Yvonne


DAS HOCHKULTURELLE WIRKEN DER YVONNE Z.
 
Yvonne und Norbert sind mir, dem ausgewiesenen Experten für ontologische Sinnkrisen, sehr ans Herz gewachsen. Wegen der von ihnen verübten Hochkultur in unserer unbeschreiblichen Gemeinde. Und überhaupt. Damit Sie Verständnis dafür aufbringen will ich etwas weit ausholen.

Die total entspannte Kuschelatmosphäre vor einem sanften Feuer im offenen Kamin ist oft die Ursache für das Entstehen des Umstands, dass eine junge Frau über Nacht zu einem unehelichen Kind kommt. In einer, von nebensächlichen Details abgesehen, vergleichbaren Situation geschah es, dass Yvonne Z. in Belonglas das Potential in sich entdeckte, … Halt ein! muss ich mir an dieser Stelle selbst zurufen, so geht das nicht! Nur blutige Anfänger fallen gleich zu Beginn einer Erzählung mit der Haustür in den Flur. Das war jetzt kein sehr gutes Beispiel für eine geglückte Metapher, aber es zeigt uns, dass meinem Heimatort Belonglas, in dem meine problemlos verlaufene Geburt stattfand, die Kultur ein brennendes Anliegen, wenn nicht sogar sinnstiftend, ist. Das kann man mit voller Überzeugung sagen.
Das Vorstehende ist die leicht zu verstehende Erklärung meines jetzt beginnenden Verhaltens, das den von Yvonne Z. verursachten Vulkanausbruch an Hochkultur in Belonglas in peinlich genau zeitlich geordneter Reihenfolge – darauf wollte ich hinaus, als ich die einleitenden Worte formulierte – in würdigenden Sätzen für unsere Kinder und Kindeskinder zum bleibenden Ruhm der Dorfgeschichte auf Papier zu verewigen.

Yvonne Z. wurde im Verlauf des Sommers vorletzten Jahres in eine bejammernswert frauliche Sinn- und Lebenskrise gestürzt, als ihre Tochter Jeanette nach dem Abitur das sie bis dahin behütende Elternhaus verließ, um sich beim Studium der Ägyptologie selbst zu verwirklichen. Solch ein herber Schicksalsschlag kommt auch in Belonglas in den besten Familien, zu denen Yvonne gehört, vor. „Fast so schlimm wie lesbisch“ flüsterte der Volksmund von Belonglas hinter vorgehaltener Hand über Jeanettes Wahl des Weges zu ihrer individualpsychologischen Persönlichkeitswerdung.
Wie der in der deutschen Kulturlandschaft fremdländisch klingende Name verrät, stammt Yvonne ursprünglich aus Frankreich. Mein Kulturfreund Norbert, der Zahnarzt von Belonglas, fing vor einigen Jahren in seinem Sommerurlaub in der Provence zuerst damit an, mit ihr miteinander zu gehen, was sich innerhalb einer Stunde zu Formen der Begegnung ehemaliger Erbfeinde in der Weise auswuchs, dass er Yvonne als rankes und schlankes Gewächs nach Belonglas mitbrachte, aus einem ganz banal natürlichen Grund, wenn das Miteinandergehen auch andere Körperstellungen als das Miteinander Gehen zeitigt, wobei der auf natürliche Weise zustande gekommene Grund im Winter in Belonglas zu einer sichtbaren Form heranwuchs und Ende Sommer letzten Jahres unter dem Namen Jeanette das behütete Elternhaus verließ. Ich glaube, ich habe damit mit sehr einfachen Worten erklärt, dass damals Norbert und Yvonne, obwohl sie noch nicht verheiratet waren, ausgiebig mit hellem Jauchzen miteinander gevögelt haben, wie man im Volksmund sagt. Ein warmer Sommer in der Provence eignet sich gut dafür, Unkeuschheit mit anderen zu begehen.

