermann auf der Bahnhofstraße gab es den Häuserblock, wo Lehrer Staerke wohnt. Da gab es einen Friseur – Dieter ist beim Warten bis zum Haareschneiden mal weggelaufen, weil im Dämmerlicht die Haartrockner der Damen so einen Lärm machten.
Nebenan gab es einen Papierladen, der die Schreibhefte für 10 Pfennige verkaufte, ein anderer Laden gab sie schon für 8 Pfennige ab - zehn Pfennige pro Heft hatten die Kinder mitbekommen, für zwei Pfennige konnte man sich Brausepulver holen.
Und auf der anderen Ecke gab es eine Heißmangel.

Zuwachs

Mai. Zwei Autos gab es in der Schillerstraße, einen Opel P4 und einen Opel Olympia. Die Familie hatte kein Auto, dafür besuchte sie Onkel Schrader aus Leipzig mit seinem DKW Meisterklasse. Auch Onkel Löhr aus Neukölln mit seinem Ford Eifel parkte sein Auto vor dem Grundstück.
Mit der Taxe holte der Vater mit den Kindern die Mutter mit dem „frisch gelieferten“ Schwesterchen Ilse aus der Klinik in Karlshorst ab - ein kleiner „Maikäfer“. Der Vater hatte die Kinder mit Vergißmeinnicht-Sträußchen ausgestattet - eine ganz tolle Fahrt, Man hatte kaum einen Blick für das, was draußen vorbei flog, die Blicke galten der kleinen Schwester.
Ilschen wurde nicht getauft, für sie gab es das Fest der Namensweihe - eigentlich eine Fete für die Erwachsenen. Besuch war gekommen, also auch Autos, und der Besuch übernachtete im Hotel am Stern.

Schlachterei

Nörli, so klein sie war, schaffte es, den Hebel der Torfalle zum Hühnerhof anzuheben und damit in den Hof zu gelangen. Sie schnappte sich die zahmste Henne, die Nummer 1, klemmte sie sich unter den Arm und lief zur Mutter ins Haus: „Mutti, ich haaaab die Ei....nnssss !“
Die Eltern hatten sich zum Opernbesuch in Berlin verabredet „Parseval“. Zum Mittag kam die Mutter in den Ziegenstall, sah dort die Lämmer mit Koliken am Boden liegen.
„Elfriede! Schmeiß’ das Messer raus!“.
Notschlachtung! Die Lämmer wurden getötet und ausgeweidet. Dann fuhr Mutter in die Stadt. Am Abend nach der Opernvorstellung haben die Eltern den Tieren die Felle abgezogen.
Es war immer so eine rauhe Sache: wenn Tiere geschlachtet wurden. Hühner und Kaninchen, das ging ja noch:
Schlag ins Genick, dann mit dem Messer die Gurgel durch-schnitten, an den Füßen kopfunter am Fahrradschuppen zum Ausbluten aufgehängt.
Enten und Gänse waren dabei hartnäckiger: sie zuckten noch eine Weile mit dem Kopf hin und her, gaben sogar noch Laute von sich.
Beim Eierausbrüten mit dem Brutapparat wollte Vater vermeiden, dass so viele Hähnchen dabei waren. Er hängte seinen Ehering an einem Faden auf und ließ ihn über jedem, zum Brüten bestimmtes Ei pendeln. Wie das Pendel so ausschlug, sollte es eine Henne oder ein Hahn sein. Naja, irgendwie mag das Ergebnis gestimmt haben, weil doch mehr Hähnchen als Hühnchen herauskamen. Als die Hähnchen groß genug waren, wurden sie allesamt geschlachtet und „koppheister“ an einem Besenstiel aufgehängt - wie bei Wilhelm Busch’s Witwe Bolte.

Volksfest

Sommer. In der Schule hatte man schon gelernt, dass Eichwalde in dem Jahr 45 Jahre alt wird. Ein großes Volksfest wurde veranstaltet. Ein Umzug fand statt.
Der NSV-Kindergarten hatte einen eigenen Wagen, Bärbel saß mit drauf. Der Festplatz war auf dem Grundstück Bahnhofstraße Ecke Landgrafenstraße. Auf dem Festplatz gab es Fahrgeschäfte. Und vieles, was Freude machte.
Die Freude war noch einen Tag nach dem Besuch dort zu sehen: auf dem Rückweg kamen sie in ein Gewitter, das just mit dem Feuerwerk begann; Dieter trug einen grünen Hut aus Krepp-Papier, der seine Farbe für Tage im Haar und am Hals absetzte.

Milch

Da gegenüber vom Festplatz war ein Milchladen. Der Inhaber fuhr mit einem Dreiradauto die Milch aus. Der zweite Milchladen war in der Markgrafenstraße, gerade so gegenüber wohnte Dieters Schulfreund Günter Kißmann. Und der dritte Milchladen lag in der Bahnhofstraße. „Bolle bimbim, die Sahne is dünn, die Milch is dick, Bolle is verrückt!“ Bolle fuhr die Milch mit einem Elektro-Auto aus und mit einem Handkarren.
Die Jungs setzten sich nach getaner Arbeit zur Rückfahrt hinten auf die Rücksitze des Elektro-Autos und ließen den Karren mitziehen.

Wasserversorgung

Das Haus in der Schillerstraße hatte eine eigene Wasserver-sorgung - eine elektrische Pumpe war neben einem großen Kessel im Keller unter der Treppe aufgestellt. In dem engen Keller stand Wasser. Erst glaubte man, der Kessel wäre defekt. Doch das war Grundwasser, das die Keller in dieser Gegend flutete. Das Wasser war eisenhaltig, man sah es an der Spur in der Badewanne: rostig.

Wege

Zum Flöten-Unterricht mussten Dieter und Bärbel zu Musiklehrer Langner (in der Stubenrauch-Straße), später auch zum Klavier-Unterricht. Sie kamen da immer an einem Grundstück in der Landgrafenstraße (heute Bruno-H.-Bürgel-Allee) vorbei. Ein Schulkamerad wohnte in einer weit ins Grundstück zurückgezogenen Villa, ein schmiedeeiserner Zaun grenzte das Grundstück ab. An einem Tag im November war plötzlich der Zaun des Grundstückes umgestoßen. Bald danach kam der Schulkamerad nicht mehr zur Schule. Hatte das etwas mit der Reichskristallnacht zu tun?

Herbst

Die Haustochter, Ilse Mewes, aus Schulzendorf meldete sich ab, musste zum Reichsarbeitsdienst. Von nun an kamen Pflichtjahrmädchen zu Mutters Hilfe.
Es wurde Verdunklung geübt. Die Fenster wurden zugehängt, die Außenlichter wurden gelöscht. Die Läden und Gaststätten hatten im Windfang dichte Vorhänge angebracht.
Zur Ausstellung des Kleintierzüchter-Vereins wurden die Zwerg-Whyandotten gebadet und einzeln in Käfige gesperrt. Mit dem Handwagen ging es in Richtung Schulzendorf zum Ausstellungsort. Hund Pucki war in dem Badewasser auch gleich mit geputzt worden - er juckte sich danach unablässig, weil er davon Hühnermilben geerntet hatte.
Die Mutter fuhr mit den Kindern nach Berlin zu Tietz, Herzog und Karstadt. Zum Einkleiden. Sie bekamen tolle Stiefel bei Leiser, alle hatten die gleiche Form - so konnte jeder Nachfolger in die des Vorgängers hineinwachsen. Sie besuchten auch das KaDeWe , wo die Mutter vor der Heirat Buchhändlerin gelernt hatte.
Im Radio hörte man die „Heimkehr der Ostmark ins Reich“. Aus der Schropp’schen Buchhandlung in Berlin - Großvaters beliebter Buchladen - bekam Dieter eine Deutschland-Karte, die alles auch bis nach Ungarn zeigte. Aber, was bedeutete den Kindern das?!

