Wer sich selbst besiegt


Wer sich selbst besiegt

Der Berg
        Sakrosankt und in allen roten Farbtönen schwelgend schwebte die Sonne ihrem Tagesziel entgegen. Sie verzauberte mit ihrem karminroten Glühen die schroffen Gipfel der Berge und ließ sie in ganzer Pracht erstrahlen. Die der Sonne abgewandte Nordwand des Berges lag nun im Halbdunkel, zauberte mit den sich immer wieder wandelnden figürlichen Darstellungen die Vorstellung eines gewaltigen Schattentheaters.
              Heute früh war der Mann aufgebrochen, um sein großes Wunschziel zu erreichen. Bei der Bergstation in fast zweitausend Meter Höhe ließ er die Gondel der Seilbahn hinter sich, wagte sich dann, den sich an die Westwand des Berges schmiegenden schmalen Saumpfad vorsichtig zu betreten. Nun ja, einige leise auftretende Furchtgefühle machten sich schon breit. Doch genau deswegen hatte er diese Wanderung schließlich unternommen. Es musste möglich sein, die Erlebnisse der letzten Zeit verarbeiten zu können, ohne gleich in irgendeine Neurose zu verfallen.
              Der schmale Weg bereitete ihm im Grunde keine Schwierigkeiten, rechter Hand die tausend Meter aufragende Wand, links ging es dann ebenso steil tief hinab ins Tal. Er vermied es, seine Blicke dort hinab zu richten. Ein leichtes Schwindelgefühl versuchte bei ihm die Oberhand zu gewinnen, schaffte es aber letztlich nicht, in seinem Kopf die Oberhand zu behalten.
Völlig allein hatte er diese für ihn strapaziöse Wanderung begonnen, völlig allein wollte er sie auch zu Ende bringen. Es war sicherlich keine große Bergtour, die er sich da vorgenommen hatte. Jeder Bergsteiger hätte ihn wohl ausgelacht. Für ihn jedoch war sie ein Akt der Selbstüberwindung, eine Art von interner Krisenbewältigung.
              Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, diesen Höhenweg allein zu bewältigen, obwohl man ihn gewarnt hatte. Eindringlich gewarnt, denn für einen »Flachlandtiroler«, wie man ihn scherzhaft genannt hatte, würde es gefährlich sein, da das Wetter sich innerhalb Minuten verändern könne.
             
          »Du schaffst das nicht!« Diese zweifelnden Worte machten ihn immer stärker.
»Du schaffst das nie!« wie oft war ihm das schon eingetrichtert worden. 
»Abitur? Lächerlich, du bist ein Narr!«
»Du doch nicht!«
»Du träumst von einem Studium?«

Man hatte ihn ausgelacht. Folglich hatte er es auch nicht geschafft - natürlich nicht. Der Besuch des Gymnasiums blieb ihm schon von vornherein verwehrt.
Wie hätte es auch sein können, dass ein Junge, der in hohem Grade sprachgestört war, sich anmaßte, die Welt des Wissens zu erforschen.
        »Die Heringsfangflotte sucht noch junge Leute«, hatte man gesagt, »das ist doch was für dich. Du suchst doch immer Abenteuer. Da oben vor Island werden dir die Flausen schon vergehen.«
Er hatte dann einen Beruf ergriffen, der für ihn 'geeignet' war. Diesen Beruf füllte er voll aus, ging aber Tag für Tag nur mit Widerwillen in die Firma.    
Nun endlich hatte er sich aufgerafft, wollte ihnen allen zeigen, dass er mehr konnte, als nur seine Stunden zwischen Computer und Kantine zuzubringen. Gut, es waren zwar schon gefühlte Äonen von Jahren her, dass er diese Worte gehört hatte, dennoch hörte und spürte er diese abwertenden Aussprüche fast ständig in seinem Inneren.
 

Der Pfadwege_024.jpg
        Die Sonne hatte sich so langsam hinter der Westflanke des Bergrückens versteckt. Ein tiefroter Schein tauchte die umliegenden Gipfel in ein Gewirr von kaleidoskopartigen Farbklecksen. Schattenspiele auf höchster Ebene der Natur tauchten den gewundenen Pfad nach und nach in ein blaugraues Etwas. 
        Eine sternlose Nacht kehrte ein auf diesem einsamen Bergpfad. Tief unten im Tal hatte die Dunkelheit schon den kleinen Ort erreicht. Wie eine leuchtende Perlenkette zog sich eine lange Linie von Lichtpunkten um den Fuß des Berges herum, an dessen steiler Flanke der Mann staunend diesen wundervollen Anblick genoss. Urplötzlich und fast ohne Übergang brach dann die Dunkelheit mit einem Male über die Bergwand herein. Fast ohne weitere Dämmerung lag der Berg nun in voller Dunkelheit. Lediglich die Lichter im Tal zeigten dem einsamen Wanderer, dass die Bergeinsamkeit hier nur partiell wirksam war. Die Stille, die jetzt vollkommen und ohne den geringsten Laut die hereingebrochene Nacht beherrschte, hüllte ihn in ihr naturhaftes Wesen ein. 
        Atemlos lehnte er sich mit dem Rücken an die Felswand, fasste die dort angebrachte Sicherheitskette mit beiden Händen und stieß dann einen Schrei aus, der weit ins Tal hinunter schallte. Dann atmete er mehrmals tief ein und aus, machte sich sodann auf, um den Pfad zum Abstieg weiter fortzusetzen. Gewiss, es war schon ein waghalsiges Unternehmen, auf das er sich da einließ. Aber es ging nicht anders, auf diesem schmalen Saumpfad so einfach zu übernachten war ein viel größeres Risiko. So tastete er sich den Pfad entlang, behutsam mit jedem Fuß vorfühlend und diesen dann schließlich auch schrittweise zu gehen.
        Die Lichter tief unten im Tal waren nun merklich weniger geworden; es waren sicher nur noch einige Straßenlaternen, die wie Leuchtkäfer versuchten, der Dunkelheit eine Winzigkeit von Licht zu vermitteln. Hier oben am Berg jedoch war es in dieser mondlosen Nacht stockfinster und - trotz der Spätsommernacht - auch bitterkalt. 
        Nachdem der Wanderer über drei Stunden lang immer der Felswand folgend den Weg durch die Nacht unterwegs war, erreichte er endlich einen sanften Abhang, der an der linken Seite des Pfades mehrere hundert Meter hinabreichte. Das niedere Buschwerk, vor allem aus Krüppelkiefern bestehend, gaben den Blick ins Tal noch nicht frei. 
        Er schaute auf seine Armbanduhr, schüttelte ungläubig den Kopf. Vier Uhr zwanzig! Drüben am östlichen Berghang des Tales zeigten sich die ersten Konturen der Berge des Col du Luc mit ihrem Saum aus magentafarbener Helligkeit. Eine ganze Weile betrachtete er die aufgehende Sonne, wie sie langsam hinter den Bergen auftauchte und zaghaft die Gegend diesseits und jenseits des Tales durch grauweiße Nebelschwaden hindurch in einem diffusen Licht erstrahlen ließ. 
        Eine halbe Stunde später setzte er seinen Abstieg aus der Bergwelt hinunter ins Tal fort, nachdem er sich noch an einer kleinen Wegzehrung gütlich getan hatte, die er noch in seinem kleinen Rucksack vorfand.




