Wie ich Rainer aus der Patsche half!

Autor: ehemaliges Mitglied

Aus meinen Erinnerungen:

Es war im Jahre 1924; ich arbeitete damals als Fremdenführerin, Bibliothekarin und kulturelle Animateurin in Groß-Paris, besonders der "Bibliothèque Nationale".

An einem hellgesichtigen Wintermorgen betrat ich mein kleines, feines Friseur- und Feinhaargeschäft in der Nähe der Madeleine und ließ mir den Kopf waschen.

Als die gräßliche Prozedur, die bekanntlich darin besteht, dass man als Frau völlig hilflos über das Waschbecken gebeugt sich den Seifenschaum aus den Haaren spülen läßt, endlich vorüber war, das Rauschen in nächster Nähe des Gehirns aufgehört hatte und ich - noch mit vorsichtig geschlossenen Augen - vor dem Spiegel saß, da hörte ich plötzlich streitende Stimmen: einen männlichen Tenor, der immer heftiger wiederholte: »Mein Herr, das kann jeder sagen.«
Und eine weibliche grelle Stimme und Worte kamen wie kleine Salven: »Unglaublich«, rief diese Frauenstimme, »und Haarwasser von Houbigant hat er verlangt!«

»Wir kennen Sie nicht, mein Herr! Sie sind uns gänzlich fremd und unbekannt. Das ist nicht Sitte bei uns!« und derartiges mehr.

Gegen diesen Andrang von Vorwürfen tönte die Erwiderung des augenscheinlich Bedrängten sehr schwach, klagend und wie aus einer anderen Welt, mit einem Ton von weltfernem Leid und gleichzeitig einer fremdartigen, leicht slawischen Klangfarbe.

Auf die Gefahr hin, daß das noch über die Stirn rinnende Seifenwasser mir in die Augen fließe, schaute ich nun auf und sah im Spiegel eine Gruppe von drei heftig gestikulierenden Friseuren in ihren weißen Mänteln; hinter einem Tisch und einer Kasse, mächtig und streng im Gefühle des absoluten Rechtes, stark bemalt, mit purpurfarbenen Lippen und künstlich gebleichtem Haar, die Kassiererin; vor ihr, im Profil zu sehen, klein, schmächtig, unscheinbar - ein Herr, wohl kein Franzose, mit hoher Stirne und hängendem Schnurrbart.

Und dieser Herr beteuerte immer wieder: »Verzeihung, ich habe meine Brieftasche vergessen, ich hole sie im Hotel. Ich verspreche es Ihnen, Sie können anrufen, ich bin - ich bin - der Dichter Rainer Maria Rilke.«

Und darauf der Chor der Friseure mit der metallischen Sprecherin: »Das kann ein jeder sagen. Sie sind uns völlig unbekannt!«
Und nun, so wie ich war, im ärmellosen Frisiermantel, überlebensgroß - wie mir schien -, mit steil zu Berg stehenden, nassen, damals noch rabenschwarzem Haaren, stand ich von meinem Marterstuhl auf, durchschritt den ganzen Frisiersalon und erschien in der streitenden Gruppe im entscheidenden Augenblick mit den Worten: »Ich übernehme die Kosten! - Aber ja, das ist doch selbstverständlich für eine Kulturboshafterin!"

Rilke, den ich seit einem Jahr nicht mehr in der SCALA gesehen hatte und von dessen Anwesenheit in diesem Pariser Freudenviertel ich nichts wußte, starrte mich vorerst an wie einen Geist; dann erkannte er mich, weil ich seiner Clara so ähnlich sah.

„Oh - A...! Oh, mein Tirammel, mein Suschen? – Du hier? - Oh lyrische Rettung! – Mein Gott, das ist die wichtigste Wohlfahrt, geradezu das, was wohl in hundert Jahren eine Wellness genannt wird, nachdem mich Rodin hinausgeschmissen hat. - Wie kann ich das gut machen...?"
"Wie der Maitre hat dich hinausgeschissen...? - Musst du dir als Nobelpreisträger das gefallen lassen?"



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Kommentare (2)

Medea Rainer-Maria Rilke-Geschichte kannte ich noch nicht.

Und Hubertine, welche Gelegenheit, dem immer klammen Rainer-Maria aus seiner offensichtlichen Not heraushelfen zu können ....,

dieses Histörchen hätte ich mir auch nicht entgehen lassen.


Medea
luchs35 Ist eine hübsche Geschichte, Hubertine, aber Zahlen springen mir immer ganz gemein ins Auge. Du bist 52, aber hast 1924 Rilke getroffen und standest schon im Berufsleben???
Oder sind das nicht deine eigenen Erinnerungen, sondern einfach nur eine nette Geschichte? wooowww , bin ich heute pingelig, bestimmt habe ich etwas falsch verstanden! )

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