Die tiefe Sinn- und Lebenskrise, in die Yvonne gestürzt war, und das auch noch ohne schwesterliche Begleitung durch eine trauerarbeitende, lila gesträhnte Frauengruppe – in Belonglas gibt es solchen absonderlichen Klamauk nicht, da die Frauen weitgehend normal und naturwüchsig geblieben sind -, wurde im Lauf des vorletzten Winters noch dadurch zu einem Trauma vertieft, dass ihr Frauenarzt ihr bestätigte, dass sie nunmehr die Pillen im Döschen lassen dürfe, denn sie habe die Schwelle zu jenen Jahren überschritten, die als unumkehrbares Stadium den Frauen schmerzliche Nächte beschert, weil sie ihnen nicht mehr ihre Tage bereiten. Dazu lassen sich schwerlich tröstende Worte finden. Die Männer können ja auch nicht dem Schicksal intellektueller Kleingärtner entgehen, dass manchmal ein dritter Mann zum Skat fehlt. Mein Kulturfreund Norbert ertrug die Mitteilung von diesem Ereignis mit bewundernswert stoischer Fassung. Was eigentlich nicht verwunderlich ist, hat er doch in seinem Beruf als Zahnarzt gelernt, die Schmerzen, die er anderen zufügt, ohne mit der Wimper zu zucken als naturgegeben hinzunehmen.

Die Wochen des späten Herbstes, den folgenden Winter und das Frühjahr füllte Yvonne, getrieben von innerer Unruhe, mit rastlosem wöchentlichem Jahreshausputz – diese deutsche Sitte hat die zur Zeit, als Norbert sie kennenlernte, überdurchschnittlich attraktive Französin ebenso verinnerlicht wie mein Kulturfreund Norbert den Genuss eines Kräftigen aus dem Médoc als Angleichung an die französischen Sitten - des schmucken, ganz im voralpinen Stil der Brunst- und Jodelarchitektur gehaltenen Eigenheimes und dem nahezu pausenlosen verschwenderischen Verzehr von Sauerbraten und Schwarzwälder Kirschtorte. Durch diese pittoreske Angewohnheit erlangte Yvonne unüberbietbar deutsches Burda-Schnitt-Format. Hinfort galt sie in Belonglas als Musterstück angepasster Integration; sie wurde von den deutschen Burda-Schnitt-Frauen nicht mehr scheel angesehen, sondern als Schwester gleichberechtigt behandelt, also in den Dorftratsch auch aktiv – bisher war sie lediglich passives Opfer - einbezogen. Ohne darob zu erröten, trug Yvonne nun geblümte Blusen, die als Darüberhänger designt waren. Statt Körbchen suchten nun belastbare Körbe aus formstabilisierendem Doppelstrech ihre, ein Cinemascope-Format gewonnene Frontgestaltung im Zaum zu halten. Im Sommer und Herbst war es dann soweit: Yvonne legte sich jeden Donnerstagnachmittag auf die Couch des Psychiaters in der nahen Kreisstadt. Wie zu erwarten war, vertiefte diese Verzweiflungstat der Ratlosigkeit die Entzugserscheinungen in ihrem multikausalen Neurosedesaster bis zu der pathologischen Erscheinung, dass sie beinahe genau so bescheuert wie ein Psychiater zu sprechen begann, wobei sie von einem verräterischen Zucken ihres rechten Ohrläppchens begleitet wurde. Es wurde höchste Zeit, meine beratende Lebenserfahrung in das schicksaldurchwirkte Geschehen einzubringen.

