Wie füttert man ein Pferd?


Wie füttert man ein Pferd?

Bevor ich mein Zuhause erreichte, musste ich noch etwas Wichtiges erledigen. Ich hatte nämlich meine Stulle nicht aufgegessen, weil sie mit der Teewurst belegt war, die ich nicht mochte, denn sie brannte immer so auf der Zunge und im Hals. Aus leidvoller Erfahrung wusste ich jedoch, dass ich ein nicht aufgegessenes Pausenbrot – ein sogenanntes Hasenbrot – zu Hause unter Aufsicht verspeisen musste. Deshalb hielt ich es für ratsam, es vorher irgendwo loszuwerden. Wegwerfen schloss ich allerdings kategorisch aus, denn von den Erwachsenen, die den Krieg miterlebt hatten, hörte ich immer wieder, wie schlimm es gewesen war, zu hungern und wie sehr sie sich nach einem Stück Brot gesehnt hatten. Darum war es eines der obersten Gebote in unserer Familie, niemals Brot wegzuwerfen.
Als geeignetes Mittel zum Zweck machte ich ein Brauereipferd aus, das vor einer Eckkneipe geduldig wartete, bis sein Kutscher das gelieferte Bier ins Lokal gebracht hatte. Wenn ich das Pferd mit meinem Brot fütterte, könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich wäre die Stulle los und müsste trotzdem kein schlechtes Gewissen wegen weggeworfenem Brot haben.
Ich näherte mich also dem Pferd, das auch gleich Notiz von mir nahm. Das ausgewickelte Wurstbrot nahm ich so zwischen die Finger, als wollte ich selbst abbeißen und hielt es dem Pferd hin. Anstatt aber ein kleines Stück abzubeißen, wie ich es getan hätte, wollte der Gaul offenbar die ganze Schnitte auf einmal verspeisen, was mir große Schmerzen bereitete, denn ich war dadurch zwischen die Pferdezähne geraten. Solche Schmerzen hatte ich erst ein Mal gehabt, als meine Finger von einer sich schließenden Tür einge­klemmt worden waren. Zum Glück gelang es mir aber, die Finger schnell aus dem Pferdemaul herauszuziehen. Ein erster prüfender Blick aus tränenden Augen beruhigte mich, denn alle meine Finger waren noch vollständig erhalten.
Mit dieser neuen schmerzlichen Erfahrung setzte ich meinen Heimweg fort. Immer wieder bewegte ich vorsichtig meine Finger, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Ich hatte großes Glück gehabt.
Dass ich jemals wieder ein Pferd füttern würde, schloss ich in diesem Moment kategorisch aus.
Ich kann heute als alter Mann sagen, dass ich diesem einmal gefassten Vorsatz immer treu geblieben bin, auch wenn ich später erfuhr, wie man es richtig macht.

Aus dem Buch "Was für ein Milieu!" von Wilfried Hildebrandt


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