Selma fliegt nach Köln

 
Sie sitzt neben mir. Reihe 10, am Fenster. Irgend etwas da draußen, außerhalb der Maschine, scheint ihre ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Ihr kleiner Körper ist angespannt, ihre rechte Hand hält meine Hand fest umklammert. Ich bringe es nicht übers Herz, mich aus diesem schmerzhaften Griff zu befreien. Ich besehe mir die alte Dame. Viele, viele Falten und Fältchen an Gesicht und Hals; Flinke, wache Augen, die allerdings jetzt nicht in meine Richtung, sondern starr aus dem Fenster gerichtet sind. Ihre Haltung ist kerzengerade, sie lehnt sich nicht zurück in die Polster. Sie hat ihr Sonntagskleid angelegt, das dunkelblaue mit den weißen Tupfen. Klein ist sie, sie verschwindet fast in ihrem Sitz.

Eine Durchsage lässt sie zusammenzucken und meine Hand noch fester drücken. Ein verwirrter Blick zu mir, hilflos: was da gesagt worden wäre, sie hätte es so schnell nicht gehört. Ich beruhige sie, es ginge nur darum, dass wir jetzt zum Start bereit seien, den Sitz der Gurte überprüfen und die Tischchen hochklappen mögen.

Der Griff verstärkt sich erneut, auch die Spannung in dem kleinen Körper. Ich versuche ihr ein paar beruhigende Worte zuzuflüstern, aber ich scheine sie nicht zu erreichen. Nun ist ihr Blick starr geradeaus auf das nicht mehr besonders füllige Haupthaar ihres Vordermannes gerichtet, das hinter der Kopfstütze hervorlugt. Ich beobachte sie wieder. Sie ist schön, trotz all ihrer Falten. Die Maschine ruckelt ein wenig und setzt sich langsam in Bewegung. „Rückwärts“, stößt sie hervor, „wieso rückwärts?“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen und erkläre, dass die Maschine jetzt rückwärts aus ihrer Parkposition gezogen wird, um dann selbstständig über das Rollfeld zur Startposition zu fahren.

Sie scheint beruhigt, aber sie behält ihre Haltung bei und auch den angestrengten Blick nach vorn. Mechanisch greift ihre linke Hand in Richtung des Klapptischchens – ihre Finger befühlen den Riegel. „Alles in Ordnung“, sagt sie, „ist hochgeklappt“. Sie macht einen persönlichen Check ihres Umfelds. Ich lächle und sage so beruhigend wie möglich „Ja, alles in Ordnung.“ Plötzlich lässt sie meine Hand los und fingert an ihrem Gurt. „Fest genug?“, fragt sie, ohne den Blick nach vorn zu lösen. „Ja, fest genug“, sage ich mit Sicherheit in meiner Stimme.

Inzwischen rollen wir mit einiger Geschwindigkeit der Startposition entgegen. „Noch weit?“ will sie wissen.
„Weiß nicht so genau“, sage ich ehrlich, „aber manchmal rollt man die ganze Bahn runter, um diese Parallelbahn da drüben (ich deute nach draußen) als Startbahn zu nutzen. Aber dann geht es viel schneller.“ – „Noch schneller?“, stößt sie aus. „Noch schneller als jetzt?“ Sie tut mir leid, und ich drücke ihre Hand. Sie ist entsetzlich kalt. Ich versuche an ihr vorbei einen Blick nach draußen zu erhaschen. Aber sie sitzt immer noch so kerzengerade, dass mir jede Sicht verwehrt ist. Sie lässt zu, dass ich ihre Hand streichle.

Die Maschine stoppt abrupt. Sie schaut voller Schrecken zu mir – ganz kurz nur, dann wieder der starre Blick nach vorn auf des Vordermanns Hinterkopf. Die Motoren heulen auf, sie schrickt zusammen. „Keine Angst, es ist alles in Ordnung!“. Sie scheint mich nicht mehr wahrzunehmen. Sie sitzt immer noch aufrecht, aber als die Maschine nun gewaltig beschleunigt, wird sie unweigerlich in ihren Sitz zurückgeworfen. Ich blicke sie an: Ein entsetzter Gesichtsausdruck, sich bewegende Lippen, aber ich kann ihr Murmeln nicht verstehen.
Sie starrt weiter geradeaus. Ich zögere, sie darauf hinzuweisen, aus dem Fenster zu schauen und Arreviderci Roma zu sagen, aber ich selbst erhasche noch einen letzten Blick auf das Terminal, auf mein geliebtes Rom. Dann hebt die Maschine ab. Ihre Hand in meiner ist jetzt schweißnass. Sie packt zu mit eisernem Griff wie vorhin. Ich lasse es geschehen.