Am ersten Advent – der frühwinterliche Himmel hatte mit seiner typischen Sterneszier die unerforschliche Weite und Tiefe des Kosmos geschmückt - hatten wir im schmucken Eigenheim von Norbert und Yvonne, im Anschluss an ein von Yvonne liebevoll zubereitetes Sauerbratengericht, das als Dessert von Schwarzwälder Kirschtorte gekrönt wurde, eine von köstlicher Freundschaft geprägte Krisensitzung, die sich im zweiten Drittel zum Problemlösungsgespräch auswuchs. Ruhig brannte das erste Kerzlein am Adventskranz vor sich hin. Im offenen Kamin verbreiteten die trockenen Birkenscheite mit ihren züngelnden Flammen jene nachdenklich entspannte Feierabendstimmung, die schon in der Mitte der 2. Bouteille des sorgfältig dekantierten Grand Crû aus dem St. Emilion die Zungen löste.
Josef“, sprach Norbert mich mitleidheischend an, „so kann es mit der tiefen Sinn- und Lebenskrise, in die mein Franzosenmäuschen gestürzt ist, nicht weitergehen. Unser Haus blitzt und blinkt vom Keller bis zum Dachstuhl klinisch rein, unsere Reinsträume sind unauslöschlich vom Duft nach Sagrotan durchwallt, ma chère Petite braucht ein neues Betätigungsfeld. Josef, guter Freund, Du bist doch, wie seit eh und je, sicher nicht um einen guten Rat verlegen. Aber mach ihn nicht zu teuer, ich habe die neue Praxiseinrichtung noch nicht abbezahlt.“
Mon cher ami Josef“, plapperte mit ihrer süßen Flötenstimme Yvonne, während ich bei einem sorgfältig gekauten Schluck einige wohlüberlegte Worte erwog, „meine Friseurin hat gesagt, in meinem Alter muss eine Frau ein neues Ich finden, um es wirklich selbst zu verwirklichen. Aber wo soll ich in Belonglas dieses neue Ich suchen?“
Jetzt war ich an der Reihe. Mannhaft stellte ich mich der Herausforderung. „Liebe Freunde“, hub ich an, „wenn ich euer Problem sorgfältig von allen Seiten beleuchte, deucht es mir ein lösbares zu sein.“ Ich legte eine Kunstpause ein, um der Wucht meiner Worte die ihr gebührende Bedeutung zukommen zu lassen. Ich nahm auch die ersten, von Hoffnung gefüllten dankbaren Augenblicke entgegen. Dann fuhr ich fort, nicht ohne zuvor, begleitet von meiner Kennermiene, eine gute Portion Grand Crû genossen zu haben. „Unser Yvonnchen stammt doch aus Frankreich. Die dortige Population weist bekanntlich, soweit ich das in Erinnerung habe, doch seit langer Zeit, neben üppigen Angeboten für freudenreiche Urlaubsvergnügungen, eine sehr große Menge von weltbekannten Künstlern auf. Ich denke an diesen Picasso oder den … den … äh, den, wo immer diesen Berg in der Provence … gleich fällt mir wieder der Name ein, er liegt mir schon auf der Zunge, wie man so sagt, also, das wollte ich euch als guten Rat zu wissen geben, jedenfalls hat unsere liebe Yvonne als typische Französin sicher ein kulturelles Erbe im Blut liegen. Jetzt, da sich ihr Augenstern Jeanettchen außer Haus begeben hat, um sich an der Universität frei zu machen, kann sie – mit geringem Kostenaufwand, mein lieber Norbert – dieses Potential in sich als neues Ich nach der Menopause entdecken. Wenn unsere Yvonne dann im Frühling einen Kurs bei der VHS für die Frauen von Belonglas, die vom gleichen Schicksalsschlag getroffen sind, leitet, kann sie sich hübsche Visitenkarten mit dem Titel „Dozentin“ drucken lassen. So kann sie sich als schwarz auf weiß anerkannte Künstlerin selbst erfinden und anschließend verwirklichen und zudem ihr seelisches Gleichgewicht nach den neuesten Forschungsergebnissen aus Amerika durch ein schwungvolles balancing finden. Und das tolle an dieser Idee: das kulturelle Leben in Belonglas wird dank Yvonne eine neues Blüte erleben. Unser langjährige Bürgermeister wird im Sommer, anlässlich der festlichen Aufführung unseres Bauernschwankes im Spritzenhaus, dem jährlichen Höhepunkt der gesellschaftlichen Ereignisse in unserer weltkulturerblichen Dorfgemeinschaft, Yvonne mit ehrenden Worten begrüßen und bedanken.“

