Wohin geht die Reise ?!


Lieber Siegfrid,
ich schilderte es schon, wir sind im Spätsommer/Herbst 1945 von Eichwalde abgewandert.


Auf Stottern (immer nur stückchenweise) brachte uns S-Bahn über den Ring – Stadtbahn ging ja noch nicht wieder – bis Witzleben.
Von da ab ging’s zu Fuß zur Sophie-Charlotte-Schule in das U.N.N.R.A.-Lager.
Wir bekamen einen Raum zugewiesen, nicht groß, aber voller Etagen-Betten, da bekamen wir paarweise noch Betten ab.

Ein Leben begann, dass uns in Erstaunen versetzte.
Da waren zwei „Buben“ in Wehrmachtsuniformen, der eine 15, der andere 17 Jahre alt. Sie kamen aus Pommern über Russland vom Ural.
Der Jüngere war ein schlaues Kerlchen, wusste zu schnurren, zu betteln, sammelte Kippen und verarbeitete sie zu anbietbarem Tabak.
Er war es dann auch, der Mutter für uns ein kleines Weißbrot aus Ami-Mehl für 150 RM besorgte
– dazu musste ich mal wieder einen meiner (Opas) Stiefel ausziehen, um an die „Geldkassette“ unter der Einlegesohle zu gelangen,
ich war ja so aus Eichwalde mit Tausend Reichsmark beladen worden.
Umgekehrt gab Mutter von der Unterwäsche für Vater etwas an die Buben ab, deren Hemden und Hosen unter den Militärklamotten wie übergroßer Emmentaler Käse mit Löchern versehen waren.
Sorge machte Mutter der Ältere, saß er doch apathisch an der Bettkannte,
stierte vor sich hin, griff ab und an in den Soldatenrock,
wühlte etwas und zog etwas hervor, das er zwischen den Nägeln beider Hände unter geräuschvollem Knacken zerteilte.
Und das immer noch trotz der vielen DDT-Verpustungen morgens und abends.

Dieses scheinbare Sichaufgeben!
Mit den Buben waren auch zwei Mädels vom Ural zurückgekommen.
Das Ende ihrer Kinderlandverschickung von Bochum nach Pommern brachte sie auch zum Straßenbau am Ural – Kinder!
Alle vier kamen krank zurück, die Mädchen geschlechtskrank, hier nach Berlin.

In das Berlin, wo jeder versuchte, irgendwie weiter zu kommen.

Wir Geschwister – die größeren – standen pünktlich zum Essenempfang unten im Hof bei den Thermos-Behältern an,
bekamen unsere Ration und warteten das Ende der Austeilung ab, also, wenn die Behälter schließlich leer waren.

Dann kam noch einmal unsere Stunde:
mit blanken Händen schabten wir die Reste der Mehlsuppe von den Innenwänden ab und expedierten sie in Richtung „Leerer Magen“.
Wie Ferkel sahen wir aus, die von Mutter aus Wolldecken genähten Mäntel standen vom übernommenen Kleister.
Mutter sprach mit dem holländischen Lagerarzt.
Der ordnete an, dass Mutter, wenn der Tommy mit seinen Militär-Lastern wieder zur Britischen Zone auf der Autobahn durch die Zone fuhr,
die vier Jugendlichen mitnehmen sollte.

Und wir kletterten eines Morgens auf den Tommy-Laster
– ich durfte nach vorne zu dem Fahrer mit seiner ärmellosen, braunen Lederjoppe aufsitzen, direkt neben dem Motorbock des Bedford.
Ich war ganz glücklich, nicht da hinten unter der Plane hocken zu müssen.

Raus ging es zur Avus und weiter auf der Autobahn durch die Mark gen Westen und immer weiter, weiter als mein in der Schulzeit verstandener Horizont.
Und ich saß da neben einem schweigsamen, sauber gekleideten, eigentlich sympathisch wirkenden,
jungen Mann, ich schwieg, traute mich nicht, eine von den bei Fräulein Jacob aus Charlottenburg in Eichwalde gelernten Vokabeln anzubringen.

Auf den Brücken über die Autobahn standen russische Soldaten und schauten auf den Konvoi, der da durch ihre Zone zog.
Auf den Mittelstreifen, die noch ohne Leitplanken waren, grüßte ohne Lautsprecher-Getöse Väterchen Stalin mit Sprüchen, die uns nichts sagten.