Die alte Frau auf dem Sitz neben mir ist meine Urgroßmutter Selma. Während des Krieges war sie noch sehr jung und als Jüdin verfolgt. Sie hatte Deutschland verlassen, um bei italienischen Angehörigen zu leben. Zuletzt hat sie in einem römischen Altersheim gelebt. Ich habe sie häufig besucht, und im Laufe einiger Jahre war spürbar geworden, dass ihr Entschluss, „niemals wieder nach Deutschland zurückzukehren“ mit zunehmendem Alter und mit immer intensiverem Kontakt zu mir ins Wanken geraten war. Ich habe einen Luftsprung gemacht, als sie mir vor einigen Wochen mitteilte, mich in Köln besuchen zu wollen. Selma war schon immer für Überraschungen gut. Inzwischen, hat sie mir streng vertraulich mitgeteilt, möchte sie sich auch ein paar Altersheime in Köln anschauen. „Man kann ja nie wissen“, hat sie verschmitzt hinzugefügt.

Selma muss mich längere Zeit beobachtet haben. Wie immer fragt sie mich geradeheraus: „Was hast du gerade von mir gedacht?“ Erstaunlich, ich fühle mich ertappt. Aber zunächst bemerke ich voller Verwunderung ihre völlige Entspannung. Meine Antwort wird mir abgenommen oder zumindest aufgeschoben, als die Stewardess nach unseren Wünschen fragt. Wie aus der Pistole geschossen höre ich neben mir ein einziges Wort: „Sekt!“ Ich glaube, die Stewardess ist ebenso verblüfft wie ich. Selma ist nicht wieder zu erkennen. Hat sie einen Höhenkoller?

Ich gieße den Sekt vorsichtig ein und höre neben mir: „Ich habe auch Hunger!“ Die Stewardess ist bereits ein paar Reihen weiter vorn, aber sie hat die energische Stimme offenbar gehört und kommt noch einmal zurück. Selmas Hunger soll zu stillen sein. Herzhaft beißt sie in ein Salami-Baguette, das sie ausgewählt hat und mit „schmeckt“ kommentiert.

Allmählich lösen sich auch bei mir Angst und Anspannung. Ich hatte einige Zweifel, wie es mit Selma beim ersten Flug ihres nicht mehr jungen Lebens gehen würde. Wir geraten in unsere alt vertrauten Gespräche, genießen unseren Sekt und sogar die Aussicht. Viel später bemerke ich auch das wohlwollende Lächeln meines Sitznachbarn zur Rechten, der alles schweigend beobachtet hat.

Innerlich bange ich schon um Selmas Ängste bei den Landungsvorbereitungen und der Landung selbst, aber: keine Spur. Selma war angeschnallt geblieben während des Fluges und bemerkt plötzlich, dass wir bereits im Sinkflug sind. Je niedriger wir fliegen, umso mehr verebbt unser Gespräch, weil Selma wie gebannt aus dem Fenster schaut. Als wir bereits über Köln sind, schaue ich auch rechts über ihren Rücken aus dem Fenster, als sie sich abrupt umdreht und ich erschrecke. Ihre Augen sind voller Tränen, aber sie strahlt und stößt hervor: „Der Dom!“ - Sie umarmt mich und weint und weint. Ihre Hand hat meine erneut gepackt, wieder mit diesem „eisernen Griff“. Ich spüre, dass es der Griff der Liebe ist – zu mir und zu ihrer Stadt Köln. Das alles hat überhaupt nichts mit der berühmten „Angst vorm Fliegen“ zu tun.

Ein Jahr später ist Selma nach Köln gezogen. Zweimal im Jahr fliegen wir beide nach Rom, aber über unsere Schandtaten dort (Vino, Vino und la Dolce Vita) darf ich nicht berichten. Das hat die resolute Dame mir strengstens verboten.




 


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Kommentare (1)

Muscari


Die Geschichte von Urgroßmutter Selmas Vergangenheit und ihrem erstem Flug hat mich sehr berührt.
Wie gut ist dann aber alles ausgegangen. Sogar mit einem Glas Sekt. Ach ja, und der Dom zu Köln.
Einfach schön.
Danke dafür sagt
Andrea


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