Eigentlich müsste heutzutage jede Lehrperson, vor allem in den Grundschulen, genügend Kenntnisse dazu haben, was betroffenen Kindern, die sich plötzlich mit den anders gearteten Wahrnehmungen der Legasthenie konfrontiert sehen, immer wieder passiert, wenn sie mit Aufgaben überfordert werden: sie versuchen, sich wieder auf die vor ihnen liegenden Aufgaben zu konzentrieren, weil diese sie völlig durcheinander gebracht haben. So lange sie keine Schüler waren, war es für sie hochinteressant, die Welt in ihrer Art zu entdecken. Das gilt in der Schule plötzlich nicht mehr.

Wie viele Fragen hat mir mein legasthener Enkel in der Kindergartenzeit gestellt, die mich oft genug verblüfften, weil er Dinge wissen wollte, die man in dem Alter (vier oder fünf) so normalerweise gar nicht sieht, über sie nachdenkt. Oder wen interessiert es als Kleinkind, wie es unter der Erde aussieht, wie sich ein Baum ernährt und das Wasser bis in die Blätter gelangt? Oder wie ein Samenkorn in der Erde sich zu einer Pflanze entwickelt, vielleicht zu einer Weizenähre, aus der dann nach der Ernte (und wie das geschieht) zu Stroh und Mehl verarbeitet wird, woraus der Bäcker oder die Mutter Brot und Kuchen bäckt. Und stets folgte die Aufforderung: „Oma, erzähl mir die Geschichte noch einmal...“.

Heute weiß ich, dass ein legasthenes Kind, ein legasthener Erwachsener (ja, diese Wahrnehmung ändert sich nie, sie ist angeboren, genetisch bedingt! Keine Krankheit, keine Störung, und auch keine Behinderung!) beispielsweise bei dem Wort Baum oder Haus diese „Gegenstände“ niemals einfach nur die vier vorhandenen Buchstaben vor seinem inneren Auge sieht. Es sieht diese Dinge aus allen Richtungen, von außen und innen, von drunter und drüber und rundherum. Dann in der Schule das Verbot zu bekommen, zu lernen, dass nur noch in der Reihenfolge der Schreibweise ein Gegenstand zu lesen, zu begreifen sei. Das ist sehr viel schwerer, als es nicht legasthenen Kindern fällt, das Alphabet zu erlernen und die daraus zusammengestellten Worte zu lesen, zu verstehen.

Da schaut ein legasthenes Kind aus dem Fenster, um sich neu zu orientieren, um mitzuarbeiten und dann geht die Lehrerin hin und liest ihm die Aufgabe noch einmal vor, völlig unwissend, ob das Kind bereits sinnerfassend gelesen hat oder nur nach einer Lösung sucht. Völlig desorientiert versuchen betroffene Kinder dann erneut, wieder ihre Konzentration auf die gerade gestellte Aufgabe zu lenken und werden dann durch eine völlig überflüssige Ermahnung, jetzt nicht zu träumen, das erneute Vorlesen wieder in die Desorientierung geschubst!! Und zu allem Überfluss fängt das eine oder andere Kind in der Klasse auch noch an zu kichern: der schon wieder! Würde die Lehrperson sich mit Legasthenie auskennen, hätte sie anders agiert.

Obendrein gibt es dann auch noch Schulbeisitzer, die nicht die Bohne Ahnung von Legasthenie haben, aber einzelnen betroffenen Kindern helfen sollen, wie dieses betroffene Kind funktioniert und ihm dann sämtliche Hilfsmittel, mit denen das Kind schon seit geraumer Zeit endlich mitarbeiten kann, einfach wegnehmen, nach dem Motto: „Du kannst das Wort doch längst lesen, stell dich nicht so an!!“

Die kleine Siebenjährige sitzt daneben und schluchzt verzweifelt … Der Mann, der eigentlich helfen soll, dass sie die Aufgaben begreift, stürzt sie in Verzweiflung und schimpft ungeduldig, bestraft sie auch noch mit der Wegnahme ihrer Hilfsmittel, weil die unwissende Mathelehrerin – von Legasthenie null Ahnung – verlangt, dass alle Kinder bereits im 1. Schuljahr gelernt haben sollten, selbstständig zu denken, zu lernen, also auch ein legasthenes Kind …