Überraschung

Kurz vor Weihnachten schlichen die Kinder an einem Abend hinunter vor die Esszimmer-Tür. Da kamen so komische Geräusche durch die Tür. Und da das Leisesein nicht ohne Husten und Niesen abging, wurden die Eltern auf die Lauscher an der Tür aufmerksam. Tja, das Geräusch kam von der „Weckuhr für die Hühner“ – Die Kinder mussten das glauben, hatte doch der Vater den Hühnern eine Nachtbeleuchtung im Stall eingebaut, damit diese auch des Nachts zu den Legenestern finden konnten. Übrigens gackerte der ganze Hühnerhof, wenn im Nest mit Falltür ein Huhn mit dem Legen fertig war und raus wollte; die Mutter ging dann raus, befreite das Huhn, merkte sich die Nummer am Flügel des Huhnes und trug das gelegte Ei in ein Buch ein.
Zu Weihnachten entpuppte sich die Weckuhr als elektrische Lokomotive für Dieter. Spur Null, Märklin. Die Gleise, auf der bisher die Uhrwerkslok (der AEG-Bulle aus Oberschöneweide) fuhr, bekamen eine Stromschiene eingesetzt. Aus alten Spur-1-Schienen baute der Vater auf Buchenholz-Schwellen Gleise auf, richtig mit Blaupinnen genagelt. Auf langen Strecken ging es vom Kinderzimmer zu Opa ins Zimmer mit An-stieg über die Türschwelle. In einer großen Holzkiste unterm Bett wurden Schienen, Häuser und Fahrzeuge verstaut.
Die Mädchen hatten ihre Schildkröte-Puppen bekommen. Das Puppengeschirr stand auf Kindertisch und neben dem Puppenherd. Man musste die Kinder schon hinaus treiben in den Wintertag, so viel Spaß hatten sie da oben in den Zimmern.

Schwarzwaldmädel

In der Schule mussten ältere Schüler auf die Erstklässler aufpassen, wenn sie keine Lehrkraft hatten. Das Mädchen aus der Schmöckwitzer Straße, Sonja Ziemann , war beliebt, für ihr Aufpassen haben sie sie dann begleitet, wenn sie zum Ballett-Unterricht ging. Jahre später haben die Schüler sich die Nasen plattgedrückt an den Schaukästen am Kino - rein ins Kino durften sie da nicht, weil eben nicht alt genug.



1939


Krieg

Ein neues Jahr. Am Radio hatte man den Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland gehört. Der Egerländer Marsch wurde immer und immer wieder gespielt.
Ein Tag im Sommer, Dieter fragte die Mutter, als er aus der Schule kam: „Mutti, was ist das, Krieg?“ - „Ach, Kind, nichts Gutes.“ Große Zettel lagen auf dem Küchentisch. Lauter Felder mit Text und Nummern waren darauf eingedruckt. Sie lernten bald kennen, was diese Zettel für einen Sinn hatten: Zuteilungskarten für Lebensmittel und andere, nun rationierte Dinge. Anfangs konnte die Mutter die zugeteilten Waren nicht alle kaufen, wurde doch noch fleißig für das Haus gespart, das aber, weil nun Krieg war, nicht gebaut werden konnte, es sollte doch nach Bernau gehen.
Wenn es nach Berlin rein ging, sah man am Betriebsbahnhof Schöneweide aufgestapelt die Wände von Güterwagen - man hatte sie abmontiert, um Kriegsmaterial auf den Plattformen zu transportieren. Als der Vater mit den Kindern das Museum für Meereskunde besuchte, waren die Abteilungen mit den neuen Schiffen gesperrt - aha!
Aus dem Lautsprecher hörte man Marschmusik, Nachrichten, Sondermeldungen. Polen war besetzt.
Sonst war nicht viel zu spüren vom Krieg, da gab es eben viele Uniformen. Eichwalde lag ja seitab von wichtigen Verkehrsadern. An Sonntagen ging es mit dem Vater hinaus in die Wälder diesseits und jenseits der Dahme zum Pilze suchen.
Es wurde schwierig, Futter für die Tiere zu bekommen. Doch noch blieb die Schar der Tiere in ihrer Zahl erhalten. Heizmaterial bekam man nur noch beschränkt.
Opa Müller kam ins Krankenhaus. Weihnachten ohne Opa.

1940


Abschied

Gleich nach Neujahr ist Opa Müller gestorben. Sein Zimmer war dann nicht mehr geheizt worden. Das Aquarium war ein einziger Eisblock geworden, darin die Fische und Pflanzen. Hund Pucki ließ sich nicht anfassen, saß auf dem Gartenweg und wartete auf „Herrchen“ – die Mutter brachte ihn fort, kam ohne ihn wieder.
Zum Anstehen nach Kohlen beim Kohlenhändler in der Bahnhofstraße hatte Dieter viele Paar Socken und Großvaters Stiefel angezogen. Es war kalt, es hatte geschneit. Mit zwei Säk-ken Briketts auf dem Schlitten kehrte Dieter nach Hause zurück. Auch der Eltern Schlafzimmer wurde nicht geheizt. Man kroch zusammen, bis endlich der Frühling die Erlösung brachte. Das Aquarium mit den eingefrorenen Fischen stand im Garten zum Auftauen.
Norwegen, Belgien, Holland wurden besetzt.

Alarm

Die erste Bombe wurde von den Engländern über Eichwalde abgeworfen: sie machte einen Trichter auf dem Grundstück Schmöckwitzer Straße Ecke Kurfürstenstraße. Der Dentist in der Schmöckwitzer Straße will in die Badewanne geschleudert worden sein.
Dieter musste jetzt alle Bücher aus Opas und Vaters Bibliothek aufschreiben: Titel, Verfasser, Verlag, Auflage und Datum. Alles in ein Schreibheft. Dieter hat nebenher viel gelesen, liebte viele der Bücher.
Frankreich wurde besiegt. Soldaten zogen durch das Brandenburger Tor. Eigentlich hätte jetzt der Krieg aus sein müssen. Der Vater wurde einberufen. Bevor er Berlin verließ, konnten sie ihn in einem Tanzsaal in der Chausseestraße noch einmal besuchen und sich von ihm verabschieden. Er kam zur Grundausbildung nach Polen. Danach kam er zum Zollgrenzschutz nach Pommern.
In der Schule sammelte man Werkzeug und Material für die Soldaten hinter Narvik in Norwegen, damit sie damit Spielzeug basteln konnten. Lehrer Zinngraf und Lehrerin Tengler bereiteten Dieters Klasse für den Übergang zur Oberschule vor.

