Wie meine Tochter zu ihrem Typ 1 Diabetes kam ...



Es begann im Herbst 1983. Der Schulweg meiner Zwölfjährigen nahm allenfalls 20 Minuten in Anspruch, aber immer öfter – vor allem nach dem Sportunterricht, meist in den letzten beiden Unterrichtsstunden – kam sie erst nach einer dreiviertel Stunde zu Hause an, meist total erschöpft.

Zwei-, dreimal schaut man sich das als Mama an, aber dann hinterfragte ich ihr spätes Kommen. Erst beklagte sie, dass zwei Kinder aus der Nachbarstraße gern ihren kleinen Hund auf sie hetzten, weil es ihnen Spaß machte, sie zu hetzen. Sie sahen, dass sie kaum noch vorwärts kam und machten sich einen Spaß daraus, sie dennoch ans Laufen zu bringen.

Ich musste mehrfach nachhaken, warum sie so quasi als Letzte der Mitschüler nach Hause trödelte. „Ich trödel nicht, es geht nicht schneller. Die Sportlehrerin lässt uns zum Schluss immer Sitzfußball spielen und dann kann ich oft gar nicht mehr aufstehen!“ bekam ich zu hören und die Bitte, ihr doch eine Entschuldigung zu schreiben, damit sie den Sitzfußball nicht mehr mitmachen müsse. Einige Wochen folgte ich ihrer Bitte. Dann aber wollte ich doch wissen, was mit ihr wirklich los war.

Wir suchten den örtlichen Orthopäden auf, der sie gründlich untersuchte und dann die niederschmetternde Diagnose verriet: In ihrer Lendenwirbelsäule war ein Wirbel verrutscht und hing nur noch zu zehn Prozent auf seinem Platz, klemmte Nerven ein. Sie müsse operiert werden, wenn sie nicht im Rollstuhl landen wollte.

Genau zu dieser Zeit erkrankte auch mein Schwiegervater an Bronchialkrebs und so hieß es nun, sowohl ihn in seiner Erkrankung zu unterstützen, als auch für unsere Zwölfjährige eine Klinik zu finden, die ein Kind in diesem Wachstumsalter operierte. In unserer direkten Umgebung lehnten diverse Kliniken ihre Operation ab. Wir fuhren nach Münster, das noch in einem Umkreis lag, der es uns gestattete, sowohl sie zu betreuen als auch den krebskranken alten Herrn, ihren Opa. Aber es hieß, sie müsse gleich zweimal über fünf Stunden in einer langen, schweren OP operiert werden.

Diesbezüglich verstärkte das noch meinen Eindruch einer veralteten Klinik. Auf mich machte die orthopädische Uniklinik Münster so einen antiquierten Eindruck, dass ich überhaupt kein Vertrauen fassen konnte. Obendrein sah ich gleich, dass der leitende Professor R., wohl Parkinson haben musste. Er versicherte, er würde die OP selbst durchführen, aber ich sah, er zitterte wie ein Weltmeister und das kannte ich von meinem Vater, der auch darunter litt. Die nächste Möglichkeit wäre Murnau in Bayern gewesen oder die Orthopädie in München. Aber mindestens acht Wochen mein zwölf Jahre altes Mädchen dort allein zu lassen – nee, das kam für mich nicht infrage! Eine letzte Möglichkeit bot sich in Bremerhaven-Debstedt. Dort konnten wir in der Operationswoche und später mehrfach unser Kind betreuen.

Meine Tochter wurde dort untersucht. Die Frage tauchte auf, ob sie oder wir schon mal Blut gespendet hätten, dann könne man ihr, falls unter der Operation erforderlich, Eigenblut geben. Da wir alle Drei das aber verneinen mussten, war man dort auch nicht bereit, dennoch eine Blutüberprüfung durchzuführen, obwohl in meinem Mutterpass die gleiche Blutgruppe wie die, die meine Tochter hat, stand. Ebenfalls legte mein Mann seinen Bundeswehrausweis vor, der auch die gleiche Blutgruppe auswies. Vermutlich aus finanziellen Gründen wurden unsere Angebote abgelehnt und unsere Tochter erhielt unter der OP leider Fremdblut.