Wenn die Kleine desorientiert ist, kann sie kaum ein Wort entziffern, geschweige denn die Buchstaben, die dort stehen, in der richtigen Reihenfolge lesen, die dann das Wort ergeben, das sie verstehen soll, um zu tun, was zu tun sei! Ein beschwichtigendes Wort, das ihr hilft, sich auf die Aufgabe zu orientieren – und es würde plötzlich klappen. Aber der „Helfer“ hat ja keine Ahnung davon, wie legasthene Menschen lesen. Ein wirklicher Helfer ist der absolut nicht, lediglich „von oben“ an diesen Platz dirigiert, der ihn eigentlich nur noch frustriert und diese Frustration lässt er dann an dem Menschlein aus, das seiner Hilfe bedarf – keineswegs positiv eingesetzt!! Das kosten den Steuerzahler und – das schreit doch zum Himmel!!!

Nicht die legasthen denkenden Menschen müssen ihre Wahrnehmungen abstellen oder zumindest ändern (das können sie nicht), – wie es heute (nur??) in Deutschland noch gefordert wird, die Lehrmethoden sollten endlich zumindest ausgerechnet diese Wahrnehmungsart (keine Störung!!) pflichtgemäß ins Studium der LehranwärterInnen mitaufnehmen! Warum wehrt sich die Deutsche Schullandschaft immer noch dagegen, stellt Betroffene in der Schule als dumm, lernfaul oder Träumer hin?? Das ist eine schlimme Tatsache, die mit einem über hundertjährigen Bart längst ausgemerzt sein sollte!

Warum ist es heute noch möglich, die Mutter eines betroffenen Kindes damit zu erpressen, man würde dem Mädchen die derzeitigen Zensuren ins Zeugnis schreiben, wenn sie nicht zustimme, ihre Tochter eine Klasse zurückversetzen zu lassen? Mit den Zensuren hätte das Kind es dann unwiderruflich sehr viel schwerer, im dritten und vierten Schuljahr mitzukommen! Wenn man dabei bedenkt, dass die Zensuren im ersten Teil des zweiten Schuljahres im Herbst 2019 zustande kamen, die Lernerfolge seit dem Jahreswechsel, also fast komplett die zweite Hälfte eines Schuljahres, durch die Schulschließung wegen der Corona-Pandemie gar keine Berücksichtigung erfuhren, obwohl das Mädchen zuhause und zusätzlich mit Hilfe einer Diplom-Legasthenie-Trainerin riesige Fortschritte gemacht hat, dann hat man vor Empörung über solche Aussagen der Klassenlehrerinnen keine Worte mehr!

Grundsätzlich sehe ich es nicht als Übel an, wenn ein Kind – warum auch immer – eine Klasse wiederholen muss. Es kann hilfreich sein. Aber wenn es durch Ungerechtigkeiten und Unwissen der lehrenden Personen zustande kommt, die obendrein auch noch den Ehrgeiz füttern, an ihrer Grundschule die erfolgreichsten Lehrer für die ersten zwei Schuljahre zu sein, was soll daran für das Kind hilfreich sein, außer der Tatsache, dass es endlich vielleicht zwei unwillige Lehrpersonen für sich nicht mehr akzeptieren muss??!!

Ich schrieb es hier schon einmal: Wann wird das deutsche Schulsystem endlich wach, weil fast ganz Europa, teils auch Asien, seine Schüler besser lehrt, diese Kinder in vielen Fächern leistungsstärker sind als ausgerechnet unsere deutschen Kinder???

Recht viele legasthene Kinder sind hochintelligent – aber sie werden zu Sitzenbleibern degradiert, weil ein Schulsystem nicht imstande ist, zu unser aller Vorteil umzudenken?! Wenn es selbst einem Professor, der in diesem Bereich an der Uni lehrt, der selber als Vater eines legasthenen Sohnes diese Sturheit erleben musste, sie nicht beeinflussen konnte, wer sitzt da an höchster Stelle und tritt die Bedürfnisse so Vieler mit Füßen?? Vielleicht Politiker, die nicht nachdenken, nur unter dem Einfluss großer Geldgeber, der Wirtschaftskapitäne, die mit ihrer Gier auf Herrschsucht zur reichsten immer größer werdenden Gruppe in der Welt gehören, Politik machen? Darf das sein??