Es bedarf keiner näheren Begründung, dass Norbert, ohne die Augen zu verdrehen, unmittelbar nachdem er diese gereifte Lebensweisheit vernommen hatte, ausgelöst durch einen von beglückender Dankbarkeit überschäumenden Geistesblitz, die Spendierhosen anzog und den Göttern noch eine Grand Crû aus dem St. Emilion als Dankopfer für meinen lebensklugen Rat opferte, sodass sich der Rest des Abends noch lange dahin zog. Kühn entwarfen wir erste Gedankenskizzen und Planungen, die Belonglas, dank des französischen Einflusses von Yvonne, an die Speerspitze der deutschen Hochkultur befördern würden. Norbert entnahm seinem Büromateriallager einen neuen Leitzordner mit 10-er Register und beschriftete ihn. Yvonne bestellte zum Freudenfest drei Pizza „stagione“ beim Italiener mit Partyservice in Ober-Belonglas und ich zeigte mich weiterhin von meiner besten Seite. Damit war bestens dafür gesorgt, dass es hoch herging.
Yvonne war in ihrem sprudelnden Ideenreichtum kaum zu bremsen. Allerdings verirrte sie sich zu später Stunde in eine Sackgasse, sie vernarrte sich in die idiotische Idee, „Batiken mit Yvonne, wir basteln Lampenschirme für Salzlampen“ als Eröffnungskurs als Dozentin. Ich wendete eine List an, um sie zu überzeugen, dass diese Idee grandioser Mist war, indem ich sie an das kulturelle Erbe in ihren Genen erinnerte.
Ma chère Yvonne“, schmeichelte ich in der charmantesten Art der mir zur Verfügung stehenden Sprechweisen, „Deine Idee ist doch blöder Quatsch. Gut, den Einwand von Norbert, Deine kreative Idee verursache zu hohe Kosten für die benötigte elektrische Energie, diesen Schwachsinn kann ich locker vom Tisch wischen.“
In diesem Moment stand Norbert auf, einerseits, um sein verstehendes Grinsen über den blühenden Blödsinn meiner Überzeugungsstrategie zu verbergen, hauptsächlich jedoch, um in der Küche eine kalt gestellte „Veuve Cliquot“ aus dem Eis des Kühlschranks zu erlösen, aus dem Keller Nachschub zu Tage zu fördern und ihn ins Kühlfach zu betten. Ich schwieg, um ihn von seiner glänzenden Idee nicht abzubringen. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte fuhr ich fort.
Der Norbert soll Zähne ziehen, sich jedoch aus der Kreativität heraushalten, von ihr versteht ein Zahnarzt nichts. Er braucht doch nur den Erlös einer halben Prothese als hochherzige Spende auf den Tisch des Hauses blättern, schon kannst Du, ohne auf die Folgen der Energiekosten achten zu müssen, Deine Kursteilnehmerinnen Lampenschirme für Salzlampen basteln lassen.“
Mon cher Josef“, hauchte Yvonne und gab mir einen richtigen Kuss, der bei mir eine typische Reaktion meines männlichsten Organs auslöste, indes die schon vorgerückte Stunde die Zeit im Nu verrinnen ließ. Von der saftigen Wohltat ließ sie erst ab, als sie Norbert nahen hörte. Unter uns Hochkreativen von Belonglas hatte sich der mit Yvonne aus Frankreich nach Belonglas gekommene Brauch, den ich soeben in Andeutungen geschildert habe, schon verbreitet und bewährt, noch bevor sich der erste Potentialschub von Yvonne unter dem Adventskranz ereignete. Uns Belonglaser liegt das hochkulturelle Verhalten halt im Blut und gegen die Macht der Gene soll man sich nicht wehren.
Aber weshalb ich Dir davon abraten will, Yvonne, ich meine das Batiken …“
Norbert hatte wieder die Szene betreten, ohne sich das zufriedene Grinsen seines Franzosenmäuschens erklären zu können als er maulte: „Yvchen, in meiner Abwesenheit hättest Du schon mal die Gläser holen können.“
„… liebe Yvonne“, überspielte ich die kleine eheliche Meinungsverschiedenheit über die angemessene Behandlung eines Gastes bei Abwesenheit des Hausherrn, „sei Dir doch mit allen Fasern von Leib und Seele bewusst, dass Du Französin bist. Daher hast Du ein Alleinstellungsmerkmal, einen USP (unique selling position sagen die Fachleute) im Wettbewerb der hochkulturellen Veranstaltungen von Belonglas. Diese Karte musst Du voll ausspielen. Ich rege an, Du lernst wieder ein bisschen der französische Dialekt in Deine Deutsch zu mische und, mon Dieu, dann Du spiele Deine volle Charme in eine Kurs. Mir fällt als Titel Deines historischen ersten Auftritts ein, bei „Selbstverwirklichen in Yvonnes Kreativwerkstatt beim Aquarellieren nach französischer Manier und Feng Shui“ können die Frauen von Belonglas trefflich ihr neues Ich finden.
Mon Dieu Josef, was sein Du heute wieder so kreative. Malen ich in französische Gene habe, aber was bitte Feng Shusi sein?“
Ma Belle, Feng Shui ist etwas aus dem Fernen Osten, ich habe gelesen, ohne diese Zutat läuft in der Szene der Hochkultur von Frauen jenseits der Menopause in Deutschland nichts.“