Sie hat noch Glück gehabt, dass sie keine durch HIV verunreinigte Transfusion erhielt. Stattdessen wissen wir, dass sie wohl das Blut einer Spenderin erhalten hatte, das Antikörper gegen den Rhesusfaktor enthielt, hieß für sie, als sie gerade 19, 20 Jahre alt war: wenn sie jemals ein Kind haben wolle, dann jetzt, später ginge das nicht mehr. Die Blutunverträglichkeit des Rhesusfaktors würde sie jedes Kind verlieren lassen.

Ebenso gab man ihr Blut von einem Spender mit Typ 1 Diabetes! Die Blutspenden waren offensichtlich damals (1984) noch nicht so intensiv untersucht. Erst einmal musste sie sich über ein ganzes Jahr, wenn sie zu Bett ging, in einem Gipsbett schlafen legen, tagsüber ein starres Korsett tragen, das verhindern musste, dass sie sich in der LWS falsch bewegte. Das war schon schwer genug. Hinzu kam, dass sie nur aufrecht stehen oder gehen, aber nicht sitzen und daher ein halbes Jahr nicht in die Schule durfte. Sie bekam Hausunterricht.

Nach anderthalb Jahren fiel uns auf, dass sie Unmengen trank. Der mit übertragene Typ 1 Diabetes (von dem wir noch nichts wussten) hatte ganze Arbeit geleistet! Ihre Bauchspeicheldrüse hatte keine Insulinzellen mehr. In unseren Familien gibt es keinen Typ 1 Diabetes, er wird vererbt. Aber sie musste nun damit leben lernen. Ich hatte noch im Kopf, dass der Nachbarssohn an Diabetes erkrankt war und nur wenig später daran verstarb. Und nun hatte ich Angst um das Leben meiner Tochter! Daher war ich Anfangs recht streng mit der nun 15-Jährigen. Es flossen so manches Mal Tränen, wenn sie mit den Freundinnen zum Tanzen oder ins Kino wollte, aber zur bestimmten Zeit zuhause ihre Mahlzeiten einnehmen musste, um keine Unterzuckerung zu riskieren. Das besserte sich erst, als sie zu Diabetiker-Schulungen in eine Fachklinik in Quakenbrück kam.

Sie passte so gut auf, dass sie zum Schluss ein Heftchen darüber verfasste, wie Diabetes zu sehen ist. Auch den Unterschied der verschiedenen Typen beschrieb sie so gut, dass der ltd. Professor ihr Heftchen eine Zeit lang Pumpenträgern als unterstützendes Wissen mitgab! Und endlich wurde auch ich ein wenig intensiver über diese Erkrankungen aufgeklärt.In diesen Jahren fand man so manches über Diabetes und die Behandlung heraus. Ich konnte meine Tochter endlich wieder loslassen …!

Das ist jetzt ziemlich genau 35 Jahre her. Sie hat sich selbst bestens eingestellt, hat seinerzeit ein Vierteljahr Berufsfindung in Hannover machen können und danach dort ihre technische Ausbuldung
abgeschlossen, nícht ohne nebenbei diverse Musikinstrumente zu erlernen, einmal sogar ihr Leben riskierte, weil sie ihren „Zucker“ (mit "Hilfe" der hauseigenen hilfs-unwilligen Internistin) total entgleisen lassen musste.

Heute durfte ich sie zur Augenärztin fahren, wo sie endlich mal keine Verhaltensmaßregeln und Vorschriften bekam, sondern ein Lob für ihre immer noch gesunden Augen!! Nur selber hin- und vor allem zurückfahren war nicht möglich, da zu dieser Untersuchung die Pupillen weit getropft werden müssen, um auch den Augenhintergrund untersuchen zu können. Dann blendet jeder Sonnenstrahl oder Autoscheinwerfer …!
 


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Kommentare (2)

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Herzlichst Krümmel

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