Kurze Rast an einer Ausweiche (oder war es eine ehemalige Tank- und Raststätte?).
Der Soldat sprang ab und kam mit zwei Bechern Tee und Keksen zurück, eine Portion für mich.

Dann kam Marienborn und Helmstedt, weiter in der Britischen Zone.
Das neue Kapitel fing damit an, dass Mutter die vier Kinder beim Lagerarzt, seitab von der Autobahn nach Hannover, ablieferte.
Der übergab sie alle vier dem „Revier“, wir besuchten sie,
wie sie frisch gewaschen und in Nachthemden in weiß bezogenen Betten lagen und irgendwie glücklich unsere Mutter anstrahlten,
so, als hätte Mutter ihnen etwas geschenkt.

Für uns begann erst einmal eine Qual: die in der Küche warfen Butterstücken pfundweise in die Milch-Mehl-Fleisch-Suppe.
Wir fraßen, wollten nie wieder Hunger spüren. Und dann ging’s auch schon los:
Wir wußten auf den Plumsklos, Loch neben Loch, ohne Trennwände, nicht wem wir zuerst helfen sollten, unten oder oben,
Scheißen oder Kotzen. Wahnsinn, Qual.

Am nächsten Tag, noch vor Mittag – wir hatten uns im Revier noch von den Geschwistern auf Zeit verabschiedet,
kletterten wir in die Abteilwagen – mit Sitzbänken – Dritter Klasse (andere gab’s nicht mehr).

Der Zug schleppte sich so hin, Braunschweig – wie hieß es früher in der Schule: „Berlin Lehrte Dortmund Essen“.
Wir hielten in Hannover neben dem großen Werk von Continental und dann im Hauptbahnhof an.
Noch ein Stück weiter bis … Wunstorf – Mensch da geht es doch zum Steinhuder Meer!

Alles raus. Zu Fuß ging es zu einer nahe liegenden Schule, da ein Übernachtungslager mit überdachten Riesen-Kochkessel.
Wir fanden Platz zum Schlafen und wetzten dann erst einmal hinunter zu dieser Großküche. Bohnen-Mehl-Schweinefleisch-Eintopf!
Da schmissen die doch einen Schweinskopf aus der Suppe, der landete im Dreck – macht nix!
Wir ergatterten uns das gute Stück mit dem vielen Fleisch dran, nur die Augen fehlten.

Mamf-mamf! Schlaraffia.

Bis in den Nachmittag harrten wir auf dem Bahnhof aus, bis endlich ein Güterzug anhielt
und wohl auch „die Richtung, die ich meine“ weiterfahren durfte.
Auf einer offenen Lore, vollgepackt mit den genormten 20Liter-Benzinkanistern,
fanden wir unter den vielen schon mit angekommenen Reisenden Platz.

Der Zug ruckelte an, rollte los, gen Westen. Neuland für uns, Erdkunde? die war so weit nicht gegangen.
Da oben auf den Wagen wurde gekungelt, der Schwarzmarkt auf Schienen.
Die Lokomotive oder ihr Heizer war ein Schwein: dieser Dreck, der uns in den ausgestoßenen Wolken überfiel.
Es wurde dämmerig und kühl – Herbst!
Mutter gab für die Kleinen die mitreisende Bettwäsche aus, damit sie da auf den Kanistern nicht so blank lagen.

Porta Westfalica! Doch das hatten wir mal gelernt: der Weserdurchbruch.
Und jetzt Life: Abendrot, gleißendes Abendrot zwischen den beiden Bergzügen links und rechts der Weser.
Weser? Rattenfänger von Hameln, die Bremer Stadtmusikanten, der Bückeberg, der Mittelandkanal über die Weser – Schulbuch!
Abendrot. Und der Zug schlich langsam an die Behelfsbrücke über die Weser heran, viel bremsend ging‘s bergab.

Der Zug schaukelte über das Ersatzgebilde. Schleppte sich wieder aufwärts zum alten Bahnkörper zurück.
Die Nacht brach herein. Alles döste, auch der Schwarzmarkt.
Verschlafen wurden die Stationen, an denen der Zug nicht hielt oder wir nicht wach wurden.