Ein Brüderchen

Noch vor Weihnachten nahm das Pflichtjahrmädchen die Kinder mit dem Schlitten zu ihren Eltern nach Miersdorf, sie verbrachten dort einen netten Nachmittag. Als sie nach Hause zurückkehrten, hatte die Familie ein Brüderchen bekommen, Uli. Abends kam Fliegeralarm, doch ehe man ums Haus in den Keller ziehen konnte, kam schon Entwarnung.
Zu Weihnachten hatte der Vater Urlaub. Man konnte wunderschön feiern. Aus Pommern hatte er Hartwürste und Brot mitgebracht.
Die Schule hatte nicht genug Kohlen zum Heizen bekommen. Also gab es nur einmal in der Woche einen Schultag, „Kältefrei“, sie saßen dann in ihren Mänteln im Klassenzimmer, erhielten Hausaufgaben und zogen damit bis zur nächsten Woche wieder nach Hause. Eine ungeheizte Schule war ungemütlich. Im Heizungskeller brannte nur ein Koksofen, damit das Wasser in den Heizkörpern nicht einfror.
Die Mutter kam mit feuchten Händen von draußen aus der Waschküche. Sie blieb mit der Hand an der eiskalten Türklinke hängen, angefroren. Sie hatte nicht weiter auf die Froststelle geachtet, bekam eine Blutvergiftung, musste operiert werden. Sie konnte Uli nicht versorgen.

Die NS-Frauenschaft kam, sollte helfen – die Mutter hat die „eingebildeten Weiber“ verjagt, weil sie nur quatschten und nicht halfen.
Vom Roten Kreuz kamen Schwestern, versorgten den kleinen Bruder – die Mutter trat dem Roten Kreuz bei, bekam eine Uniform und nahm an den Ausbildungsabenden teil.

1941


Veränderungen

Die Zehnjärigen wurden Pimpfe im Jungvolk. Schwierig, eine komplette Uniform zu bekommen, die gab’s für die Eichwalder in Köpenick und das für die Hälfte der Punkte auf der Kleiderkarte. Jeden Mittwoch-Nachmittag und samstags hatten die Jungs Dienst. Zur Pimpfen-Probe hielten sie am Springsee ein Zeltlager ab - der Handwagen war mit von der Partie.
Nun waren der Balkan und Griechenland von deutschen Truppen besetzt worden.
In diesem Jahr wurde der Schuljahreswechsel vom Ostern auf Herbst verschoben. Hei! Hatten alle da lange Ferien! Die Mutter brachte Dieter zum Anhalter Bahnhof - er trug die Pimpfen-Uniform und mußte ein Schild mit „wer und wohin“ tragen (das er aber nach Abfahrt des Zuges verschwinden ließ) - er durfte zu Oma Müller in den Südharz fahren. Eine schöne Zeit.
Sie sammelten Buntmetalle und Schrott. Alles wurde in große Klappkisten im Schulhof neben der Turnhalle gelagert. Sie sammelten mit und unter Leitung von „Bommel“ Heilkräuter. Die wurden in der Turnhalle zum Trocknen ausgelegt.

Umsteigen

Im Herbst wechselte Dieter mit einigen Schulkameraden hinüber in die „Oberschule für Jungen“. Los ging es mit dem „blöden“ Vokabel-Lernen, los ging es mit dem Lieblingsfach „Mathe“. Dieters Berufsziel stand fest: Förster wollte er werden. Das ging so etwas von Opa Müller her.
Die Schüler erfanden Gründe, dann und wann keine Schularbeiten zu machen wegen Dienstes beim Jungvolk. Wenn für’s Winterhilfswerk (WHW) gesammelt wurde, haben sie die Büchse genommen, haben einfach eine Bahnsteigkarte gelöst (10 Pfg), um damit die Sperre passieren zu können. Sie bettelten die Leute auf dem Bahnsteig an; klamm heimlich mit dem Zug nach Grünau und da mit der S-Bahn einmal den ganzen Ring lang gefahren, dabei auch kräftig gebettelt.
Krieg gegen Russland! Immer neue Sondermeldungen tönten aus dem Radio. Immer mehr Nachbarn wurden eingezogen.
Der Vater war jetzt in Jüterbog. So alle vierzehn Tage konnte er nach Hause kommen. In seiner Freizeit sägte er Menschen und Tiere aus Sperrholz und baute Häuschen dazu, die den Tieren als Verpackungskiste dienten. Vor Weihnachten setzten die Mutter und Dieter sich in das nun auch nicht mehr geheizte Wohnzimmer und bemalten die Figuren - es brauchte lange, bis die Farbe trocknete.
Und Weihnachten: Der Vater war zum Heiligabend da!
Nun sind die Amerikaner auch im Krieg gegen Deutschland.

1942


Einschränkungen

Den neuen Schlitten, den die Kinder zu Weihnachten bekommen hatten, brachten sie zur Schule in die Turnhalle: Schlitten, Skier, Wollsachen, Stiefel, Pelze für die Soldaten an der Ostfront! Ein kalter Winter.
Der Vater landete in der Greifswalder Straße in Berlin bei den Landesschützen. Wie den ganzen Krieg schon: in der Schreibstube. Er war in der Nähe der Familie.
In Eichwalde gab es keinen Friseur mehr. Also fuhr Dieter zum Vater in die Kaserne, wo auf dem Zimmer, das der sich mit acht Kameraden teilte, ein Kamerad das Haareschneiden übernahm, Militärschnitt! Dieter fuhr da regelmäßig hin, die Soldaten an der Wache kannten ihn schon, und des Vaters Chef wollte Dieter immer die Hand geben.
Die Luftangriffe nahmen an Anzahl und Stärke zu. Der Vater baute mit einem Onkel, der Obersteiger in Dinslaken war, den von außen erreichbaren Keller zum Luftschutzkeller aus, ausgekleidet wie ein Stollengang unter Tage, dicke Stempel und Querträger, Schutz gegen die Decke, Kojen zum Schlafen.
Wenn der Deutschlandsender - das war der Mittelwellensender in Königs Wusterhausen - seine Sendungen „wegen Einflug feindlicher Kampfverbände“ einstellte und ein Wobbler dafür ertönte, lief die Mutter sofort zur Toilette - jedes Mal. Bald darauf heulten dann auch schon die Sirenen auf, erst Voralarm, dann oft gleich danach Vollalarm. Alle mussten im Dunkeln die sorgsam hingelegte Kleidung anziehen, das Bettzeug zu-sammenrollen, unter den Arm nehmen, vorsichtig die Treppe - auch im Dunkeln - hinunter, hinaus in die Nacht, rum ums Haus in den Keller.
Die Großen hatten die Kleinen zu betreuen. Dieter musste als „Vater-Vertreter“ (11 Jahre alt) die Runde durch Haus und Garten machen, ehe er sich in die Koje verkriechen konnte, sich in die Bettdecke einwickelte und die Ohren abdichtete, nur um nicht das Rumoren der Flak und der Bomben hören zu müssen. Man konnte so schlafen, wenn der Alarm länger dauerte. Wenn der Vater zufällig da war, dann stand Dieter mit ihm im Kelleraufgang, sie schauten dem Lichterspiel aus Scheinwerfer-Lichtkegeln, Christbäumen , explodierenden Artillerie-Geschossen und Rötung des Himmels durch Brände zu.
Der Vater bot Dieter eine Zigarette an „Nun rauch´ man, ihr raucht doch sicherlich heimlich!“ - das Spiel mit dem Rauchen hatten sie schon längst hinter sich! Mutters Blasentee mit Vaters Durchschlag-Papier da hinten in der Höhle im Kuschel-Grundstück, das interessierte nicht mehr.
Mit der Mutter durfte Dieter zur Kur ins Altvatter-Gebirge hinter Glatz fahren. Sie brauchte Erholung, warum: später! Es war wunderschön da droben, die Landschaft wunderschön, die Leute dort, weit weg von Bahn und Hauptstraße, waren ärmlich. Die Mutter blieb noch etwas länger dort, Dieter musste alleine nach Hause, Schulanfang.
Der Schwager der Mutter, Onkel Ernst, Sport-Dozent an der Uni, jetzt Offizier in der Bendlerstraße, kam nach Russland. Eine Vermissten-Meldung blieb von ihm. Durch Onkel Ernst erbte Tante Trudel, Mutters Schwester, ein Haus im Odenwald. Man schloss das Haus in Eichkamp ab und zog nach Erbach.

