Wir sind nach Kriegsende geflohen


Da war ich nun im Weserbergland, war in Hämelschenburg eingefahren. Mein Gott, siebenundsechzig Jahre ist es her, wo da unser Leben sich neu aufbaute.

1945 im Herbst sind wir aus Walsum Kreis Dinslaken mit dem Zug bis nach Emmertal gefahren. Zwei Tage hatten wir dazu gebraucht. Der Zug von Oberhausen ging nur bis Neuenbeken. Wir kamen abends dort an, mussten zu Fuß vom hoch gelegenen Bahndamm hinunter ins Tal und dann durch Altenbeken wieder hinauf zum Bahndamm und Bahnsteig. Das Viadukt war noch defekt. Am nächsten Tag nahm uns dann ein Zug mit bis Emmertal. Da war die Brücke über die Weser gesprengt.

Und von Emmertal waren es noch vier Kilometer zurück zum Ziel, Hämelschenburg, an dem wir in einigem Abstand mit dem Zug vorbei gefahren waren. Unser Vater, den wir in Walsum bei einem Onkel wieder bekommen hatten, begleitete uns.




Rechts unten die zwei Fenster

Ein Zimmer, wohl das Schlafzimmer im Hause der Schreinerei Hilker, war uns zugeteilt worden. Zwei zweischläfrige Bauernbetten gab es für uns, einen Gartentisch, eine Gartenbank und zwei Gartenstühle durften wir als erste Ausstattung annehmen. Die Betten hatten als Auflagen Bretter. Darauf war Stroh eingeschüttet, so, wie man auch dem Vieh das Lager zu Recht streute.

Die Bewohner, Nachbarn, beschenkten uns mit Dingen, die sie bei der Auflösung des Hauses des Reichsarbeitsdienstes hatten mitgehen lassen: Laken, blauweiß kariert, Blech- und Email-Geschirr. Einen großen Topf hatten wir selbst im Fluchtgepäck dabei – mal zum Kochen, mal für der kleinen Geschwister Notdurft.

Der Bürgermeister des Dorfes, Sattlermeister Schomburg, und seine Frau kümmerten sich rührend um uns, ermunterten die Anwohner, uns doch zu helfen. So konnte Mutter beim Stellmacher Kreibaum – dort am Westausgang – Material besorgen, damit Vater mit geliehenem Werkzeug Behältnisse für die Vorräte basteln konnte. Auch Regale entstanden.

Vater fuhr zurück nach Köln, er arbeitete im Gerling-Konzern. Köln war so stark zerstört, dass Zuzugssperre bestand. Weil Vater (wie auch Mutter) in der Partei (NSDAP) gewesen war, musste Vater in Köln Strafarbeit leisten, Aufräumen der Trümmer. Als er Mutter davon erzählte, was man so alles in den freigelegten Kellern fand, das nun niemandem gehörte, hatte Vater bei seinen Familienheimfahrten manches von dem Gefundenen nach Hämelschenburg mitzubringen. Schüsseln, Teller, Tassen, ja Kochtöpfe, bei denen man die vom Brand zerschundene Email erleben konnte.

Es war Herbst, also Erntezeit. Da kamen die ersten Zentner Zuckerrüben, die zu Sirup verarbeitet werden mussten. Man saß unten in der Waschküche und putzte die Rüben. Nach dem Waschen wurden sie geschnitzelt. Und ab ging es in den Waschkessel damit. Der Kochprozess begann. Dampf waberte ganz langsam über die Kellertreppe nach oben. Der Dampf war klebrig, überall pappte er fest.

Beim Rübenputzen halfen dann und wann zwei Mädchen aus dem Mädchenheim Birkenhof aus Hannover, das im Schloss in einem Seitenflügel untergebracht war, ein Erziehungsheim. Die eingeteilten Mädchen zeigten Dankbarkeit, kamen sie doch einmal fort von der Horde der mit verschlossenen Mädchen.

Manches Mal wurde da kein Sirup gekocht, manches Mal wurde der Brei in einen verschließbaren Kessel gesperrt. Da wurde der Inhalt ganz sachte erhitzt. Über ein dünnes Kupferrohr wurde der entstandene Dampf in einer Kühlschlange abgeleitet und in einem Becher tropfen gelassen. Es war verboten, aber jeder machte es: Schnaps wurde gebrannt. Das Ganze fand abends klamm heimlich statt. Man wollte möglichst wenige Teilhaber haben, auch war es ja strikt verboten.

Und man musste aufpassen. Weder Licht noch Geruch durften in das Dunkel der Nacht gelangen. Eine Streife der Britischen Besatzungsmacht fuhr nachts auch durch’s Dorf. Es brauchte einige Zeit, bis man dem Soldaten trauen konnte, der regelmäßig abends zu seinem Fräulein hier im Hause kam. Und mit dem durfte man es ja auch nicht verderben – NaviCut, Zigaretten, Whisky, Plumpudding usw. usw.

Drei Etagenbetten wurden in Auftrag gegeben. Und Seegrasmatratzen wurden passend dazu gefertigt. Das Zimmer war längst zu klein. Da musste die „Hilkern“ (so nannten wir die Schreinerwitwe) die Küche hergeben – später auch die Kammer zwischen Küche und Schlafzimmer. Ein langer Behördenkampf. Wenn Mutter im Dorf nicht so beliebt gewesen wäre … Mutter schaffte es mit ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem Arbeitswillen. So, wie ihr geholfen wurde, so gab sie alles in Hilfe und Beistand weiter.