 
        
 
 
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Hinab
 

Der Abstieg war sicher nicht leichter als die Wanderung vorher. Mannshohe Felsbrocken verhinderten immer wieder den geraden Weg, zudem war der Geröllpfad durch den Morgennebel sehr rutschig und glatt. Der Mann war glücklich, er spürte, dass ihm das Unwahrscheinliche gelungen war, an das er nie geglaubt hatte: Er hatte sich selbst und seine Furcht besiegt! Und er fühlte sich gut dabei, so gut wie schon lange vorher nicht mehr. »Ja«, schrie er in den nebligen Morgen hinaus. »Ich kann es. Ich kann es wirklich, ihr wolltet es mir alle nicht glauben!«
        Er lachte lauthals, sprang enthusiastisch in die Luft, glitt dabei aus, verlor den Boden unter den Füßen; das Gleichgewicht verlierend, ruderte er mit den Armen, stürzte dann über einen Felsen den Abhang hinunter. Ein großer Brocken des Dolomitgesteins hielt seinen Sturz auf. Der stoppte zwar seinen Absturz ins tiefe Tal, beendete aber auch den weiteren Lauf seines Lebens.
        Der letzte Blick des Sterbenden galt der wunderschönen Aussicht auf das Morgenrot des beginnenden Tages. Dieses Tages, der ebenso herrlich werden würde, wie der letzte, an dem er aufgebrochen war, um sich selbst zu besiegen.


©by H.C.G.Lux

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Kommentare (3)

nnamttor44

Wieviele Erinnerungen Deine spannend erzählte Geschichte mit ihrem so tragische Ende in mir geweckt hat, lieber Horst, kann ich gar nicht fassen!

Ich hatte mit meinen Eltern eine Urlaubsreise an den Achensee gemacht, wo wir so einige Wege erkundeten. Ein Weg am See entlang entpuppte sich für ein ganzes Stück Weges zu einer Alm auch als recht schmaler Pfad, schon einiges höher als "nur" Seeufer. Zur anderen Seite ließ eine steil in die Höhe ragende Felswand auch kein Ausweichen zu. Dazwischen führte - lediglich keinen Metern breit - der Weg, zum Glück mit einem Holzgatter begrenzt - weiter. Doch auch das Gatter war alt und wackelig, nicht wirklich eine sichere Stütze.

Klar kamen wir heil zur Alm. Aber wir wählten nach einer guten Stärkung einen anderen Heimweg! Meine Stiefmutter war nicht bereit, diesen Weg noch einmal zu gehen ...

Auch der oft so böse, lebenslang nachwirkende, Kurzsatz "Du nicht!" ist mir bekannt. Ich habe versucht, meinen Kindern nie so etwas zu sagen, weil ich selbst weiß, wie schmerzhaft er sich so manches Mal bestätigen möchte! Ich glaube, es ist mir auch gelungen ... Das war mir das Wichtigste für sie!

Herzlichen Dank für diese Geschichte

Uschi

lillii

lieber Pan,

eine sehr spannend erzählte, nachdenklich machende Geschichte, die ich gerne  gelesen habe, ich habe mit dem Gehenden gezittert, ich könnte oben auf dem Berg nie ganz am Rand stehen, sah es ungern, wenn mein Mann an der Kante stand und musste wegschauen.
Auf schmalen Pfaden, die wir auch gingen,habe ich den Blck nur dem Berg zugewandt. Sobald es eine Abgrenzung zur Tiefe gab, konnte ich schauen.

Was sagt mir diese Höhenangst ?
Dass ich mich wohl nicht, sowie Dein "Mann in der Erzählung", auf so eine Kraftprobe am Berg einlassen würde.

ich bin und bleibe ein Flachlandtiroler auch wenn ich ab und zu gern in die Berge fahre...

wenns mal wieder ohne weiteres möglich sein sollte.
Danke für Deine Erzählung.

LG Lu.

 

Manfred36

In deiner unverkennbar wortgewaltigen Sprache abgefasst !


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