1943


Sechs Geschwister

April. Gleich am ersten Tag kam Schwesterchen Uschi ins „Dreimäderlhaus“.
Und abends kam auch prompt Alarm.
Ehe die Mutter auf der Trage zum Transport in den Keller lag, war der Spuk schon wieder zu Ende.
Nun waren sie sechs Geschwister.
Die Mutter bekam das Silberne Mutterkreuz.
Es gab keine Pflichtjahrmädchen mehr. Aus der Ukraine, aus Kiew kam Wera ins Haus. Sie wohnte bei ihnen in der Mädchenkammer, musste also nicht ins Lager, brauchte auch nicht die zugeteilte Ostarbeiteruniform tragen, auch nicht das Abzeichen der Ostarbeiter. Mutter wollte das so, auch wenn’s verboten war. Anfangs tat Wera so, als könnte sie kein Deutsch - bis Mutter heraus bekam, dass sie deutsch lesen, schreiben und auch hören konnte. Ein Muffelkopf, faul, bis ein Onkel mal mit „Gestapo“ (????) drohte.
Die Landesschützen machten eine Wehrbetreuungsfahrt, mit dem Dampfer von den Anlegestellen im Treptower Park hinaus zum Kleinen Müggelsee. Die Familien der Soldaten, die in und um Berlin wohnten, durften mit (auch Wera wurde mitgenommen). Essen gab’s aus der Gulaschkanone. Einige Soldaten machten Musik.
Schule war Schule, Dienst war Dienst. Lehrer wechselten, Jungvolk-Führer verschwanden, wurden zur Wehrmacht eingezogen. Es blieben nur die Älteren. Das Lernen machte kaum Spaß: man lauerte schon darauf, dass die Glocke läutete und der Ruf „Ell-Fuffzehn“ durch die Flure schallte. Dann nix wie ab nach Hause - schlimm für die Zeuthener, die das nie bis nach Hause schaffen konnten.
Das Haus in Eichkamp war abgebrannt, zu der Zeit, wo die auf der anderen Seite der S-Bahn liegende Deutschlandhalle auch getroffen wurde. Opa Tönse‘s Zeitungsarchiv war von Hitze und Wasser pulverisiert worden. Tante Trudel bat die Mutter, mit den Kindern in den Odenwald zu kommen. Wir blieben. Hielten die Alarme aus.

Die Nacht vom 23. zum 24.Dezember 1943

Am Abend gegen 21/22 Uhr gab es Fliegeralarm. Kurz vor Mitternacht kam die Entwarnung. Normalerweise war damit für die Nacht alles erledigt. Aber gegen 2 Uhr kam wieder Alarm und so schnell. Kaum waren sie ums Haus herum im Keller, ballerte die Flak los - das war die Eisenbahn-Flak, die am Betriebsbahnhof Schöneweide stand, jetzt hier bei Eichwalde. Christbäume! Au weiha! Eichwalde ist dran! Man hörte die Flak, das Explodieren von Bomben, auch das Gurgeln beim Herunterfallen.
Um 6 Uhr war der Spuk vorbei. Sie konnten wieder aus dem Keller. Der Himmel war rot, es stank nach Brand. Nachbarn rannten mit Löscheimer und Schaufel los, die Mutter und Dieter mit: in der Schillerstraße so Ecke Markgrafenstraße hat es das Haus der alten Damen erwischt, es brannte lichterloh. Alle schleppten Wasser und Sand heran. Herr Bär, der Nachbar - war beim Technischen Notdienst - schleppte mit einem anderen Mann das Klavier heraus, beim Versuch, weiteres Mobiliar zu retten, sauste ihm ein brennender Balken auf den Rücken - es war aber noch alles gut gegangen.
Im Morgengrauen kehrten Mutter und Dieter heim. Doch gleich mussten sie wieder los: Schwelbrände in den Lauben! Da hatten die Eigentümer Verschiedenes vor den Bomben in Berlin retten wollen, nun brannte es hier draußen ab. Bis zum Abend - dem Heiligabend - waren Mutter und Dieter unterwegs. Schmutzig, nach Rauch stinkend betraten sie das Wohnzimmer - die Geschwister standen vor’m Weihnachtsbaum und sangen schon die Weihnachtslieder – die Heimkehrer dreckig, der Vater noch nicht da.
Eine entsetzliche Nachricht traf ein: in der Dreyer-Allee hat eine Mine das große Mehrfamilienhaus getroffen - Tote! Tage drauf musste das Jungvolk bei den Beisetzungsfeierlichkeiten Spalier stehen. Es war ergreifend, weil doch auch Schulkameraden unter den Opfern waren.
Sie entdeckten im Garten, etwa zehn Meter neben dem Haus das Loch einer im gefrorenen Boden ausgebrannten Stabbrandbombe. Sie hatten Glück gehabt.
Bei einem anderen Angriff brannte das Sägewerk Rottschäfer ab.

1944


Evakuierung

16.Januar. Wieder ein schwerer Angriff auf Eichwalde. Jetzt brannte ein Haus in der Schillerstraße durch eine Phosphor-Bombe ab; der Phosphor lief brennend die Außenwände her-unter. Man konnte das nicht mit Wasser löschen.
Im Garten, nur noch zwei Meter neben dem Haus wieder eine ausgebrannte Stabbrandbombe. Die Mutter entschloss sich zur Evakuierung in den Odenwald. Sie konnte den Vater telefonische Nachricht zukommen lassen. Am Nachmittag kam der Vater, half mit beim Packen. Es ging zum Anhalter Bahnhof. Gegen 19 Uhr verließ der Zug Berlin in Richtung Halle - Kassel - Fulda - Hanau.
Am Morgen des nächsten Tages verließen sie den Zug in Hanau - war der Zug bei Roßla wegen Fliegeralarms kurz gestellt worden, in Halle war der Bahnhof hell beleuchtet, sie fuhren im Bahnhof durch das brennenden Nordhausen, und wieder war der Bahnhof in Kassel hell beleuchtet. Von Hanau ging es bis nach Wiebelsbach-Heubach, da nach vierstündiger Wartezeit im Bahnhofsbunker, endlich am Abend in Erbach angekommen.
Sie fanden mitten im Odenwald bei einem Bauern eine Bleibe. Dieter und Bärbel kamen in das Gymnasium in Groß-Bieberau, also 5 km Fußmarsch und 15 Minuten Bimmelbahn. Wenn sie gegen 14 Uhr den Rückmarsch vom Haltepunkt der Bahn zum Bauernhof antraten, flogen hoch oben am Himmel die Bomber-Pulks nach Würzburg, Nürnberg, Schweinfurt. Man sah die Kondensstreifen. Einmal, als sie schon zuhause waren, tobte da oben ein Luftkampf zwischen den amerikanischen Bombern und deutschen Flugzeugen vom Typ Messerschmidt Me-110. Ein Ami-Flugzeug verlor eine Tragfläche und trudelte, ein Fallschirmspringer landete in der am Hof vorbeigeführten Hochspannungsleitung - man holte später das verkohlte Etwas aus den Drähten.

