Perspektive oder Perpetuum Mobile



Langsam hangle ich mich die Treppe hinauf, die Einkaufstüte, die meine Mutter mir in die Hand gedrückt hat, unterm Arm, auf dem Weg zu meinem Großvater, der den oberen Stock unseres Hauses bewohnt. Gern gehe ich ihn nicht besuchen: Er ängstigt mich. Er ist riesig (mindestens eins-siebenundachtzig) und selten zu finden in den stinkenden Wolken seines Pfeifenrauchs. Meine verwandtschaftlichen Bindungen zu ihm halten sich in Grenzen: Ich könnte ihn nie Opa nennen.

Ich klopfe an die Tür, er grummelt irgendwas. Ich trete ein und kann wie erwartet erst einmal nichts sehen. Schließlich entdecke ich ihn zwischen den Papieren und Büchern und den Riesenrädern, die er selbst Perpetuum Mobile nennt. Er deutet mit dem Pfeifenstiel aufs Sofa. Da sitze ich lange Minuten, ohne dass er mich beachtet. Eigentlich haben wir uns sowieso nichts zu sagen. Wie der Rest meines Aufenthalts in seiner verräucherten Bude abläuft, weiß ich schon.
Erstmal sagt er: „Na?“
Ich lasse ihn mit der Frage in der Luft hängen.
Auch die nächste Frage überhöre ich: „Was macht die Schule?“
Jetzt kommt aber: „Was hast Du Neues gemalt? Zeigt doch mal!“
Ich rapple mich hoch, gehe hinunter, sammle unter dem aufmunterndem Nicken meiner Mutter einige Zeichnungen ein und gehe wieder rauf.
Da ich meistens Häuser und Großstadtansichten aus dem Gedächtnis zeichne oder male, ist das Folgende schon mal vorprogrammiert:
„Ja - Hm - Ja – nicht übel“, grunzt er, schaut mich durch seine Goldrandbrille über dem gewichsten Kaiser-Wilhelm-Bart an und erhebt dann die Stimme zu seinem Standardsatz: „Aber die Perspektive!“
Ich zucke schon gar nicht mehr zusammen bei dieser Bemerkung, wage aber auch nicht zu sagen, wie schnuppe mir diese sogenannte Perspektive ist. Ich schnappe mir meine Bilder und verlasse wortlos ihn und seine blöden Perpetuum Mobiles.

Mein Dasein ist sowieso fremdbestimmt: Den größten Teil des Tages beansprucht das Gymnasium, dem ich mit möglichst minimalem Arbeitsaufwand begegne, ohne mir Probleme einzuhandeln. Gerade steht Geometrie auf dem Stundenplan, ein Fach, dem ich mit Wohlwollen und Interesse begegne, da hier viel gezeichnet wird und man sich etwas darunter vorstellen kann. Gerade döse ich so vor mich hin, da erwähnt mein Mathelehrer das Wort „Perspektive“! Sofort bin ich hellwach. Den Nachmittag verbringe ich dann mit dem Vergrößern und Verkleinern verschiedener geometrischer Formen. Am nächsten Tag lerne ich noch das Wort „Fluchtpunkt“ und seine zeichnerische Umsetzung. Dann mache ich mich an die Arbeit und zeichne meine Stadtbilder neu.

Als ich das nächste Mal meinem Großvater etwas hinaufbringen soll, läuft natürlich wieder das gleiche Ritual ab. Bis zu dem Punkt, an dem ich meine Zeichnungen vorzeige.
Diesmal kein „Ja – Hm – nicht übel“ , sondern gar nichts!
Ihn hat es offensichtlich die Sprache verschlagen.
Dann lächelt er! Das habe ich ja noch nie erlebt!
Er lächelt und wird mir gleich ein bisschen sympathischer.
Und als ich dann noch einen drauflege und das Wort „Fluchtpunkt“ einflechte, wird er richtig redselig und erklärt mir seine Idee vom Perpetuum Mobile.
Wir schließen eine Art unsichtbaren Waffenstilstand. Aber er braucht gar nicht drauf zu hoffen, dass ich ihn Opa nenne. Dafür ist muss ich erstmal über seine Idee mit dem Perpetuum Mobile nachdenken. Irgendetwas ist an der Sache faul! Und zwar oberfaul! Sagt mir mein Gefühl!

