ZU SPÄT!

ZU SPÄT!

Sturmwarnung! Bleiben sie Zuhause, empfiehlt der Wetterdienst seinen Lesern heute.
Ist mir doch egal! Ich fahre jetzt los, denn Manni wartet doch auf mich.
Ich checke schnell die Papiere durch: Testausdruck, Impfausweis, Besuchsformular...alles komplett. In 50 Minuten schaffe ich das bestimmt...ganz sicher...jetzt nur die Ruhe bewahren.

Doch 1000 rote Bremslichter tauchen vor mir auf...Stau auf der Autobahn. Das Auto kämpft mit den Wassermassen...schlechte Sicht. Muss unbedingt neue Scheibenwischer kaufen. „Ach, Manni, warte doch auf mich!“
Eine kurze Rückblende aus der Kinderzeit erscheint, als ich ihm damals beim Hinterherlaufen die gleichen Worte nachrief.
30 Minuten sind bereits um, aber mein Timing stimmt. „Manni, ich bin schon in der Stadt!“
Lidl-Parkplatz? Gut, da stelle ich das Auto einfach ab. Parkscheibe nicht vergessen. Ich schaue auf die Uhr...42 Minuten, stelle ich fest. Wie die Zeit heute rennt. Ohne Schirm bin ich schneller.
Mit klatschnassen Haaren erreiche ich endlich das Krankenhaus und drücke den Summer. „Ja, bitte“, fragt eine weibliche Stimme. „Sondererlaubnis für Besuch“, antwortet ich schnell. Die Tür springt schnell auf, und ich kann eintreten. „Manni, bin schon hier, hörst Du?“

Drei Etagen eile ich die Treppen hinauf, denn der Fahrstuhl ist mir zu langsam.
„Ich möchte zu meinem Bruder. Sie haben mich vorhin angerufen“, stammele ich atemlos, als ich im Stationsbüro ankomme. Drei Augenpaare starren mich wortlos an. Dann legt eine der Krankenschwestern plötzlich ihren Arm um meine Schulter. „Es tut mir sehr leid, aber ihr Bruder ist gerade verstorben.“ Sie schiebt mich sacht in eine Besucherecke und sagt: “Sie können aber gleich zu ihm. Bitte, warten Sie hier solange.“

ZU SPÄT? Das kann doch wohl nicht wahr sein?
Mensch, Manni, warum konntest Du nicht noch etwas auf mich warten?

Rosi65
 


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Kommentare (9)

Rosi65


Nach acht Monaten Quälerei, 14 Operationen mit Hautverpflanzungen in verschiedenen Stadtkliniken, kam jetzt plötzlich noch eine Anämie hinzu.
Eigentlich hätte mein Bruder in eine Spezialklinik für Brandopfer versorgt werden müssen.
Als größter Trost bleibt mir deshalb nur die Gewissheit, dass er jetzt wenigstens keine Schmerzen mehr erleiden muss.

Herzlichen Dank an alle ST-Freunde, die mir ihre lieben Worte zur Anteilnahme gesendet haben.

Rosi65
 

werderanerin

Das tut mir sehr leid, wenn ich deine Zeilen lese...die Umstände drum herum haben es einfach nicht ermöglicht, pünktlich da zu sein. Dabei ist wohl Abschiednehmen etwas sehr wichtiges, um selbst auch weiter leben zu können.

Herzlichst


Kristine

nnamttor44

Mein Vater sah, dass die Kraft seiner Frau, unserer Mami, zusehends schwand. Das mussten wir mit vier und sieben Jahren nicht miterleben. Also wurden wir "gut" untergebracht. Und als wir wieder zurückkommen durften, war unsere Mami weg! Wir haben uns nicht verabschieden dürfen. Wir durften ihr auch nicht die dicken Orangen, die uns als Wegzehrung mitgegeben worden war, überlassen. Sie konnte ja nur noch Flüssiges zu sich nehmen, das wussten wir genau!

Dann bleibt eben statt der schwerkranken Mutter diese Situation im Kopf "hängen"! Genauso der anschließende, ablenkende Borkum-Urlaub ...  Ob das gut oder nicht so gut war, wer soll das beurteilen? Abschied nehmen ist immer schwer!

Uschi

WurzelFluegel

liebe Rosi,

deine Zeilen treffen direkt ins Herz - vlt. konnte dein Bruder einfach nicht mehr, vlt. aber spürte dein Bruder auch, dass dir ein Dabei-sein noch schwerer geworden wäre...

stille, mitfühlende Grüße
die von Herzen kommen
WurzelFluegel

Edit

Mir sind beim Lesen richtig die Tränen gekommen.
Dann stiegen eigene Erinnerungen auf. Ich war neun Jahre alt, saß vor dem Krankenzimmer meiner Schwester. Sie lebte noch, aber ich durfte nicht zu ihr, um mich von ihr zu verabschieden. 
 

Syrdal


Das Abschiednehmen sollte nicht sein… und eine Antwort auf das Warum gibt es nicht, aber die Gewissheit tiefinniger Verbindung, die niemals erlöschen wird.

...spürt und kennt aus eigenem Erleben
Syrdal

indeed

@Rosi65

Wie musst du dich fühlen!!! Mein Mitgefühl ist ganz bei dir. Dennoch: dein Bruder hatte es nicht in der Hand auf dich zu warten. Er hätte es bestimmt gern getan. 
Weitere Worte sind glaube ich überflüssig. Als nur: Behalte ihn in deinem Herzen und du kannst jederzeit mit ihm sprechen.

Mitfühlende Grüße von
indeed

Christine62laechel


Liebe Rosi, immer wenn Du länger nicht mehr da im ST warst, habe ich mir gedacht: Wahrscheinlich bist Du bei Deinem Bruder, der Dich nun nach dem von Dir früher erwähnten Unfall oft braucht. Nun muss sich Dein Bruder nicht mehr um die Stürme auf dieser Welt kümmern; ruhig. Und Du wirst eine schöne Erinnerung behalten können, Du hattest einen guten, lieben Bruder, und warst auch eine liebevolle Schwester.

Mit ganz herzlichen Grüßen
Christine

Roxanna

Wie traurig, liebe Rosi, dass Manni nicht warten konnte. Deine Geschichte ist mir richtig nahegegangen. Du hast dein Bestes versucht, noch rechtzeitig zu kommen und nun war es doch zu spät. Kein letztes Wort mehr möglich. Vielleicht hört er dich aber trotzdem.

Liebe Grüße
Brigitte


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