Die, von den Wonnen, die von ungetrübter Vorfreude auf ein von unendlichem Glück erfüllten Lebens getragenen Feinplanungen zu Yvonnes Projekt, das Belonglas in die Königsklasse der wahrhaften Eliten katapultieren würde, nahmen noch vor dem Ende des scheidenden Jahres einen verheißungsvollen Beginn. Yvonne schien – abgesehen von ihrem statuarisch verharrenden äußeren Erscheinungsbild – auf Kumuluswolken losgelassener Fröhlichkeit bei ihren Einkaufswegen zwischen Metzger und Konditor zu lustwandeln. Bis obenhin zu ihren, von beginnender Spleiße gezeichneten Haarspitzen war ihr Verhalten von einer bemerkenswerten Leichtigkeit des Seins geprägt, als ob es auf der Welt keine Zahnschmerzen gäbe und die heutige Jugend noch das sei, was sie einmal war. Gestützt auf seine akribisch geführte Patientenkartei und dank seiner, die Intimdistanz deutlich unterschreitenden engen Bekanntschaft mit seinen Patienten in Griffweite, eine Angewohnheit, die zu den Eigentümlichkeiten des zahnärztlichen Berufs gehört wie das weiße Sonntagskleidchen mit reichlichem Spitzenbesatz zu der Hochwürden, dem Herrn Bischof, konnte Norbert in einer kleinen Serie von vorweihnachtlichen Telefonaten alle 12 ZugehörInnen von Belonglass Teilpopulation der problemzonenbehafteten Frauen gemäß den Kriterien von Yvonnes Zielgruppe bewegen, das kreative Potential zur französischen Malweise nach Feng Shui in sich zu entdecken; jene fraulich voll erblühten Jahrgänge entschlossen sich auch mit am Telefon freudig erregter Stimme, ihre dann gefundene Entdeckung, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, in Yvonnes Kreativwerkstatt gleichzeitig mit ihrem neu gefundenen Ich zu verwirklichen. Auf diese, nur den Laien in atemloses Staunen versetzende Weise, füllte sich das Leben von 12 Bewohnerinnen meines über alles geliebten Geburtsortes, an denen die Zeit, nicht ohne Spuren zu hinterlassen, vorübergegangen war, wieder mit Sinn. Sigmund Freud hatte sich einst sicher einen Vorgang dieser Art entschieden anders vorgestellt, als er Vater der Psychoanalyse wurde, doch, wie man sieht, auch Freuds Träume sind nicht mehr ganz frisch.
Es war für das luzide Vorhaben von Yvonne ein günstiger Zeitpunkt. Als sehnlichen Herzenswunsch wünschten sich die 12 „Kulturträgerinnen“, wie sie sich unter Verwendung gen Himmel verdrehter Augen und leicht vibrierender Stimme, als ob es sich um eine erotische Delikatesse handle, bald auf dem Kulturparkett von Belonglas nennen sollten, zu Weihnachten von ihren Gatten und sonstigen Lieben, nebst einer durchbrochenen Bluse in changchierendem Elfenbein, wie es gerade zeitlose Mode war, mit Brosche im Stil des Dritte-Welt-Touristenkitsches, eine mittelgroße Sammlung von Schminke-Aquarellkästen, ein breites Sortiment Aquarellpapier von Schoeller in allen Größen und Oberflächenbeschaffenheiten, natürlich Pinsel aus den Schwanzhaaren von sibirischen Kolinsky-Rothaarmardern in allen Größen und Formen, sowie eine Staffelei von der standfesten Sorte, wie sie uns aus den Abbildungen der Ateliers großer Künstler ein vertrautes Bild ist. So waren die Kulturträgerinnen bestens ausgestattet, um im Neuen Jahr kreativ zu werden.