Bei der nächsten Einkaufstütenlieferung, die ich im Auftrage meiner Mutter durchführe, hat sich die Programmabfolge geändert. Nun will er gar nicht mehr meine Bilder sehen, sondern führt mir seine Perpetuum-Mobile-Räder vor, von denen mehrere verschiedene Modelle, die alle nicht funktionieren, herumstehen. Faszinierend finde ich das Modell, wo in einem kugelgelagerten Fahrradvorderrad, das wie ein Riesenrad auf ein Gestell montiert ist, alle Speichen durch Doppelschienen ersetzt wurden, in denen kugelgelagerte Rollschulräder auf- und abrollen, je nach Stand des Rades. Wenn also die Neigung der Speichen nach unten zeigt, rollen die Rollschuhräder auch nach außen, erschweren das Gewicht des Rades und es bewegt sich weiter. Und wenn das Rad sich nach oben bewegt, bewegen sich die Rollschuhräder nach innen in Richtung Nabe und das Rad wird leichter.
„ Ist doch klar! Oder?“
Ich murmle nachdenklich etwas Zustimmendes. Wieder in meinem Zimmer höre ich oben die Geräusche der Riesenräder, wie sie angestoßen werden, sich mit einem zunächst gleichförmigen Geräusch drehen und dann langsam absterben.
Dieses Rattern hört man allerdings immer seltener. Ich weiß nicht, ob mein Großvater diese Idee nun aufgegeben hat. Wie ich der Schule erfahren habe, ist diese Perpetuum-Mobile-Idee sowieso nicht durchführbar, sie widerspricht allen physikalischen Energiegesetzen. Oder wie meine pragmatische Mutter es einfacher formulieren würde:
„ Von nix kommt nix!!“

Und dann greift eines Tages unser Physiklehrer das Thema auf und erzählt, dass es immer wieder Betrüger gegeben habe, die einen der für die Erfindung ausgesetzten Preise einstreichen wollten. Ich bin natürlich sofort Feuer und Flamme für den Physik-bzw. Chemieunterricht, was nicht unbemerkt bleibt. So bin ich auf einmal auch noch für den Sammlungsraum zuständig. Unser Physiklehrer, beeindruckt vom Schülerinteresse für sein Fach, lässt sich dann auch noch überreden, eines dieser falschen Perpetuum-Mobile-¬Experimente vorzuführen. Eigentlich sehr einfach: Man braucht eine runde Zinkblechscheibe, bohrt in die Mitte ein Loch, durch das man eine Stricknadel steckt. Dann kommt ein bisschen Fummelarbeit, die Scheibe muss nämlich sauber ausbalanciert werden, sodass sie senkrecht auf der waagerechten Stricknadelachse steht kann, wie ein Wasserrad, allerdings ohne sich zu drehen. Bis dahin ist alles legal. Nun kommt es aber: Die Scheibe wird über ein Glas gehängt. Dann wird nicht Wasser (wie man behauptet), sondern Schwefelsäure in das Glas gegossen, in die die Zinkscheibe eintaucht. Nun setzt man die Scheibe in Bewegung.
Und sie bleibt in Bewegung und dreht sich und dreht sich langsam immer weiter.
Das liegt natürlich daran, dass die Schwefelsäure unten immer ein bisschen von der Zinkscheibe wegfrisst, sodass sie oben schwerer wird als unten.
Beeindruckend!