 


Anzeige

Kommentare (5)

Urseli

Liebe Uschi,

Du hast Dir wieder soviel Mühe gegeben, um rüber zu bringen,
was immer noch heute an unseren Schulen passiert, wie man mit legasthenen
Kindern und deren Eltern umgeht.

Gott sei dank gibt es auch Lehrkräfte, die um die Situation wissen und sich bemühen
mit den Kindern gut zu arbeiten und eventuell auch an Trainerinnen wie Deine
Tochter weiter zu vermitteln.👏

Ich bewundere Deine Kraft und Deinen Mut sehr, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Liebe Grüße,
von der anderen Uschi

nnamttor44

@Urseli

Liebe Urseli,

es ist so bedrückend, wenn man mitbekommt, dass ein Schulhelfer dem betroffenen Mädchen die Hilfsmittel wegnimmt, weil er von Legasthenie nicht die geringste Ahnung hat! Sie auch noch mit Unverständnis und Beschimpfungen zum Weinen zu bringen, ihr in ihrer Aufregung auch noch Bauchschmerzen zu verursachen ist das Allerletzte. 

Das Jugendamt war heute bei der Familie und die Mitarbeiter waren total empört. Er darf damit rechnen, dass eine Beschwerde bei seinem Chef eingehen wird. 

Ein anderer Junge, ein halbes Jahr älter als mein Enkel, der schon in die dritte Klasse geht, steht seit der Corona-Schulschließung total auf dem Schlauch. Seit diese Familie Hilfe bei meiner Tochter gesucht haben, konnten zumindest die Eltern etwas ruhiger im Umgang mit ihrem Sohn und der Situation klar kommen. Natürlich blockt der Junge noch ab, der Test war ja erst vor vier Wochen. Aber mit einer freundlicheren Umgangsart hat er in diesem Alter noch die Chance, für seine Schulzeit kein frustrierter aggressiver Junge zu werden. 

Leider sind die Lehrkräfte, die nicht nur das Wort Legasthenie mal gehört haben, sondern es auch zu deuten wissen, die Kinder entsprechend berücksichtigen, rar gesät. Ich bin sehr gespannt, wie die Schulleiterin reagieren wird, wenn sie von der Mutter der kleinen Mitschülerin meines Enkels und gleichzeitig von meiner Tochter über die Geschehnisse informiert werden wird. 

Es geht nicht an, dass Eltern betroffener Kinder über die angebliche "Dummheit ihrer Kinder" derartig informiert werden, dass sie diese Tatsache zu einem Tabuthema machen. Ich hoffe sehr, dass unsere Arbeit zumindest in unserem Ort zu einer Veränderung führt - vielleicht sogar im ganzen Landkreis, so wie ein Kiesel, ins Wasser geworfen, Wasserkringel verursacht, die immer größere Kreise zieht …

Herzlichen Dank für Deinen zustimmenden Kommentar  

Uschi

indeed

Liebe Uschi,

deine Empörung ist natürlich verständlich. Dein Blog hilft dir hoffentlich, deinen Frust zu verarbeiten. Helfen wird es aber nicht in dieser Form deinem Großkind.

Ich würde an das Schuldezernat schreiben und eine Kopie an die Schule des Kindes schicken, aber erst nachdem ich mich mit der Schulleitung unterhalten habe. Mir eine Agenda erstellen mit den inhaltlich wichtigen und entsprechenden Eckpunkten, die du hier aufgezeigt hast. So dass du im Gespräch sachlich dagegen halten kannst. Unbedingt auch erwähnen, dass das Kind von einer Diplom-Legasthenie-Trainerin geschult wird und gute Ergebnisse bisher erzielt wurden. 

