Sigismund von Radecki: Frühlingsabend


Zum Werk des Sigismund von Radecki:
Interpretation eines (fast) vergessenen baltischen Autoren


Sigismund von Radecki:
Frühlingsabend

Die vielen tausend schwarzen Winteräste
erschauern nun im Grün;
vorüber flattern kleine Sommergäste,
und andre stehn und blühn.

Ich will dir jenen Lärchenbaum noch zeigen,
im Blau so unbewegt,
wie er sich doch mit allen seinen Zweigen
im Lüftchen regt.

Und sieh auch, welchen schönen Tageslohn
der Himmel beut:
die Sterne, eine Hand voll Silbermohn,
dem Schlafe hingestreut.

(Aus: Baltisches Dichterbrevier. Hrsg. v. Werner Bergengruen. Berlin/Leipzig 1924: Georg Neuner Verlag. S. 112f.)

Daß Sigismund von Radecki ein baltischer Dichter ist und bleibt - obwohl sein Werk, seine Essays und Interpretationen, allen, nicht nur regionalen Erscheinungen deutscher Sprache und Kultur galten - ist noch bekannt. Nur: Kein geneigter oder bemühter Leser kann mehr ein Büchlein oder ein Buch von ihm im Buchhandel erstehen und es Freunden oder sich selbst schenken. (Nur noch seine meisterhaften, lebendig gebliebenen Übersetzungen von Nikolai Gogols Erzählungen gibt es im Diogenes-Taschenbuchverlag, Zürich.)
In May Redlichs „Lexikon deutschbaltischer Literatur“ stehen 56 verschiedene Original-Buchveröffentlichungen eingetragen, einschließlich der Übersetzungen; sie warten auf eine Wiederauferstehung.
Sein hier abgedrucktes Gedicht ist allerdings eine Preziosität, da nur drei solcher Texte von ihm überliefert sind, aus der Frühzeit seines Schaffens.
Sigismund von Radecki , geboren in Riga 1891 und Freiwilliger der legendären Baltischen Landeswehr, hat keine baltisch
-livländischen Geschichten oder Erinnerungen überliefert.
Der literarische Weg führte ihn früh nach Deutschland. Seine Tätigkeiten als Ingenieur und als Schauspieler, als Porträtzeichner und Dichter brachten ihn nach Berlin. Er starb - nach vielen Bucherfolgen im heiter-kritischen Fach - im (nicht am) Ruhrgebiet, in Gladbeck, am 13.03.1970.
Dort lebt noch heute seine literarische Nachlaßverwalterin Frau Ruth Weilandt-Matthaeus - und kann bei keinem deutschen Verlag eine Neuausgabe erreichen...

Wer von den viel-hunderttausend lieferbaren Büchern einen Radetzky-Band sucht, in dem wenigstens zwei Satiren von ihm abgedruckt sind, muß greifen zu „Die Welt in der Tasche“ (eine Radecki-Formulierung), herausgegeben von Gerd Herholz 1996 im Klartext Verlag Essen.

Die schrecklich eilige, wissenschaftlich-technische Moderne bietet viel, nicht nur vielerlei; man muß es nur suchen können, damit man es findet: Über das Inter-Netz kann man bei zwei großen antiquarischen Suchsystemen viele, sogar preiswerte Angebote - auch Erstausgaben - zu unserem Dichter einholen: bei „zvab.de“ und „justbooks.de“ mehr als hundert Titel, gar nicht mal teuer... Manundfrau könnte ihn also kaufen und lesen und Spaß und Erkenntnis haben, wenn sie sich von Radetzky interessieren.

Wann mag es wohl eine Neuauflage von Radetzky geben? Im Buchhandel zeichnete sich im Jahre 2000 durchaus eine Tendenz zum guten unterhaltenden, raffiniert erzählten, deutschsprachigen Buch ab, auch das Humoristisch-Essayistische sollte dazugehören...Wir haben nicht viele Autoren solcher allumfassenden Provenienz in der deutschen Literatur...

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Aus der Erstveröffentlichung von Radeckis noch diese zwei Gedichte:

Erwachen

Zwischen Tag und Nacht
bin ich kaum erwacht,
- alles schläft noch, nur die Augen sind schon auf.
habe keine Eile,
eine kleine Weile
wartet noch der ganze Tageslauf.

In dem grauen Schimmer
seh ich schon das Zimmer
und ich bin so leicht und so erfüllt;
zwischen Traum und Wachen,
zwischen Thrän’ und Wachen,
lieg’ ich regungslos und eingehüllt.

Grüne Vogelweise
durch das Fenster leise
trägt der erste Wind mir ans Gesicht,
und was ich erlebe
hält mich in der Schwebe
und ich liege still im Gleichgewicht.


An die Verlorene

Wo bist du nicht? Wo bist du? ... sag: ich bin.
Von woher kommst du und wo gehst du hin?

Du lehnst ja noch am Baum im Garten Eden,
und deiner Stimme Klang ist Überreden.

Natur wollt’ ihre Kraft zusammenraffen:
aus wieviel Liebe wurdest du erschaffen ....

und jenes ersten Augenblicks Entzücken
spricht immerfort aus deinen großen Blicken

Mit deiner Schönheit ragst du aus der Zeit,
dein goldnes Haar rührt an die Ewigkeit.

Auch wird dein Fuß dem Boden nie Beschwerde,
unter dem leisen Druck erblüht die Erde.

Bei deinem Anblick glaubt man es so gern:
auf Erden sind wir, sind auf einem Stern!

Wenn man nach deinem Bau Gesetze schriebe,
regierte nicht der Hass, es herrsche Liebe,

- und wieviel mehr wär‘ in der Welt Erbarmen,
glich Menschenhilfe deinen schönen Armen.

Wie dürfte Wirklichkeit dich mir entlehnen?
Du wurdest Schmerz, du bist in meinen Tränen.

Doch jedes Jetzt und alles helle Hier
stammt aus der Ferne, Liebste, stammt von dir.

Und sinkt der Tag zum Abend, wird es spät,
wanderst du wunderbar in mein Gebet.

- Nachzulesen in dem lange verschollenen „Baltischen Dichterbrevier“. Hrsg. v. Werner Bergengruen. Berlin/Leipzig 1924: Verlag Georg Neuner. S. 112ff. -


Informationen:

Les- und genießbare Wege zu "von Radecki":

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