20.Juli 1944
.
Ferien. Dieter begleitete den Milchfahrer bei seiner Fahrt nach Bad König. Eine nette und interessante Unterhaltung so auch über den Krieg. Der Mann faselte was von etwas Bevorstehendem, ich sollte acht geben, was in den nächsten Tagen passiert.
Das Attentat auf Hitler! Meinte das etwa der Milchfahrer das? Er ward tags drauf nicht mehr gesehen worden.

Invasion in der Normandie.

Die Mutter entschloss sich zur Rückkehr - schon alleine deswegen, weil man die Wohnung in Eichwalde beschlagnahmen wollte. Die Ukrainerin Wera blieb beim Bauern zurück. Mit den Flüchtlingen aus dem Gebiet um Metz traf man in Darmstadt zusammen. Die Rückfahrt führte im Morgengrauen an dem von Bomben stark verwüsteten Leuna vorbei; anstatt mit einer elektrischen Lokomotive bespannt, wurde der Zug von einer Dampflokomotive über notdürftig reparierte Gleise geschleppt.


In das Haus in Eichwalde hatten sich die Vermieter in Opas Zimmer und der Mädchenkammer eingenistet. Das Kinderschlafzimmer war jetzt Durchgangszimmer. Es war bedrückend für die Familie in der Enge des Hauses. Hinzu kam Aurelia aus Litauen als Ost-Arbeiterin, die der Mutter zur Hand ging. Die Kinder sind nicht gerade nett mit der Frau eines litauischen Offiziers - vermisst - umgegangen, sie aber blieb immer freundlich und bescheiden, sorgte in Mutters Abwesenheit - Rotes Kreuz - für die Kinder. Die Mutter ließ auch sie nicht im Lager schlafen.



Nachrichten-Hitlerjugend

Bisher hatten die Jungs im Jungvolk nach Alarmen beim Wiedereindecken von Hausdächern geholfen. Wenn in einem Haus niemand da war, wurde nachgeschaut, wo was zu essen stand; sie bedienten sich an dem Eingemachten im Keller. Sie wurden ja sonst nur noch mäßig satt.
Aus der Tertia kam ein Schüler zu ihnen in die Klasse und warb für den Eintritt in die Nachrichten-H.J. - noch vor dem eigentlichen Wechseldatum, April 1945. Ihnen war der Dienst in der „Braunen“ H.J. zuwider. Das war doch nun etwas anderes: Technik. Nicht das ewige „Krieg-Spielen“!
Joachim Pöppel war der Scharführer. Er verstand es, die Jungs in die Fernmeldetechnik einzuführen. Endlich waren die „Heimatabende“ interessant. Sie lernten das Strippenziehen, das Binden von Knoten, was ein Feldfernsprecher, ein Klappenschrank waren, lernten das Verschlüsseln und vieles mehr. Sie versuchten sich im Bau von Detektor-Empfängern - Günter Kißmann war Meister im Gießen von Bleiglanz-Kristallen, die das Herz der stromlosen Empfänger waren.

Flüchtlinge

Sie standen oft auf dem Bahnsteig, zählten die Achsen der vorbeirollenden Güterzüge, schauten den maschinengrauen Dampfloks nach, die neu von Wildau kamen und auf dem Wege zum Betriebsbahnhof Schöneweide in Eichwalde kurz hielten. Züge hielten, Flüchtlinge aus dem Osten mussten einquartiert werden. Die Mutter wurde zum Flüchtlingswart ernannt. Eine harte Arbeit. Hier waren in der Kneipe Grünauer Ecke Bahnhofstraße die Frostbeulen bei den Flüchtlingen zu behandeln. Dann ging es mit dem Handwagen fürs Gepäck hinaus in die Nacht zu einer Villa hier und da. Der Widerstand der Bewohner half nichts: Einquartierung! Die Ortspolizisten mussten manchmal nachhelfen. Die Mutter machte sich damit nur wenige Freunde. In die Kellerräume der Schule kamen die Bewohner eines Altersheimes aus Litzmannstadt - es roch fürchterlich im ganzen Schulgebäude nach Schweiß, Urin, Lisol.
Die Pimpfe kamen vom Rodeln aus den Karnickelbergen zurück. Ein Militär-Lkw, beladen mit Flüchtlingen, hielt und fragte, wie er nach Berlin käme. Dieter bot sich an, dem Fahrer den Weg zu zeigen, stand mit den eisnassen Überfallhosen auf dem Trittbrett, bis man ihn mit ins Führerhaus holte. Er führte bis zum Bahnhof Grünau, bekam das Fahrgeld für die Rückfahrt nach Eichwalde - war da ein Bisschen stolz auf seine Tat.
Zu Weihnachten gab es anstatt der Fichte eine Kiefer als Weihnachtsbaum. Fertig geschmückt stand er da, als der Vater auf Urlaub über die Feiertage kam. Kein Jahr haben sie auf ihn an Heiligabend verzichten müssen. Relativ ruhig war es in Bezug auf Fliegeralarme.
Der Vater war nach Dänemark versetzt worden. Kurze Zeit später traf die Nachricht ein, dass er auf eine Mine getreten war, er war der einzige Überlebende seiner Gruppe, lag da im Lazarett.
Immer mehr Flüchtlinge kamen.

Braten

Sie hatten noch einmal einige Kaninchen und zwei Enten. Es fiel für die Tiere immer noch etwas zu fressen ab. An einem Winterabend waren die Enten verschwunden. man suchte überall. Es war dunkel. Dieter wollte zwischen den beiden Taxus-Büschen hindurch, vergaß, dass dazwischen die Tonne mit Tierjauche eingebuddelt war. Er trat auf den Deckel zur Tonne, rutschte mit einem Fuß in die Tonne, trat dabei auf irgendetwas: Die vermissten Enten! Sie müssen auch auf den Deckel getreten haben, sind dann wohl in die Tonne gestürzt, der Deckel hat sich über ihnen geschlossen, so sind sie jämmerlich ertrunken. Die Familie war traurig, mussten die Tiere begraben, konnten sie nicht mehr schlachten und auch nicht mehr verspeisen. Das war weiß Gott kein schöner Tod. Das letzte Kaninchen blieb erhalten, wurde nicht geschlachtet. Es gab sonst keine Anwohner mehr in Stall und Hof.

1945


Verteidigung

Die Fronten rückten immer näher. Schaurige Nachrichten brachten Flüchtlinge mit.
Die Mutter hatte zwei Behelfsheime für das Grundstück in Bernau bestellt. Sie wollten dahin ziehen, weil das mit den Hauseigentümern nicht mehr so weiter ging. Doch die Dachteile der Heime hatten Landser verfeuert, also wurde das mit dem Umziehen nichts. Trotzdem brachten die Mutter und Dieter Pflanzen und Bäumchen auf das noch nicht erschlossene Grundstück. Die Fahrten mit der S-Bahn wurden oft wegen Fliegeralarme unterbrochen. Am Bahnhof Bernau erschossen Kettenhunde einen Soldaten, soll desertiert sein. Alle mussten jetzt zum Panzergraben-Schaufeln.
Die frischen H.J.ler hatten Feldtelefon-Leitungen für den Volkssturm zu legen, eine Vermittlung im Gutshaus in Schulzendorf zu bauen, ein Fahnenjunker führte sie. Das Material dazu holten sie aus dem OKH in Zossen. Sie fuhren – etwas stolz - in der S-Bahn vorne im Dienstabteil.
Die Eisenbahner frotzelten sie an, dass sie doch gar nicht mehr nach Eichwalde kämen (womit sie nicht ganz Unrecht hatten).
Sie wurden am 20.April in der Turnhalle feierlich in die Hitlerjugend übernommen, so mit Eid auf den Führer und so. Jetzt durften sie auch die Armbinde tragen - wenn man noch eine erwischte ...
An Schule dachte keiner mehr von ihnen.
Sauer waren sie: man schickte sie bei Fliegeralarm in den Luftschutzkeller - sie hätten viel lieber tapfer ihren Dienst am Klappenschrank verrichtet.
Und dann schickte man sie ganz nach Hause. Zuhause wollten sie sich verabschieden und sich nun freiwillig in Potsdam melden. Keiner von ihnen hat es geschafft, die Mütter haben sie in den Keller gesperrt. Sie kamen erst wieder raus, als einige Eichwalder weiße Bettlaken aus die Fenster gehängt hatten.