Noch waren die modern gewordenen Frauen, die Männer in sequentieller Monogamie zum Geschlechtsverkehr nur zuließen, wenn sie zuvor zum Sitzpinkler konvertierten, von der Begrüßung des Neuen Jahres noch nicht ganz nüchtern, als das Projekt in schwere See geriet. Eigentlich hätte man weise vorausblickend damit rechnen müssen. Im übertragenen Sinn hagelte es Blitz und Donner als die Kultur in die Hände der Politik fiel. Wir müssen uns mit der grausamen Lebenserfahrung abfinden, dass ein solcher Vorgang noch nie zum Fortschritt und Glück der Menschheit beigetragen hat. Da müssen wir durch, wenn wir Realisten bleiben wollen. Und Belonglas traf die schlimmste aller denkbaren Varianten, der Super-GAU: die fundamentalistisch-sektierisch öko-vegane Fraktion der Grünen bekamen Wind von Yvonnes Projekt. Flugs setzten sie sich zusammen, um, der Natur ihres Gründungsmythos und ihrer phantastischen Philosophie entsprechend, einen Grund, um dagegen zu sein, zu finden und aufrüttelnde Proteste zu veranstalten. In mehreren, im gruppendynamischen Stil gehaltenen Workshops – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer saßen auf bunten Decken aus der Dritten Welt im Kreis auf dem Boden und hielten sich mit bewundernswerter Ausdauer gegenseitig an den Händen, wobei sie die Tagesordnung abarbeiteten – öffneten sie sich, tauschten sich aus und brachten sich voll ein. Die in 4 Doppelspitzen gegliederten 8 Mitglieder, unter ihnen quotengerecht 4 Frauen, wurden gleichzeitig von Frauen und Männern moderiert. In derart basisdemokratisch gestylten Prozessen erarbeiteten sie einen umfassenden Forderungskatalog. Dieser enthielt zwei Punkte. Zum einen wurde Belonglas zur genfreien Republik erklärt, in der die Verwendung von mit menschlichen Genen gemischten, die Mutter Erde zum Weinen zwingenden, Aquarellfarben geächtet wurde. Die Forderung hört sich für einen normalen Menschen total bekloppt an. Ganz objektiv betrachtet ist sie es auch. So sind sie halt, die Grünen.
In einem 2. Punkt gaben sich die Grünen auf das Niveau der FDP gesunken. Sie forderten die Ernennung ihrer ältesten MitgliedIn Cäcilia zur neu zu schaffenden Stelle einer Kulturbeauftragten von Belonglas. Eigentlich sollte die Forderung aufs Außenministerium in Belonglas lauten. In einer Sternstunde der Geschichte setzte sich jedoch der einzige Realo mit seiner Meinung durch, dass der Außenminister in Berlin sein Büro habe. Zu den Preußen wollte Cäcilia nicht ziehen weil die noch nie in Afghanistan zum Weinen waren, und außerdem „ die lieben keinen Feldhamster oder Wachtelkönig und im Frühjahr schlagen die doch die Robbenbabys tot“. Mit dieser Bemerkung beendete sie alle Zweifel an der Berechtigung ihrer Kandidatur zur Kulturbeauftragten und an ihrem Verzicht auf das Außenministerium. Mit solchem Verhalten unterscheiden sich die Grünen, bei gleichem Niveau, von der FDP. Insgeheim verfolgten die Grünen mit dieser Taktik eines trojanischen Pferdes die Absicht, von einem offiziellen Podium aus erstmals in ihrer Geschichte in Belonglas etwas Sinnvolles von sich zu geben, eine Utopie, die schon damals ein tot geborenes Kind war. So hinterfotzig ist die fundamentalistisch-sektiererisch öko-vegane Fraktion der Grünen.

An einem Samstag, an dem das Nahen der ersten Boten des Frühlings zu spüren war, ohne dass diese bereits ein blaues Band durch die Lüfte flattern ließen, stellten die Grünen bei einem freiwilligen Arbeitseinsatz einen Tapeziertisch vor den Supermarkt auf der Grünen Wiese vor den Toren von Belonglas. Auf ihn, den Tisch, stellten sie einen mittelgroßen Eimer (ca. 8 Liter Fassungsvermögen) mit Erde aus Gorleben und eine Fahne der Freien Republik Wendland. An diese war ein Jugendbildnis der nackten Cäcilia im dortigen Antiatombaumhüttendorf geheftet; auf ihm war sehr deutlich erkennbar, dass die Arme schon damals Hängebrüste hatte. Man soll die Wahrheit nicht immer an das Tageslicht bringen wollen, das kann man aus dieser Begebenheit, die einen bleibenden Eindruck bei den Betrachtern hinterließ, lernen. Hinter dem Tapeziertisch platzierten die Antibekenner zwei handgemalte Pappen mit ihren Forderungen. 2 Paar gemischtgeschlechtliche Doppelspitzen vertraten sich durch Hin- und Hergehen vor dem Tapeziertisch die Beine samt den Füßen. Sie erklärten mit Bekennermienen den Besuchern des Supermarktes – einmal, sie machten gerade eine Zigarettenpause, warf ein altes Mütterlein, die Schreiner Theres, die dem Herrgott, als sie noch jünger war, 6 Kinder geschenkt hatte, eine Eineuromünze in den Eimer, sie glaubte, Adveniat sammle wieder für die hungrigen Kinder in der Sahelzone, auf deren geschundener Erde keine genfreien bunten Blumen wachsen – dies sei eine Demonstration, die bis 14.00 Uhr dauere. Bis dahin sei man in einen solidarischen Hungerstreik eingetreten. Man kann über alles streiten; außer die Grünen.

