Weniger ist auch genug


Weniger ist auch genug


    Ich stamme aus Europa, wo u. a. Kunst und Kultur, Wissenschaft und Technik, Philosophie und Literatur blühten. All das und vieles mehr habe ich lange genutzt und genossen. Dazu die Schönheiten der Natur, die mir die Tränen in die Augen treiben konnten. In den letzten Jahren wohnte ich in einer originellen Wohnung in der Altstadt von Stockholm und war ein geachteter Mitbürger mit vielen Pöstchen.
    Aber da wuchs auch eine andere problematische Seite: Fanatismus, etwa im Sport; Vorurteile gegenüber allen, die anders sind: eine Menschen-verachtende Rohheit im Internet; Individualismus bis zur Rücksichtslosigkeit; Egoismus gegenüber Mensch und Natur; Überfluss, als ob die Ressourcen der Erde unendlich seien. Eine Maßlosigkeit, die mich an die Hybris griechischer Tragödien erinnerte.
    Deshalb habe ich mit 83 Jahren einen Entschluss gefasst: Mit 2 Koffern habe ich mich auf Einladung meiner Tochter und deren Familie nach Nairobi aufgemacht. Auf alles andere habe ich verzichtet, meine vielen Bücher, Wandbilder und Fotoalben, Kleidung und Küchenutensilien, Freunde und meine geliebte St. Gertrudskirche. Nicht alle haben das verstanden.
    War es eine Flucht? Von allem Abschied nehmen zu müssen, hatte ich schon im Januar 1945 erlebt, als die Russen in Schlesien einrückten, und im März 1946, als wir von den Polen in Viehwaggons nach Ostwestfalen vertrieben wurden. Dazu kaum aktuell, dass ich mir bald einen Heimplatz hätte suchen müssen.
    Irgendwie schwer zu beschreiben, hat mich in den letzten Wochen hier in Nairobi eine Art Glücksgefühl erfasst, mindestens ein Zufriedensein, eine Übereinstimmung von Äußerem und Innerem, Originalität, Fähigkeit, Vergangenes ruhen zu lassen und über mich selbst zu lachen. Nichts mehr, was ich mir von anderen vorschreiben lasse, kein Müssen. Zwar ein Minus an äußeren Gütern (Kleidung, Essen, Unterkunft), aber das merke ich überhaupt nicht mehr. Ich habe, was ich brauche. Mehr würde mich nur belasten. Und deshalb habe ich auch keine Angst vor dem, was kommt.
 


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Kommentare (2)

indeed

Nicht ganz so drastisch wie du, habe ich auch so eine Art sieben Siebe benutzt und mich danach unendlich befreit gefühlt. 
Die Erinnerungen sind deswegen ja nicht verloren gegangen, aber sehr viel Ballast konnte ich abwerfen und bin glücklich und zufrieden. 

Es ist nicht nur eine äußere Reinigung denke ich, sondern tangiert auch die Psyche.
Das aber mit 83 Jahren zu schaffen, davor habe ich Respekt. Du hast aber auch viel Gutes gewonnen, deine innere "Befreiung", deine Tochter mit Familie und evtl. Enkel? Die Nähe zu einem geliebten Menschen ist mit nichts aufzuwiegen.

Gesegnete Osterfeiertage und bleib gesund
indeed

ehemaliges Mitglied

Ich könnte mich deinen Gedanken anschliessen.

Kein Angebundensein, was wollen wir mehr. 
Alles loslassen, was wir nicht mehr brauchen. 

Einfach nur Sein.

Liebe Ostergrüsse
Agathe 


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