Die Russen sind da

Russische Jagdbomber IL-2 fegten über Eichwalde hinweg. Die Mutter war gerade auf dem Rückweg, wollte sie noch die Tabakwaren-Marken einlösen, als sie von den Fliegern entdeckt wurde, sie gab in ihrem schwarzen Mantel auf dem hellen Sand der Schillerstraße ein markantes Ziel ab. Mehrmals flogen die Russen an, ballerten aus ihren Bordkanonen und warfen kleine Bomben ab. Die Geschosse trafen die Mutter nicht, die Bomben blieben als Blindgänger auf dem Beton der Straße liegen. Die Mutter versuchte in einen der Gärten zu gelangen, um einen Schutz zu finden, die Tore verschlossen. Bleich kam sie zuhause an. Aurelia hatte die Kinder allesamt mit den Köpfen unter den Elektroherd in der Küche gedrückt - sie kannte die Russen und den Krieg von Litauen her.
Die russische Artillerie schoss von jenseits der Dahme nach Eichwalde rein. Als Dieter vom Haus zurück in den Luftschutzkeller wollte, schlug nebenan bei Bär’s ein Geschoß ein, er wurde gegen die Hauswand geschleudert, den Mund sperrangelweit aufgerissen. Bei Bär’s war ein Loch in die Hauswand gesprengt. Dieter raste in den Keller zu den anderen.
In der Nacht knatterten MG’s die Straßen entlang. Der Nachbar von hinten flüsterte über den Zaun, dass die Russen da wären, nach „Uhri“ fragten.
Ein sonniger Tag. Nur noch in der Ferne, im Norden hörte man Geschützdonner. Ein junger, russischer Sergeant und ein Soldat kamen zu ihnen in den Garten. Die Mutter nahm die Kinder an sich und auch Aurelia - „Russen tun Kindern nichts!“ Die Herren verlangten nichts weiter als Wasser - man hatte ja wegen Stromausfalls die alte Handpumpe im Garten wieder flott gemacht, man hatte Wasser.
Die Russen „klauten“ Fahrräder. Also wurde vom Vorderrad der Reifen abmontiert. Mit der Zeit lösten sich die Speichen-Nippel beim Fahren mit der Felge auf dem Pflaster. Wäscheleine musste, in die Felge eingelegt, herhalten. Riskant war das Fahren mit schwachem Winkel über Kanten auf dem Weg.
Der Krieg war auf einmal zu Ende. Noch einmal ballerten die Russen alles in die Luft. Sie feierten ihren Sieg, grölten bis in die Nacht hinein. Am Wasserturm hatten sie ihr Lager eingerichtet. Man musste sich fernhalten von den betrunkenen Soldaten. Danach war es tags wie nachts so ungewohnt totenstill.
Dieter weiß nicht, warum er nach Königs Wusterhausen gefahren war, was er dort wollte. Quer über die Straße beim Bahnhof war Stacheldraht ausgerollt. Dahinter kauerten dicht an dicht deutsche Soldaten als Gefangene. Dieter war heulend nach Hause gefahren.
Hiobsbotschaften: Verhaftungen, Verschleppungen, Selbstmorde, Hunger, Plünderungen.
Aurelia musste sich bei den Russen zum Rücktransport melden. Mutter gab ihr den Kuli zum Faltboot für`s spärliche Gepäck mit. Sie weinte bitterlich beim Abschied, ahnte sie, was ihr bevorstehen würde?
Durch die Hauptstraßen zogen Russen mit Panjewagen voller Hausrat und trieben Kühe gen Osten. Tiere, die nicht mehr konnten, ließ man zurück, tote Pferde streckten ihre Beine in die Höhe. Noch vor dem Verenden wurden die zusammen-gebrochenen Kühe von Deutschen geschlachtet und zerlegt. Pferde ließ man noch liegen.

Hunger

Stundenlang musste man nach Essbarem anstehen. Man bekam erst einmal eine Berechtigungsmarke, mit der man sich dann am nächsten Tag wieder anstellen konnte. Das Brot hatte eine Kruste, war innen hohl und mit matschigem Inhalt ganz wenig gefüllt. Es gab kein Fett, kein Salz, einfach nichts.
Mit Gemüse aus dem Garten wurde Dieter zu Bekannten nach Berlin geschickt - zu Fuß. Ein Brot sollte er mit nach Hause bringen. Das war so klein und doch so schwer, so schwer es mit leerem Magen zu tragen. Erst ein kleines Stückchen von der Rinde gekostet, dann noch ein kleines Stückchen. Die Mutter schimpfte nicht über das fehlende Viertel des Brotes.
Mit dem Handwagen zog die Mutter mit den Kindern nach Westen über Land in die Mark. Betteln bei den Bauern. Bei einem Bauern in Rotberg hatten die Russen gehaust. Hatten da etwas Russenbrot liegen gelassen, es war schon angeschimmelt. Die Mutter durfte es einpacken: Brotsuppe; Dieter hatte es auf dem Heimweg „aufgefressen“. Man brachte nichts nach Hause, nur eben Stroh für das letzte Kaninchen.
Die Mutter war alleine mit dem Handwagen losgezogen. Sie holte aus einer Miete Zuckerrüben heraus. Zuhause wurden die Rüben gekocht, sollten Sirup ergeben. Doch es waren Futter-Zuckerrüben, der Sirup schmeckte überhaupt nicht, biss im Kuchen auf der Zunge, die Rüben hatten Frost bekommen.
Es gab nun nichts mehr. Kein Geld, kein Essen. Die Mutter fand Arbeit in dem Pfarrhaus von Diepensee. Mit dem Fahrrad - vorne auf Felge - konnte sie dorthin gelangen. Sie schneiderte für die Pfarrersfrau und bekam dafür Essbares. Einmal kam sie mit leeren Händen zurück: Polizisten hatten ihr alles abgenommen.