Der große Tag für die Kultur der Gemeinde Belonglas kam mit der Eröffnung des Kurses „Selbstverwirklichen in Yvonnes Kreativwerkstatt beim Aquarellieren nach französischer Manier und Feng Shui“. Am Dienstagnachmittag nach den Osterferien umarmten sich die gewichtigen Kulturträgerinnen nach französischer Manier unter Abgabe von Küsschen links, Küsschen rechts. Sie stellten die in großen Ledertaschen geborgenen Malutensilien auf die Tische und wurden ruhig, denn es ging los. Das alles ereignete sich im Umkleideraum für Mädchen in der Turnhalle der Hauptschule von Belonglas, die die Gemeinde den kulturellen Anlässen zur Verfügung stellt, da sie diese fördert. Unser langjähriger Bürgermeister hatte es sich nicht nehmen lassen, mit der Amtskette zu kommen, begrüßte und bedankte alle wo gekommen waren. In einer kurzen Ansprache, die sehr bewegend war, wie die Heimatzeitung am nächsten Tag berichtete, versicherte er einmal mehr, dass die Beschäftigung älterer Frauen ein unverzichtbarer Bestandteil der Kultur von Belonglas sei. Dann übergab er das Wort an die Hochwürden, den Herrn Pfarrer Hilarius, wo er auch begrüßen konnte. Der erklärte, dass er den weiten Weg nicht gescheut habe, und klärte mit seiner gesalbten Stimme sehr weihevoll darüber auf, dass der Liebe Gott, unser aller Herr, auf dass sich das Wort der Heiligen Schrift erfülle, mitten unter den anwesenden kreativen Gotteskindern sei, denn es seien mehr als die Mindestzahl von 3 Personen in den Umkleideraum der Turnhalle gekommen. Er beweihräucherte und beweihwasserte ausgiebig den Raum. Dann ging er, genauer gesagt, er wurde vom Bürgermeister im Auto zum Dämmerschoppen in der „Linde“ mitgenommen. Dagegen kann man nichts einwenden.
Endlich waren die Kreativen unter sich. Yvonne öffnete, erleichtert von der beendeten Ergriffenheit, die ersten Flaschen der Batterie „Veuve Cliquot“, die Norbert gespendet hatte. Dabei griff ihr Mathilde unter die Arme. Diese Hochherzigkeit wurde allgemein als schwesterlich so lieb und von echter Mitmenschlichkeit getragen gelobt, wobei einigen der Damen auch Tränen der schwesterlichen Rührung in die Augen traten. Yvonne setzte die 5. Flasche in Umlauf als die gegenseitige Vertrautheit soweit fortgeschritten war, dass sie die wichtigsten Fragen der Kreativwerkstatt zur Diskussion stellen konnte. Schon nach geschätzten 18 Minuten war Gerda, die mitarbeitende Ehefrau des Metzgers, zur Kassenwartin gewählt, da sie sich in Gelddingen gut auskennt. Ihr oblag ab sofort in Eigenverantwortung die Aufgabe, eine Kaffeekasse einzurichten, Kaffee einzukaufen und die dadurch fällig werdenden Beiträge zu kassieren. Komplizierter war die Festlegung der Reihenfolge, in der jeweils zwei Frauen zwei Kuchen zu den wöchentlichen Sessionen backen und mitbringen sollten. Nach intensiver Diskussion war Klarheit geschaffen, dass es je ein Kuchen vom Typ Sahnetorte und ein Boden mit frischen Früchten der Saison sein solle, dieser aber wegen der Kalorien ohne Sahne. Zum Abschluss der ersten Arbeitssitzung erzielte man noch Einigkeit zu dem regelungsbedürftigen Punkt, dass zur Feier von Geburtstagen kalte Platten und „ein Gläschen Sekt“ gereicht werden dürfen, jedoch – wegen der Kalorien – keine warmen Speisen. Als Spitzlicht des Abends überraschte Yvonne die Künstlerschwestern mit der freudigen Mitteilung, dass sie im Internet einen Versandhändler gefunden habe, der schwarze Künstlerkleidung in den erforderlichen Übergrößen sowie schwarze Borsalinos im Angebot habe. Das war die Initialzündung dafür, dass kurze Zeit später das Erscheinungsbild meiner Heimatgemeinde Belonglas von sehr markanten Damen ganz in Schwarz und rotem Schal eine hochkulturelle Prägung erhielt.