Was meinen Großvater angeht – mein Weg führt mich nur noch selten in seine verräucherte Höhle. Ich glaube, es herrscht so eine Art Burgfrieden. Keiner erwähnt die Hobbys des anderen. Das absterbende Rattern hört man kaum noch.
Eines Tages jedoch bittet mich meine Mutter wieder, einige Einkäufe nach oben zu bringen. Alles läuft ohne Stress ab. Mein Großvater erwähnt seine Perpetuums nicht, dreht auch nicht auffordernd daran herum. Kurz und gut: Eine ruhige Begegnung, die für die Zukunft hoffen lässt. Mein Großvater fragt so beiläufig nach meiner Malerei, und ob ich ihm vielleicht mal einiges zeigen könne. Da ich inzwischen überwiegend Portraits zeichne, sehe ich auch keinen Anlass, ihm keine Bilder zu zeigen. Um ihm eine Freude zu machen, lege ich auch eine perspektivisch einwandfreie Zeichnung einer Straßenlandschaft dazu.
Er begutachtet alles sorgfältig. Er nickt. Die Portraits scheinen sein Gefallen zu finden.
Dann stößt er auf die Zeichnung mit der Straßenszene. Und schon beginnt er wieder mit dem Genöle: „Ja – eh – hm – ja….“
Und dann sagt er: „ Da müsste ja wohl noch ein zweiter Fluchtpunkt hin!“
Ich glaube, ich höre wohl nicht richtig.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packe ich meine Blätter ein und geh nach unten. Meine Mutter schaut mich hoffnungsvoll an. Ich gehe an ihr vorbei und murmle: „Dein Vater hat sie wohl nicht mehr alle beisammen!“

Am nächsten Tag besorge ich mir ein Stück Zinkblech und fange an zu basteln. Meine Mutter steuert ungefragt eine Stricknadel aus ihrem Nähkorb bei. Schwieriger ist es, unverdünnte Schwefelsäure aufzutreiben. Aber wofür betreue ich die Chemiesammlung in der Schule, da gibt es Schwefelsäure literweise.
Gut ausgerüstet und vorbereitet begebe ich mich dann eines Tages in die Höhle des Löwen. Ohne ein weiteres Wort setze ich meinen Großvater in sein Sofa, mache Platz auf seinem Tisch, baue mein Experiment auf, bringe das Zinkrad zum Laufen und setze mich neben meinen Großvater aufs Sofa. Dort bleiben wir eine viertel Stunde und sehen zu, wie das Zinkrad läuft und läuft und läuft! Er kann nicht richtig stillsitzen und rutscht nervös herum. Immer wenn er versucht zu sprechen oder aufzustehen, sage ich: WARTE!
Dann packe ich mein Experiment wieder ein und verlasse wortlos ihn und sein Zimmer. Am nächsten Tag beginnen die Ferien und ich trampe nach Italien.

Nach rund fünf Wochen bin ich wieder zu Hause und sitze in der Küche und rede und rede. Vom Colosseum in Rom, der Via Appia (ganz zu Fuß!), dem Trasumenischen See, der so flach ist, dass ich geneigt bin, Livius als Spinner abzutun, weil der behauptet hat, das römische Heer sei von den Puniern dort hineingetrieben worden und einfach ertrunken. Und dann noch von der Aida-Aufführung in den Thermen von Verona, wo mich die Sänger weniger beeindruckten als der Elefant und die zwei Kamele bei dem Triumpfzug auf der Bühne. Meine Mutter sitzt derweilen am Küchentisch und knetet und würgt das Geschirrhandtuch.
Plötzlich sagt sie: „Jetzt ist er völlig durchgedreht!“
Ich stimme ihr zu, merke aber schnell, dass sie nicht Livius meint.
„Dein Opa!“ sagt sie und schlägt die Augen über.
„Das ist nicht mein Opa,“ sage ich. „Das ist dein Vater!“
Sie schluckt.
Dann sagt sie: „Und die ganze Zeit, wo du nicht da warst, sind hier laufend wildfremde Menschen die Treppe rauf und runter. Ein Kommen und Gehen. Und ich weiß wie immer von nichts! Der sagt ja auch nichts!“
Und die Tränen stehen ihr in den Augen.

