Was konnte sie da gesehen haben...?

Meine Mutter war schon immer eine nervöse und eher ängstliche Person, dazu sie wahrscheinlich ihre Gründe gehabt hatte. Als sie vor drei Wochen ganz deutlich einen terminalen Zustand erreicht hat - mit 97 Jahren ja kein Wunder - dachte ich: Wie kommt sie nun durch?
   Sie war ein ruhiger und geduldiger Pflegefall. Meine Schwester und ich haben sie selber versorgt; es ist hier üblich. Nur einmal am Tag kam immer eine Krankenschwester, um die Mutter gründlicher zu waschen, evtl. eine Spritze zu machen, später auch Infusionen einzusätzen.
   Drei Tage vor ihrem Exitus liess mich meine Mutter den Rollladen hochzuziehen. Es war gerade früher Abend, der Himmel noch blau, da unten rosa, denn die Sonne war nicht mehr zu sehen. Meine Mutter schaute hoch - und ihr blasses, müdes Gesicht wurde plötzlich so erfreut (obwohl sie nicht lächelte), so hoffnungsvoll, dass ich einfach staunen musste. Sie sagte kein Wort, sprechen konnte sie da nicht mehr; sie machte die Augen ruhig zu, und gleich schlief sie ein.
   Ich wusste es, und sie auch, dass ihr nur ganz wenige Tage übrig geblieben waren. Sie hatte gar keine Angst. Ihr Körper wurde immer schwächer, dafür ihr Geist - immer stärker. Nie vorher hatte sie mich so klug und ernst (nicht traurig aber) angeschaut. Gott sei Dank war sie im Schlaf am letzten Samstag weggegangen. Ihr Gesicht sah entspannt aus, oder mehr: Als ob sie sagen wollte, da bin ich endlich da...
   Egal wen oder was sie da gesehen hatte, bin ich mir nun sicher: Wenn unsere Zeit kommt, werden wir da auch friedlich erwartet.