Man muss nicht gleich aufgeben, aber Sachlichkeit, Wissen und Resultat sowie Hilfestellungen sollte das Schreiben schon aufweisen und auch Interesse an einem persönlichen Gespräch zur Aussprache zeigen. 

Ich wünsche euch viel Glück, danz besonders zum Wohle des Kindes. 
Herzlichst
Ingrid

nnamttor44

@indeed
Liebe Ingrid,
ich muss noch einmal etwas hinzufügen. Für ihre Arbeit mit der legasthenen Mitschülerin meines Enkels  hatte meine Tochter akribisch schriftlich festgehalten, was wann gemacht worden war und welche Erfolge dabei erzielt wurden. Diese Aufzeichnungen, die sie auch für ihr Diplom als Legasthenie-Trainerin verwerten wollte, hat natürlich auch die Mutter des Mädchens bekommen. 

Gestern hatte diese Mutter ein Telefongespräch mit der Mathelehrerin und es zeigte sich, dass diese sehr angetan davon war, was sie da lesen konnte. Auch gab sie zu verstehen, dass auch sie festgestellt habe, das Mädchen würde jetzt schon längst nicht mehr teilnahmslos und ablehnend im Unterricht sitzen, sondern, teils sogar erfolgreich, mitarbeiten. Ein Riesenschritt! Es wurde auch kein Telefonat, das eine der beiden Teilnehmerinnen frustrierte! So soll es doch laufen …!!

Und was meinen Enkel angeht: auch er fiel überraschend angenehm schon auf! Er macht im Unterricht mit, meldet sich, gibt richtige Antworten, scheint absolut auf dem gewünschten Lernstand der Klasse zu stehen.  

So dürfen weitere Tage schön beginnen!!!

❤️lichen Gruß von

Uschi

nnamttor44


@indeed  
Liebe Ingrid,

in erster Linie hab ich diesen Artikel geschrieben, um mit meinem Frust ein wenig besser fertig zu werden. Ich danke Dir für Dein Verständnis und Deine guten Ratschläge, die meine Tochter in einem Brief an die hiesige Schulleitung durchaus noch nachts in einem Brief bereits umgesetzt hat.

Dazu gehörte auch heute Morgen ein Gespräch mit einer Rechtsanwältin sowie mit der Mutter des betroffenen Mädchens, das nicht nur bei einer Dipl.-Legasthenie-Trainerin Zusatzunterricht erhält, sondern noch zwei Mal die Woche im Einverständnis mit der anderen Trainerin auch von meiner Tochter, die gerade ebenfalls ihr Legasthenie-Trainer-Diplom mit Auszeichnung gemacht hat, Unterstützung erhält. 

Noch wagen es die beiden Lehrkräfte nicht, nachdem sie sehr viel vom Tun meiner Tochter für ihren ebenfalls legasthenen Sohn wissen, auch ihr so entgegenzutreten, wie sie es mit der Tochter der allein erziehenden Mutter gerade gestern machten. Es ist ihnen auch bekannt, dass die Schulleiterin dieser Grundschule durchaus einer Meinung mit meiner Tochter ist und sehr befürwortete, dass ihr Personal von meiner Tochter in Workshops über Legasthenie "aufgeklärt" werden sollte. Doch Corona ließ das bislang nicht zu..

Es wird nicht der letzte Schritt gewesen sein, den die Mutter des Mädchens und meine Tochter gegen so wenig Entgegenkommen, Einsehen wollen unternehmen werden. Doch wenn ich davon ausgehe, was der Hannoveraner Professor für Lehramtsanwärter erreicht hat, habe ich so meine Zweifel, ob irgendetwas in dieser Richtung je Erfolg haben wird.

Um in unserem Land zu bleiben: Schleswig Holstein und Bayern gehen anders, besser mit betroffenen Kindern um. Es gibt nur wenige europäische Länder, in denen betroffene Grundschüler nicht "mitgenommen" werden. Ich fand es schon schlimm genug, wie vor 45 Jahren mit meinem legasthenen Sohn umgegangen wurde. Dass es heute immer noch so läuft, entsetzt mich, uns zutiefst!!

Danke für Dein Lesen und Deinen Kommentar.

Ganz herzlichen Gruß von Uschi


Anzeige