Als die Schlesier und Ostpreussen in Hämelschenburg ankamen, musste die Hilkern weitere Zimmer im Haus abgeben. Ein Ehepaar aus Grünberg in Schlesien kam ins Haus. Der alte Herr war pensionierter Zollamtmann. Er litt sehr unter der Vertreibung. Geld gab’s nicht – noch gab es nicht das 131er-Gesetz. Und so schied der feine, so stabile Mann aus dem Leben und ließ seine Frau alleine zurück. Mutter kümmerte sich um diese liebenswerte Frau.

Von nebenan kamen nach getaner Tagesarbeit die Schreiberhauer und die „Astpreissen“ zum Romme-Spielen. Ich habe da das Schlesische gehört und auf-genommen – mein Spatz spricht fast so, kommt er/sie doch aus Niesky, einem Rest von Ganz-Schlesien, der heute zu Sachsen gehört.

Mutter bastelte einen Teddybären, fertigte Schnittmuster davon an. Ich schnitt Pappescheiben zurecht, verknüpfte je zwei mit Blumendraht, diese Scheben waren gut für die Gelenke von Armen und Beinen. So vierzig Mark bekam Mutter für so einen Bären in Köln, womit sie die Fahrten zum Vater finanzierte. Aber auch zum Kauf von Feuersteinen, die dann in Hämelschenburg gegen Essbares eingetausch wurden.
Da kam die "Astpreissin", sah die wartende Truppe von Bären: "Neei, Frau Miller, da satz ich mich off de Arsch, wie sie das so schaffen!"

Ich sammelte Blechdosen, die nicht mehr zum Konservieren gebraucht werden konnten. Ich schnitt ein Fenster rein, verschloss das Fenster mit einer Glasscheibe und nietete einen Griff dran, fertig war das Ganze nach einsetzen eines Hindenburglichtes - man brauchte nicht mehr im Dunklen hinunter zum Plumpsklo gehen.

Adventzeit, mit Schwester Bärbel ging es hinüber zum Buhlen Kackel (Kahlen Buckel) zum Tannenzweige holen. Bärbel hatte schon das Binden von Kränzen gelernt, war sie doch in einer Gärtner-Lehre. Adventkränze konnte jeder gebrauchen.

Kannst du dir vorstellen, warum wir das Hämelschenburg noch immer lieben?
ortwin

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Kommentare (3)

floravonbistram doch aus den Erzählungen meiner Oma und meiner Patin ist mir dies alles so nahe. Ich habe vieles aufgeschrieben, weil ich schon als Kind und Jugendliche wusste, diese Geschichten dürfen nicht vergessen werden. Habe noch mehrere alte Schulhefte, vollgeschrieben mit den Erlebnissen von Flucht und Beistand.
Herzliche Grüße
Flo
ortwin Liebe Traute,
dass gerade Du über diesen Ausruf stolpertest ...
ich habe mir mal angehört, was daraus beim Textvorlesen gemacht wurde. Schade, es hätte noch breiter klingen müssen.
Als ich in den 70/80er Jahren bei Köln meinen Dienst bei der Bundeswehr verrichtete, wohnte im gleichen Haus ein sehr alter Kamrad, ein Mann aus "Insterborg", oh, der konnte es auch so schön. Der beherrsche mit seinem "geretteten" Karabiner noch das Griffekloppen und das blitzschneller Zerlegen und Zusammenbauen des guten, sauber eingeölten Stückes. Inklusive der Erläuterung in bestem Ostpreussisch.

Was hat uns unsere Mutter an Dialekten vorgetragen, die doch mit sechs Jahren das Russisch nicht mehr sprechen durfte und mit Tränen das Deutsch annahm. So uch das Sächsische "Reeschen uff der Heide". Und in Graphologie war sie ein Ass, das Vater beim Lesen von Kirchenbuch-Eintragungen half.

Frohe Pfingsten!
Dieter
ortwin
Traute Ach, Erbarmung!
Als ich fast am Ende Deines Schicksalberichtes war und die Astpreißin das neei sagen hörte, plumpste eine kleine Träne des Wiedererkennens in die Tasten(meine Oma).
Ach wie haben sie nur die Menschen geschunden und gejagt und vertrieben.
Nur die, die sich für nichts zu schade waren kamen durch, die Anderen sind wie der Schlesier zerbrochen.
Auch das mit den Feuersteinen klingelte bei mir etwas wach, das war neben Zigaretten die harte Währung auf dem Schiebermarkt.
Wie mein Vater uns durch das rote Kreuz aus den Pflegefamilien holte, kamen wir auch in eine Flüchtlings/Vertriebenenwohnung.
Er hatte keinen Kochtopf, da hat er einen Aluminium-Teekessel benutzt um Kartoffeln zu kochen. Das Wasser wurde durch die Tülle abgegossen...
Eine Kartoffelreibe für die Schlunzsuppe aus geriebenen Kartoffeln, wurde aus einem Stück Blech gemacht, durch das man mit Nägeln Löcher schlug, rumdrehen, und es war eine scharfe Reibe...
Ja wem erzähle ich das? Aus Stahlhelmen wurde Geschirr geschmiedet ...
So war es und danke, Du hast mir wieder ein paar Erinnerungen da zu geboten, mit Deinem Bericht.
Wunderbar, zu Herzen gehend!
Ganz freundliche Grüße, auch an Spätzin,
sendet Traute

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