Hamm! Sirenengeheul: Sperrstunde. Aussteigen, mitten zwischen den Gleisen im größten Güterbahnhof seinerzeit.
Ein Tasten auf das Licht einer Karbidlampe zu, wo geht’s weiter?
Ein Zug mit lauter Packwagen ausländischer Eisenbahngesellschaften, Repatriierung!
Wir landeten mit einigem Klettergeschick in einem Belgischen Packwagen,
so einer, der augenscheinlich das große B in einer liegenden Ellipse trug.
Wir fanden da in dem Wagen, dessen eine Roll-Tür auch bei der Fahrt offen blieb,
eine Familie mit einer bedeutsamen, uns unbekannten Aussprach: Aachener, die wieder nach Hause wollten.
Ich nahm mein mir zu verwaltendes, zu schleppendes Gepäck und baute mir daraus einen Liegeplatz,
so, dass mir keiner etwas unbemerkt entwenden konnte, wenn ich darauf schlief.
Und ich schlief ein – ich hatte mich um Mutter und die Geschwister gar nicht gekümmert – ich schlief …
Bis mich einer mit Gewalt in Fahrtrichtung gegen die vordere Bordwand schleuderte – Vollbremsung?
Oder war dieses nur das Auflaufen der lose gehaltenen Spannschlösser zwischen den Wagons?
Sternenhimmel ohne Blick nach draußen.

Der Zug stand im Dunkeln, Nebel dazu. Ein Bediensteter mit Funzel ging unten zwischen den Gleisen vorbei.
Was ist los? Woher, wohin usw.
Wir müssen hier raus! Essen-Altenessen, Kohlenpott.
Die Geschwister wurden heruntergereicht, jetzt wollten Mutter und ich Gepäck und uns ausladen,
da im Dunkeln, im Nebel, zwischen den Gleisen.
Rums setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Geschrei! „Keine Angst, der Zug zieht nur etwas vor!“
Über einen Kilometer war das „Etwas“.
Eine Frau von mit ausgestiegenen Fahrgästen führte die Geschwister neben dem Zug nach.

Wir waren heilfroh, als wir uns in dem nebeligen Morgengrauen wieder hatten.
Zwei Kilometer später - auf dem Bahnsteig in Essen-Altenessen – standen da in dem Morgengrauen
Gestalten, so als schliefen sie noch, warteten auf einen Zug.
Und der kam. Gedeckte Güterwagen, leer geräumte Abteilwagen (ohne Bänke),
da hinein versuchten die Gestalten und wir Platz zum Stehen zu finden.
Wir teilten uns auf: Mutter und die Geschwister in einem Abteilwagen, gleich hinter dem davor rollenden Gedeckten.
Ich hatte das Gepäck, was die Anderen nicht buckeln konnten, stellte mich in dem Gedeckten so,
dass das Gepäck zwischen meinen Beinen genügend Schutz gegen Entwendung hatte.
Mutter war von den Geschwistern umringt.
Gedränge, Kumpel fuhren zur Schicht!

Es wurde heller und heller, der Zug rollte von Station zu Station.
Oberhausen! Hier müssen wir raus.
Hinüber zum Bahnsteig Richtung Hamborn. Warten.
Zwei Männer in lichtgraublauer Uniform forderten für unser ganzes Handgepäck Gebühr
– Wegelagerer in Bahnpolizei-Kleidung? Mutter zahlte nach verkrampfter Diskussion.
Hamborn! Aussteigen und zu Fuß über eine Behelfsbrücke über die Emscher zur Straßenbahn nach Dinslaken.
Haltstelle Walsum…
Einige Schritte in die Bahnhofstraße. Halt vor einen Haus mit Laden in rotem Klinker.
Lebensmittel und Bäckerei Heddenhausen: wir sind da.

„Hans! Komm mal raus! Da ist Besuch für Dich!“
Vater kommt, sieht uns …
Schreit: „Geht weg! Weg! Weg! Ihr seid doch Alle tot!“ Vater bekommt einen Weinkrampf.
Unfassbar: Wir stehen da! Und Vater? Wir haben Alle eine Weile gebraucht, bis wir uns in den Armen lagen.

Lasse mich hier aufhören – ich fange zu heulen an! Fünf und Sechzig Jahre ist das her!
Ich spüre noch einmal das ganze Drama, aus dem sich dann für uns ein Neues Leben entwickelte.
Ein Leben, bei dem erst einmal hohe Kohleabraumhalden drängend zum Aufbruch riefen.


Anzeige

Kommentare (0)


Anzeige