weiße Lilien und Schüsse


...es war 1953, im Juni, genau der 17-te.
Mein Opa hätte Geburtstag gehabt und so fuhr ich mit dem Fahrrad zum Friedhof. Vorher besuchte ich Omi noch im Schrebergarten und schnitt 3 weiße Lilien ab, Opas Lieblingsblumen, mit denen man so schön die Nasen der Kinder beim Riechen eintunken konnte und alle gelbe Nasen hatten. Ach, Opa, dachte ich mir, du steckst keinen mehr in diesen Blütenkelch, doch ich bringe sie dir ans Grab.
Ich fuhr stadteinwärts und alles schien anders - eilige Menschen und wie gehetzt rannten sie in Toreinfahrten, riefen mir etwas zu, was ich nicht verstand. Ich fuhr weiter in Richtung Stadtmitte und da sah ich es. Eine Menschenmenge in Arbeitskleidung, gestikulierend und laut Parolen im Takt und Schritt vorwärts schreiten. Und diese Straße mußte ich queren, nur wo? Mein Plan war schnell gefaßt, ich mache 'ne Biege über'n Kristallpalast. Ich hetzte los, ein Stück zurück, durch die Flößergasse und dann zum Rathaus. Dort hintenrum war alles ruhig, ich bog ein zum Rathausplatz und vor mir stand eine Menschenmenge und Mannschaftswagen der sowjetischen Armee und der NVA. Aha, die kommen alle von der Waggonfabrik, dachte ich, was soll's, die tun mir nichts. Ich schob mein Fahrrad an der Wand entlang und plötzlich fielen Schüsse. Ich zuckte und duckte mich gleichzeitig, rein instinktiv schnappte ich mein Rad und zerrte es in eine Seitenstraße. Die Menschenmasse grölte, brüllte und schrie und ich sah sie, die auf den Wagen standen mit Gewehr im Anschlag und selbstbewußt. Ich versteckte mich in einem ausgebomten Haus, das sinnigerweise auch noch meinem Taufpaten gehörte. So blieb ich erstmal sitzen, ich weiß nicht wieviel Zeit verging, aber nachdem sich das Gerenne beruhigte und Ruhe eingekehrt war, schlich ich mich ganz vorsichtig heraus und setzte meinen Weg über sämtliche Seitenstraßen weiter zum Friedhof fort. Ich ging zum Grab, erzählte meinem Opa die ganze Geschichte und blieb einfach dort sitzen. Meine Lilien waren etwas stark lediert. Ich zupfte und bog und machte sie schmückich, was nicht wirklich gelang, sie blieben zerfleddert. Aber bei Opa sind sie angekommen und das war wichtig. Opapa habe ich dann auch noch eine Blüte vorbei gebracht. Ein trauriger Tag. Der Heimweg machte mir große Probleme im Kopf, wie fahre ich wo, denn ich mußte über die Muldebrücke. Und die liegt mitten in der Stadt. Ganz langsam bin ich losgewandert in Richtung Süd und dann nach West, direkt der Mulde entlang. Hier war alles ruhig und ich stieg auf mein Rad und fuhr wie von Teufeln gehetzt auf die Brücke zu und war auf der anderen Seite. Ich schmiß mein Fahrrad in den Straßengraben und hechtete gleich hinterher und japste nach Luft. Langsam kamen die Lebensgeister wieder, ich mußte nach Hause, ich hatte auch kein Zeitgefühl mehr. Vorsichtig streckte ich die Nase hoch und sah keinen Menschen weit und breit. Schon etwas komisch, aber wieder rauf auf's Rad und ab in die Pedalen. 7 km im Volltempo, meine Mutter traf fast der Schlag, als ich ankam und sie mich in die Arme schloß. Inzwischen hatte es sich auch in unserem Dorf rumgesprochen, daß eine Demonstration in der Stadt stattgefunden hatte, aber unsere glorreichen Beschützer die Ordnung wieder hergestellt hätten. Bei mir war erstmal Sendepause, ich legte mich ins Bett und zitterte vor mich hin. Mutti kam und brachte mir einen heißen Kakao, was es sonst nur zu Weihnachten gab. Oha, jetzt wird die Lage ernst. Unglücklicherweise kam Omi auch noch am nächsten Tag und nun mußte ich die ganze Geschichte erzählen und sie saß auf dem Küchenstuhl, drehte Däumchen und sprach:"ach, Mächen, was machste bloß für Geschichten"!
Ich hätte sie mal wieder........
Aber ganz egal, mein Weltbild hatte sich total gedreht und ich wurde zum Egoisten, meinte ich. Das hatte sich von alleine aufgelöst, da meine Mutter kurz darauf wieder in die Klinik mußte und meine Rebellion zu Demut und Ängsten wurden.
Die weißen Lilien...............
sie stehen im Garten............
und niemand darf sie betasten...
nur ich breche sie einmal im Jahr
und finde sie ganz wunderbar.....

Und dieses Stück Erinnerung,
lebt in mir nicht ohne Grund,
hält meine Gefühle im Gleichgewicht
und weiß doch, es war die Wirklichkeit.

Finchen

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Kommentare (1)

Traute wieder hast Du bei mir auch in den trüben Erinnerungstopf getroffen.
An die Zeit kann ich mich erinnern. In Hagenow, nahe der B5 Nauen nach Hamburg, ging es auch scharf zu. Wir durften nicht mehr als 3 Leute beisammen stehen und ab 20 Uhr war Augehverbot.Die Panzer standen an der B5 entlang, das war nahe dran.
Es war wiedermal die Zivilbevölkerung, die drangsaliert wurde.
Was haben wir nicht schon alles erlebt. Kaum zu glauben! Und alles ist in dem BioPC Kopf gespeichert, bis wir gehen,
Ganz liebe Grüße
an das Finchen aus der gemeinsamen Zeit,
Traute

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