Nur ein Erlebnis


Nur ein Erlebnis
Einundzwanzig Uhr! Überlaute Musik ertönt aus dem monumentalen Zeltbau. Hier herrscht im Moment eine farbige Dunkelheit, die vorahnungsvoll auf das Geschehen wartet, das hier stattfinden wird. Nur hoch oben auf der Galerie leuchten vorschriftsmäßig die Notbeleuchtungen der Ausgänge in hellem Grün. Oben auf der Musikbühne über dem Artisteneingang spielt das Zirkusorchester den Torero-Marsch aus »Carmen«. Der Rhythmus verleitet zum Mitmachen, die Fußspitzen können sich diesem Takt kaum entziehen.
        Unverwechselbar auch das Odeur der Zirkuswelt, ein Geruch nach Tieren und Abenteuer, nach dem Sand der Manege, der Duft nach Sensationen. Es ist einfach das Flair einer Welt, die dem normalen Menschen fremd ist und gerade deshalb auf viele eine magische Anziehungskraft ausübt.
        Unzählige Besucher im weiten Kreis der Ränge und Logen starren hinauf in das Dunkel des Chapiteaus. Schemenhaft die freischwingenden Trapeze, kaum zu erkennen. Hier werden in wenigen Augenblicken die »Olyssees« ihren großen Auftritt haben. Links und rechts auf den starren Trapezen stehen, nur schemenhaft zu erkennen, die beiden Flieger Juliette und Marcel; an einem der freischwingenden Trapeze wartet Bastian, der Fänger. Juliette wird unter anderem einen vierfachen Salto zeigen, eine Nummer, die erst seit Kurzem im Programm der Olyssees dargeboten wird.
        Unten am Rand der Manege, eng an einen Mast gelehnt steht Pierre, einer der Ensemble-Clowns, der gerade Pause hat. Er weiß, dass Juliette, seine Juliette, diese schwierige Nummer noch nicht so lange im Trainingsprogramm hat. Sie kämpft noch mit großen Schwierigkeiten, der Fänger beherrscht den zeitlichen Ablauf noch nicht völlig. Doch im Gesamtprogramm ist dieser Höhepunkt der Darbietung in der Presse groß angekündigt. 
        Ein Zurück ist so gut wie unmöglich. Pierre hat wiederholt versucht, die Olyssees von diesem Punkt abzubringen; er schlug ihnen vor, zumindest diesen Teil der Nummer mit Juliette einige Monate nach hinten zu verschieben. Vergeblich.  Lange haben sie darüber gestritten, es kam fast zum Zerwürfnis zwischen ihnen. Pierre gab schließlich schweren Herzens nach und akzeptierte ihren Entschluss.
        Heute nun ist der erste Auftritt dieser Superlative gekommen. Frühmorgens bei der letzten Probe ging es gerade so mit Ach und Krach gut, das große Fangnetz wurde auch noch einmal verstellt.
Gerade beim »Vierfachen« ist die Geschwindigkeit des Sprunges erheblich höher und dadurch die Gefahr auch größer, im Ernstfall eines Sturzes über das Netz hinaus zu geraten. 
        Im großen Rund des Zirkuszeltes hält alles den Atem an, der Stallmeister, der wie immer die Rolle des Ansagers übernimmt, kündigt mit leidenschaftlichen Worten diese Sensation an. Sämtliche Scheinwerfer werfen urplötzlich ihr gleißendes gebündeltes Licht in die Höhe. Die Artisten in ihren silberweißen glitzernden Kostümen scheinen wie Figuren einer anderen Dimension in der Höhe zu schweben. 
      Dann die ersten einleitenden Flugfiguren! Mehrere Salti nacheinander, dann eine Flugpassage beider Flieger übereinander, gefolgt von einer Kapriole von Juliette mit einer doppelten Schraube, sicher gefangen von Bastian. Es folgt noch ein dreifacher Salto mit einer Schraube - kein Problem für die Artisten, auch bei Marcel, dem jungen Nachwuchsflieger, klappen die Wechsel hervorragend. 
          Zwei der Scheinwerfer konzentrieren sich nun auf das Trapez, auf dem Juliette auf einer erhöht eingehakten Querstange steht. »Sie sieht aus wie ein Engel!", denkt Pierre, als er sie im gekreuzten Lichtkegel der Scheinwerfer in fünfzehn Metern Höhe stehen sieht. »Hoffentlich geht bei diesem ersten Auftritt alles gut.« 
        Seine Gedanken verweilen immer noch bei der missglückten Probe am Morgen. »Die Generalprobe muss schiefgehen«, hatte Juliette lachend zu ihren Kollegen gemeint, »dann klappt alles hundertprozentig!«
        Pierres Skepsis belachten die Olyssees nur, sie verwiesen dabei immer nur auf das große Fangnetz. Von der Musik-Bühne ertönt nun ein Trommelwirbel. Der Fänger Bastian schwingt sich mehrfach auf seinem Trapez hin und her, um mehr Schwung in seine Bewegungen zu bekommen. Hoch droben steht Juliette und lächelt in die Besucherreihen des Chapiteaus hinunter. Pierre spürt fast körperlich, wie die Anspannung in der Fliegerin wächst. 
        »Ihr Lächeln wirkt wie eingefroren«, denkt er bei sich. Er leidet mit ihr, kann nachvollziehen, was in ihr vorgeht. Schließlich war er lange ihr Partner als Fänger, bevor er den schweren Unfall hatte und erst vor einigen Monaten ein Engagement als Clown bekam.
        Der Trommelwirbel aus dem Orchester heraus wird nun stärker, Juliette reibt beide Hände und Unterarme mit Magnesium-Pulver ein, fasst das schwingende Trapez und lässt sich dann von dem Schwung mittragen, verstärkt ihn noch mit eigenen Körperschwingungen und erreicht die gewünschte Höhe für den richtigen Absprung. Bastian, der Fänger gibt ihr ein Zeichen, er ist bereit!
        Beide, Fliegerin und Fänger, müssen nun in Bruchteilen von Sekunden aufeinander zu schwingen! Als nun der Trommelwirbel mit einem letzten Schlag endet, springt Juliette wie geplant ab. Der vierfache Salto gelingt. Bastians Griff an den Handgelenken scheint sicher zu sein! 
        Dann plötzlich ein vielhundertfacher Schrei aus der Menge der Zuschauer! Juliette fliegt, sich mehrfach überschlagend durch die Luft, stürzt dann fast ungebremst über das Fangnetz hinaus direkt in die Manege, schlägt dabei mit dem Kopf an den mit Acrylglas verkleideten Manegenrand. Bewegungslos bleibt sie liegen. 
        Pierre rennt die wenigen Meter zu ihr, kniet sich neben sie in die mit Sägemehl bedeckte Manege, seine Tränen ziehen lange farbige Bahnen durch sein grell geschminktes Gesicht. Beide "Olyssees" springen von oben in das Netz und eilen ebenfalls hinzu, um dann doch hilflos danebenzustehen. Binnen Kurzem hat sich ein Kreis um Juliette gebildet, Zirkus-Sanitäter und viele Helfer der großen Zirkusfamilie - alle stehen betroffen da, als ein herbeigeeilter Arzt aus dem Publikum mit ernster Miene nur den Kopf schüttelt. Der inzwischen eingetroffene Notarzt kann diesen Befund nur bestätigen: Juliette hat ihre Sensation mit dem Leben bezahlt. 
        Pierre kniet noch immer in der Manege, schaut den Helfern hinterher, die sein Mädchen wegtragen. Er versucht zu begreifen, was geschehen ist. Juliette ist fort. Sie hat ihn in eine Einsamkeit entlassen, wie sie grässlicher nicht sein kann.
        Plötzlich erstrahlt die Beleuchtung des "Chapiteaus" wieder in vollem Glanz, so, als wäre nie etwas vorgefallen. Langsam leert sich das Zirkuszelt. Das "Gradin" ist leer geworden, einige aufgeregte Menschengruppen sind es noch, die entsetzt flüsternd das Geschehene zu verarbeiten suchen.
        Dann ist es aus. Dann ist alles vorbei. Dann ist die groß angekündigte Sensation vorüber. Dann hat eine junge Frau ihr Leben verschenkt, für einige Minuten Nervenkitzel.
 