Glück gehabt

Irgendetwas hatte die Mutter nach Bernau zum Grundstück getrieben. Also fuhren die Mutter und Dieter mit den Rädern über Erkner und Blumental nach Bernau. Ihr Grundstück war auf einmal halb eingezäunt, die Bäumchen und Sträucher waren abgenagt - von Russenpferden, die dort geweidet hatten.
Die Bewohner in den Baracken, die da schon standen, hatten unter den marodierenden Kampftruppen der Russen zu leiden - Vergewaltigungen und bald Russenkinder. Erschüttert sind sie nach Hause gefahren. Zurück haben sie den Weg über den Autobahnring bis nach Erkner genommen. Unterwegs sahen sie Flüchtlinge auf den russischen Ami-Lastwagen mitfahren.
Also wollten sie das auch. Da hielt auch schon ein Russe an „Na, Frau kapuut, mitfahren?“ Sie hoben Mutters Fahrrad mit dem Gemüse und den Papieren auf die Ladefläche, Dieters Rad sollte das nächste sein. Der Lastwagen fuhr an, die Mutter wollte schnell die Handtasche wieder herunterholen, ein Russe trat ihr auf die Hand, die Mutter ließ geistesgegenwärtig los, schlug voll auf den Beton. Nun hatten sie nur noch ein brauchbares Fahrrad, vorne Felge. Es war ausgerechnet auch noch das ältere von beiden. Es hielt das Gewicht beider aus.
Sie kamen bis zur Sperrstunde nur bis Neu-Zittau, eine Häuslerin nahm sie auf, gab ihnen zu essen, gab ihnen frische Kuhmilch - oder war’s Ziegenmilch? Die Mutter marschierte zur Ortskommandantur, um sich zu beschweren - die Russen zuckten mit den Schultern.
Die Beiden schliefen in weißbezogenen Federbetten. Tage später brachte die Mutter das verbliebene Fahrrad auf der Schulter von Diepensee zurück: das Hinterrad war gebrochen.

Zeuthener Straße

Es war in der Schillerstraße nicht mehr auszuhalten. Die Vermieter waren ja „immer“ Kommunisten gewesen und die Eltern hatten Beide den Bonbon getragen. Die Familie musste ausziehen. Man wies ihnen ein Haus am Hindenburg-Platz zu, das sie sofort zu reinigen begannen. Als sie damit fertig waren, wurde ihnen das Haus wieder weggenommen. Nach langem, verzweifeltem Suchen wurde ihnen in der Zeuthener Straße eine Wohnung - groß genug - zugewiesen. Die Vermieterin, eine Berlinerin, war herzensgut – der Mutter tat diese Freundlichkeit gut.
Mit dem eisenbereiften Handwagen von Maurer Müller in der Schillerstraße schleppten sie ihr gesamtes Habe hinüber in die neue Wohnung. Auch das letzte Kaninchen kam mit, es bekam sogar noch Junge. Das Schleppen des Wagens war anstrengend – man schaue sich heute die Straßen an, die da und dort noch so aussehen wie damals.
Die Mutter hatte aus Diepensee ein Stück Fleisch mitgebracht. Sie hatte es zubereitet in der Speisekammer eingeschlossen. Es ließ keinen recht schlafen. Nachts musste man regelmäßig zum Urinieren raus, sonst ging es nicht selten im Traum damit ins Bett. Der Hunger ließ einen einfach nicht schlafen. Ein Dietrich kreiste in der Wohnung herum. Jeder ging damit zur Speisekammer, mopste etwas von dem Braten, bis ... Am Morgen hielt die Mutter Appell, beschnupperte Jeden: jeder roch nach Braten - also ist nur die Mutter zu kurz gekommen. Keine Schelte.
Die Russen verfügten, dass alle Bücher, die nach 1933 gedruckt wurden, zu vernichten sind. Im Garten stapelte sich gut die Hälfte der Bücherei, Bücher brennen nur schwer, eine mühselige Arbeit.
Die Schule hatte wieder angefangen. Lehrer Bommel begrüßte die Schüler in gewohnter Manier, hob die Hand zum Gruße, ließ sie sofort wieder fallen und stöhnte ein „Guten Morgen“. Es war alles so fad, dazusitzen mit leerem Magen. Dieter brachte wenig Leistung zustande.
Dieter ging nicht mehr zur Schule. Er versuchte bei einem Radiohändler als Lehrling anzufangen, brauchte man doch jetzt keine Forsteleven mehr. Er sollte nun bei einer Schlosserei und Gießerei als Stift anfangen. Die Gesellen stellten ihn an einen Schraubstock, legten ihm von der DAF Schulungsblätter vor, nach denen er ein Eisenstück befeilen sollte. Er zog es vor, zum Former zu gehen und dort aus Sand Kerne und Gussformen herzustellen (Buddelkasten?!). Er bekam eine Magen- und Darmgrippe und wurde nach Hause geschickt.

Harzreise

Die Mutter fuhr nach Stolberg im Harz zu des Vaters Mutter und Schwester. Sie erhoffte sich dort Nachricht vom Vater. Und sie fand eine Karte an eine Tante in Ellrich, die diese Post dann weiter nach Stolberg expedierte (zu Fuß?).
Die Mutter ist einfach zu bewundern. Zu bewundern in dem Gottvertrauen in solch einer Stärke. Gibt sie doch unterwegs ergatterte Lebensmittel auf die Bahn, dass es - in dem Nachkriegsdurcheinander - doch am Bahnhof Eichwalde ankommen möge.
Eine andere Nachricht vom Vater zeigte an, dass er sich nach Walsum Kreis Dinslaken zu Onkel Heddenhausen entlassen ließe. Er lebt also und kann laufen.

Die Mutter schrieb sofort eine Karte zu einem Onkel nach Düsseldorf, dass der Vater um Gottes Willen nicht nach Eichwalde kommen dürfte.
Gerade, als die Mutter weggefahren war, bekam Uschi mit ihren zwei Jahren die Ruhr. Bärbel fackelte nicht lange, tötete die kleinen Kaninchen, zog ihnen das Fell ab, wie sie es bei den Eltern gesehen hatten, weidete sie aus und kochte eine Suppe von dem doch wenigen Fleisch. Sie half der Schwester wieder auf die Beine.
Das letzte Fahrrad, des Vaters Herrenrad, musste seinen Dynamo abgeben. Bei den Nachbarjungs bekamen sie dafür zwei große Kartoffeln. Mit Kerzenwachs (Hindenburg-Lichter ) wurde die Pfanne eingeschmiert und die geriebenen Kartoffeln samt Schale zu Pfannkuchen gebraten. Es fehlte eben Salz daran, und viel war es auch nicht für sie alle.

Mutter kam mit der Nachricht vom Vater zurück.

Auszug aus Eichwalde

Die Mutter nähte Rucksäcke. Wer eine Schultasche tragen konnte, bekam diese vollgepackt, die anderen bekamen Rucksäcke - nur die Großen. Auch Koffer wurden vollgepackt. Die Kleinen konnten ihre Frühstückstasche tragen - Uschi war dazu noch zu klein.
Die Mutter packte Wäsche für den Vater ein, auch Bettwäsche war für die Kleinen dabei. Alle durften sich ein Teil, was sie liebten, mitnehmen – Dieter nahm seine Blockflöte mit und die „Current English“-Grammatik. Es sollte ja in die Britische Zone gehen, wo der Vater schon war.