Kurz vor Pfingsten waren die Kulturträgerinnen in der Kreativwerkstatt bei Kaffee und Kuchen mit den Krankheitsgeschichten der letzten 25 Jahre aller 13 in der Kreativwerkstatt vertretenen Sippen soweit vertraut geworden, dass es Yvonne wagte, daran zu erinnern, dass man auch nach französischer Manier aquarellieren wolle. Trotz der ganz und gar künstlerischen Atmosphäre, die seit geraumer Zeit das Zusammensein der Kulturträgerinnen füllte, war leise Opposition im Umkleideraum zu vernehmen.
Och meine Liebe, muss diese Neuerung sein?“ schmollte die Lehrergattin Helene Schneider, „es war doch so gemütlich als wir uns so innig mit uns beschäftigten.“
Yvonne merkte, dass Helene den anderen einen Wunsch aus dem Herzen gelesen hatte. Da brachte sie ein unschlagbares Argument ins Gespräch.
Wenn wir künftig in jeder Session 30 Minuten malen, wird mein Norbert seine Beziehungen spielen lassen, damit wir bei der hochsommerlichen Darbietung von „Liebe und Leid auf einem deutschen Bauernhof“ unsere Werke in einer Ausstellung an eine Wand im Spritzenhaus hängen dürfen“.
Ausstellung. Wie elektrisiert von dem Zauberwort, des einzigen Ziels ihrer künftigen Existenz als wahre Künstlerinnen, bekamen die Kulturträgerinnen umgehend rote Wangen und Tränen in die Augen. „Was ziehe ich an?“ „Kommt das Fernsehen?“ „Wer schreibt den Pressebericht?“ „Sind 2.300,- € zu wenig für ein Bild mit Feng Shui?“ die Fragen nahmen kein Ende. Erst sehr spät am Abend kamen die Frauen nach Hause.
Und tatsächlich, wie vom Sturm getrieben entwickelten sich schlagartig die bis dahin im Verborgenen verbliebenen künstlerischen Potentiale der Frauen von Belonglas, bei denen die Menopause in ihr Leben eingetreten war. Durch das Spritzenhaus brauste wie Donnerhall ein wundersamer Duft von Feng Shui, als Yvonne und die in ihrer Kreativwerkstatt Selbstverwirklichten ihre kostbar gerahmten Werke an die Wand dübelten. Es hatte sich noch rechtzeitig vor der Aufführung des Bauernschwanks „Liebe und Leid auf einem deutschen Bauernhof“ gefügt, dass die kreativen Kulturträgerinnen, infolge der Erzielung markanter Fortschritte, es vermocht hatten, die Farben ihrer Schminke-Aquarellkästen, unter Zuhilfenahme von Wasser und Pinseln, gefertigt aus den Schweifhaaren sibirischer Kolinsky-Rothaarmarder, so auf Aquarellpapier von Schoeller zu verteilen, dass sie ihre Werke mit Titeln wie „Frühlingsgruß von Tulpen“ oder „Erinnerung an die Toskana“ schmücken konnten. Dazu bedurfte es beim Betrachten der Werke reichlich wohlwollender Phantasie, wie die Heimatzeitung, die voll des Lobes war, in einer Rezension zum Ausdruck brachte. Kein Problem für die hochkulturellen Bewohner von Belonglas. Hatte sich doch im Dorf herumgesprochen, dass die Kulturträgerinnen in der Kreativwerkstatt die französische Manier auf teure Malgründe setzten. Deshalb war ihre Kunst auf leicht verrätseltem Weltniveau von erlesener Virtuosität; gleichsam ein sprühender Funkenregen von berauschenden Farbklängen in enger Seelenverwandtschaft von tiefer Intensität.


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Kommentare (1)

Willy

Das muss ich in  Abschnitten lesen, sonst verwirren sich meine Sinne. Schon jetzt lese ich laufend Betonglas anstatt  Belonglas.
LG
Willy


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