 
©by H.C.G.Lux

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Kommentare (3)

Manfred36

Warum muss jemand für Zuschauersensationen sein Leben riskieren?  In meinem Nachbarort  Alsenborn (wo heute noch das Bajasseum und die Riesenstatue mit dem Elefanten vorm Pflug an das Zirkusleben erinnern) biss einer der Löwen zu, als der Dompteur den Kopf in seinen Rachen legte. 

Syrdal


Ein dramatisches Geschehen! Und, lieber Pan, ich kann rein emotionell darauf nicht weiter eingehen…
Doch seit vielen, vielen Jahren stelle ich mir die Frage, weshalb Menschen solche tödlichen Wagnisse eingehen, weshalb begeben sie sich für nichts und wieder nichts in unabwägbare Gefahren? Weshalb springen manche mit einem Seil um die Füße von hohen Brücken in die Tiefe, weshalb rasen andere im Schnee von Bergspitzen über Felsen in nicht abschätzbare Kluften, weshalb dreschen manche in  hochgezüchteten Autos mit unbeherrschbarem Tempo über die Autobahn, weshalb… ach, da gibt es tausend absolute Unvernunften! Alles nur für den Nervenkitzel? "Hirnarme Lichter", kann ich da nur sagen… leider!

...das konstatiert mit Unverständnis
Syrdal

Pan

Ja, lieber Syrdal, da kann ich auch nur mit Unverständnis den Kopf schütteln. Gab es doch diese Sensationslust schon vor 2000 und mehr Jahren.
Und diese »Gladiatoren«, so denke ich, waren auch nur darauf aus, ein besseres Leben zu bekommen - wobei »besser« nur ein Synonym dafür ist, zu 50% nicht zu sterben.

Und heute? Eine ganze Industrie lebt von diesen »Möchtegern-Helden«, denen das Leben zu langweilig geworden ist. Soll man sie bedauern?
Kann man Idioten bedauern, die mit 220 km/h durch die Städte rasen und andere Menschen töten? Bestimmt nicht - eher das Gegenteil.

Aber - nicht vergessen: an Autobahnen und Strassen gibt es genug Gratis-Zuschauer, die mit Hingabe jeden Unfall peinlich genau verfolgen und aufzeichnen, wobei ihnen der Geifer aus den Mundwinkeln tritt ...
Ich grüße Dich, lieber Syrdal


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