Sie erreichten nach reichlichem Umsteigen auf der S-Bahn das UNNRA-Lager in Westend. Sie bekamen in der ehemaligen Schule in einem Raum Betten zugewiesen, hausten mit anderen Flüchtlingen zusammen. Im Zimmer waren zwei Buben aus Pommern, sie hatten Militärklamotten an. Der Russe hatte sie an den Ural verschleppt und nun krank zurückgeschickt. Während der Ältere kaum noch Haare auf dem Kopf trug und ganz apathisch auf der Bettkante hockte und dabei seine „Mitbewohner“ einzeln zwischen den Fingernägeln zermalmte, war der Jüngere recht aktiv, sammelte Kippen, bettelte um Geld und tauschte seine Beute gegen Essbares, ein pfiffiges Kerlchen - Dieter staunte nur, bekam das aber einfach nicht fertig. Die Jungs wussten, wo man ein Ami-Weißbrot für 150 Reichsmark ergattern konnte. Versteckt musste Dieter seinen einen Schuh ausziehen und von den eingelagerten 1000 RM etwas rausrücken, damit sie am Abend wieder etwas mehr zu essen hatten. Das Essen im Lager reichte bei weitem nicht aus, satt zu werden. Mittags wetzten sie hinunter in den Hof zu den Thermos-Kübeln, um die Reste der Ami-Mehlsuppe und vielleicht auch noch Fleischstückchen mit den Fingern von der Innenwand abzuschaben - ihre Mäntel standen vor Kleister schon von alleine. Die Mutter schickte Dieter zu einem Amt nach Spandau, um über irgendwelche Bescheinigungen etwas mehr an Essen zu ergattern – man durchschaute den unerlaubten Versuch, er kam mit leeren Händen zurück.

Abreise

Der Brite nahm vom Lager Flüchtlinge mit in die Britische Zone, also durch die Sowjetisch besetzte Zone. Der Lagerarzt, ein Holländer, bat die Mutter, die beiden Jungs und auch noch zwei Mädchen aus Bochum, die die Russen in Pommern ebenfalls verschleppt hatten, mit rüber zu dem Kollegen ins Lager nahe Helmstedt mitzunehmen. Nun hatte die Mutter zehn Kinder.
Als sie dann an der Reihe waren, auf den Ladeflächen des Bedford Platz nahmen, durfte Dieter zum Fahrer nach vorne ins Fahrerhaus. Toll, da so neben dem Motor zu sitzen, toll vorwärts mit der Fahrt in eine neue Welt frei sehen zu können.
Der Engländer sprach nichts, Dieter traute sich nicht, mit dem Bisschen Schulenglisch herum zu stottern. Der Engländer gab ihm was von seinem beim Autobahnhalt erhaltenen Lunch ab. Nach Stunden kamen sie im Lager gleich hinter der Zonengrenze an, bekamen viel, viel zu essen, wussten nicht, ob sie erst oben oder unten das Angebot wieder ausstoßen sollten. Zu lange hatten ihre Mägen solche Mengen und Qualitäten nicht mehr erfahren.



Ein neues Buch

Zwei Tage danach kamen sie in Walsum an. Die Mutter fuhr zur Quartiersuche zurück nach Niedersachsen, weil sie im Ruhrgebiet nicht bleiben konnten. 22./23.Oktober 1945 kamen sie in Hämelschenburg Kreis Hameln-Pyrmont an.
Ein Jahr später reiste die Mutter alleine zurück nach Eichwalde, schickte wertvolle Bücher in Einzelpäckchen nach Hämelschenburg. Den Columbus brachte sie zur Friedrich Wilhelm, die es weiterschickten. Mit etwa acht Zentnern kam sie nach Hämelschenburg zurück.
Und weitere drei Jahre später landete die Familie in Bonn, sie waren wieder alle zusammen - für immer. Mit dem Fahrrad wurde die neue Umgebung erobert. Sie richteten sich ein. Lehre und Studium waren jetzt dran.
Die Kinder bekamen noch ein Schwesterchen namens Charlotte, wie ihre Mutter benannt. Sie wurden nach und nach flügge, verließen das Nest, kamen nun zu Besuch und dann auch mit ihren Kindern. Weil es die Grenze so lange gab, sind sie alle im Westen heimisch geworden, die meisten von ihnen im Süden.
Mindestens die drei Ältesten von den Geschwistern haben Eichwalde wieder besucht, als es frei von Reisebeschränkungen für sie war. Und auch die Mutter hat vor dem Haus in der Schillerstraße gestanden. Den einen Wilke-Zwilling von nebenan haben sie angetroffen.
Und Dieter ? Er durfte Schulkameraden heuer wiedersehen. Er muss unbedingt wieder nach Eichwalde - solange er noch mit dem Auto dahin fahren kann und Frau Heyden wieder einen Platz für ihn in ihrer Pension freihält.

Rückkehr ?

Dieter, der Erzähler, fuhr nach der Wende des Öfteren nach Eichwalde, oft nur bei einem geschäftlichen Aufenthalt in Berlin.
Der Schulfreund Günter Kißmann, damals von der Markgrafenstraße, hatte 2001 die Mitschüler der Jahrgänge 1930/31 zum Treffen in Eichwalde zusammen gerufen.

Durch das Internet hat Dieter 2007 einen lieben Menschen gefunden. Ein Jahr lang haben sie sich Mails geschrieben. Dann durfte Dieter zu Besuch nach Johannisthal kommen. Und wieder ein Jahr später, in 2009, trafen sich die Freunde wieder in Eichwalde, besuchten ihre Schule.

Inzwischen, 2010, ist Dieter nach Berlin zurückgekehrt. Unweit von Eichwalde hat er sich niedergelassen. Jetzt holt er nach, wozu er fünfundsechzig Jahre nicht in der Lage war: Berlin und die Mark erobern, mit Fontanes Wegweisen zu Hause ankommen.

ortwin

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Kommentare (4)

nixe44 so als hätte ich es selbst erlebt.

Die von Dir beschriebene Gegend, Eichwalde, Schmöckwitz, Neumühle u. a. habe ich in den 80-er Jahren kennen und lieben gelernt.
Ein guter Freund von mir war in Miersdorf zu Hause und wohnt jetzt in einem Pflegeheim in S/H.
Ich werde ihn auf Deine Geschichte aufmerksam machen, ihm beim nächsten Besuch vorlesen, es wird sicherlich sein Herz erfreuen.

Danke für´s Lesen Deiner Geschichte.
Lieben Gruß
Monika
Traute Da hätte er er mich ja gleich als Wackelkandidat einstufen können. Mit mir geht das Temperament doch mal durch..Die Spontaneität ist bei mir der Verursacher von Flüchtigkeiten, die, wenn ich sie bemerke doch ein bisschen Röte ins Gesicht bringen.
Da bewundere ich Leute wie Dich und Deinen Vater. Aber so gemischt sind die Leute ja nicht umsonst. Von allem muss ein bisschen dabei sein.
Ganz freundliche Grüße, und alle Achtung für Deine Akribie und Gedächtnisleistung.
auch an Spatz liebe Grüße,
Traute
Traute2012(Traute)
ortwin Liebe Traute,
das Korrektsein hat zwei Wurzeln:
Vater war da sehr genau. Mancher Tanz um den Tisch brachte es mit sich.
Und dann im Dienst bei Preussens: wenn du (damals noch ohne PC) das Verfasste zur Unterschrift und Weitergabe vorlegtest, konntest du und die betroffene Schreibkraft das Ganze bis zu siebenmal anbringen, ehe es endlich als "Erledigt" in den Ordner kam.
Und trotzdem: Fehlerteufel sind nicht auszumerzen.
ortwin
Traute Lieber Dieter, das ist so perfekt,korrekt und interessant.
Wann machst Du nun ein Buch daraus, mach doch zwei Bände. Eines jetzt und das zweite in Arbeit!
Du weißt ja die Marija hier aus dem ST bekannt würde das machen.
Ich bin richtig stolz auf Dich und hätte gerne Deine Korrektness in mir. Leider , es ist jeder anders, anders.

Ganz freundlichen Grüße und Hut ab! Gratulation !
Grüß auch das Spätzchen bleibt nur schön gesund und kommt gut durch den wässrigen Winter,
Traute

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