Als ich am nächsten Morgen (oder besser Mittag, weil ich von der Tramperei so kaputt war und ausschlafen musste) vor einer heißen Milch am Küchentisch sitze, kommt meine Mutter dazu, druckste ein bisschen herum und flüsterte:
„Er war eben hier.“ Und wies mit ihrem Augenaufschlug nach oben.
„Wer“, fragte ich, weil ich wohl in Gedanken noch nicht ganz wieder zu Hause war.
„Carl Wilhelm“ ,flüsterte sie, „dein äh…. , mein Vater.“
„Ja und, was wollte er?“
„Ja, das ist ja das Komische: Er hat sich diesen verdammten Celluloidkragen an seinem Hemd festmachen lassen und ich musste ihm die Krawatte binden. Und dann hatte er sich seinen Bart mit Wachs gezwirbelt, bis er wie Zement quer im Gesicht stand. Ich glaube, er will ausgehen. Aber um diese Zeit? – Wo will er nur hin? Der sagt ja nichts!“
Ich krame noch ein bisschen herum, versuche mich auf die Schule, die in den nächsten Tagen beginnt, vorzubereiten, da erscheint meine Mutter und flüstert:
„Er will dich sehen!“
“Wer? Und warum flüsterst du?“

Oben klopfe ich vorsichtig an die Tür. Mein Großvater steht vor mir, riesig mit seinen 1,87 m, gekleidet wie ausgehüblich mit seinem Streesemann, geschniegelt und zurechtgemacht wie für einen Botschaftsempfang. In der Hand seinen Ebenholzstock mit Silberkrücke. Ich hole erstmal Luft. Dann weist er mit seinem Stock auf das Sofa. Ich lasse mich hineinfallen und er schwingt seinen Stock theatralisch durch den Raum und sagt:
„Ich habe mich etwas verändert.“
Das ist nicht zu übersehen: Das Zimmer ist ganz hell geworden. An der Wand weiße Rauhfasertapete, darauf angepinnt riesige Konstruktionszeichnungen von alten Schiffen, Koggen und Segelschulschiffen. Auf dem Tisch Papiere, Bücher, Werkzeug und unter einer neuen sehr hellen Lampe unübersehbar ein fast einen Meter langes Schiffsmodell, offensichtlich noch in Arbeit.
Er steht daneben und lächelt. Er lächelt tatsächlich!
„Eine Dschunke, chinesisch, 16. Jahrhundert!“
Ich sehe mich um. Es ist einfach nicht zu glauben. Er wartet und lässt mir Zeit, alles anzusehen. Dann wird er doch ungeduldig und fragt:
„Na?“
„Einfach toll“, murmle ich beeindruckt.
Er grinst mich an. Ich grinse zurück.
Dann setzt er sich neben mich auf das Sofa. Zusammen betrachten wir sein neues Leben. Es passt zu ihm, denn da fällt mir auch ein, dass er mal bei der Marine war und sogar beim Boxeraufstand in China.
Nach einer Zeit gemeinsamen Schweigens steht er auf, geht zum Tisch und holt einen Zettel:
„ Ich hab da was aufgeschrieben, was ich noch für das Schiff brauche. Könnte etwas Fantasie kosten, das aufzutreiben. Ich dachte, du kriegst das wohl hin.“
Wir lächeln uns an.
„Klar“, sage ich, „kein Problem. Mach ich! ……Opa!“

Wieder unten, bei einem zweiten Glas Mich, flüstert meine Mutter immer noch:
„Na, was hat er gesagt? Dein ….eh, mein Vater? Und wo will er hingehen? Und das um diese Zeit?“
„Der will nirgendwohin“, sage ich.
Und dann:
„Ich muss dann mal eben weg. Noch was besorgen. - Für Opa!“

Castellanos





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Kommentare (2)

castellanos Ich nehme an, dass er schon länger gewusst, dass diese Perpetuum-mobile-Idee zu keinem Erlebnis führte.
Ich habe da wohl nur noch den willkommenen Anstoß geliefert.
Dass er dann einen radikalen Schnitt machte, ist wohl eher gen-spezifisch.
Hat er von mir - oder umgekehrt??
Gerd
omasigi die Du von Deinem Opa berichtest.
Kamst Du jemals dahinter was die Veraenderung bewirkt hat ?

eine gute Woche wuensche ich Dir
omasigi

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