Anlässlich des 67. Jahrestages des Volksaufstands am  17. Juni 1953
denke ich wieder einmal mal an eine Reise in meiner Kindheit:
Im November 1953 reisten meine Eltern mit meiner kleinen Schwester und mir
(ich war 7 Jahre alt) von Hessen in ein kleines Dorf in Mecklenburg in der Nähe
von Stavenhagen, wo meine Großeltern nach ihrer Flucht aus Pommern gelandet
waren.
Die Reise war damals beschwerlich und dauerte 2 Tage .
Am Grenzkontrollpunkt Helmstedt-Marienborn wurden viele Mitreisende - auch wir –
von uniformierten Leuten aus dem Interzonenzug geholt,  mein Vater wurde von
uns getrennt und man sperrte uns in eine Zelle.
Eine Beamtin verhörte uns sehr streng und fragte, ob und wo wir “Westgeld“ versteckt
hätten. Dann wurden wir körperlich durchsucht, ebenso unser gesamtes Reisegepäck.
Jeder Apfel wurde aufgeschnitten, jedes Brot aufgeklappt, das fand ich sehr ungehörig
und ich war außer mir. 
Die Befragung wurde sehr laut, die Beamtin sagte mehrmals: „Sie lügen.“ Und
meine kleine Schwester begann zu weinen, meine Mutter, die damals schwanger war,
ebenfalls.
In dieser furchtbaren Situation fühlte ich mich verantwortlich etwas zu unternehmen.
In meiner Verzweiflung rief ich. “ Meine Mutter lügt nicht!“ und trat  der Frau dann
gegen das Schienbein .
Daraufhin durften wir plötzlich alles wieder einpacken und die Zelle verlassen.
Auch meinen Vater hatte man freigelassen.
Er hatte uns während seines Verhörs weinen hören.
Wir konnten die Fahrt fortsetzen und hatten eine sehr schöne Zeit bei meinen
Großeltern auf einem recht altertümlichen Gehöft.
Auf der Rückreise machten wir in Berlin Station.
Wir wollten den Bruder meines Großvaters, Onkel Hermann, besuchen und
dort auch Essbares vom Hof der Großeltern abliefern.

Zwei Eindrücke sind mir von damals  geblieben:
Als wir am Bahnhof Zoo ankamen und abgeholt wurden, wunderte ich mich, dass alle
Menschen so schnell gingen.
Das kannte ich von meinem oberhessischen Zuhause nicht.
Unterwegs begegneten wir Trümmerfrauen. Sie schleppten Steine, waren recht fröhlich
und wechselten mit uns flotte Sprüche.
Bei Onkel Hermann angekommen, tanzte Tante Luise, seine Frau, mit meinem Vater
einen Walzer, aus Freude, sich nach dem Krieg wiederzusehen.

Onkel Hermann, ein eleganter alter Herr mit Kaiser-Wilhelm-Bart,  erzählte uns,
dass er am 17. Juni aktiv am Volksaufstand teilgenommen und auf einen
russischen Panzer mit seinem Krückstock eingeschlagen hatte.
Er wurde daraufhin festgenommen, aber wegen seines Alters wieder freigelassen.
Deshalb ist für mich der 17. Juni der "Onkel-Hermann-Gedächtnis-Tag". 

 

Allegra

 

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Kommentare (7)

indeed

Liebe Allegra,

mit Interesse und Bestürzung und auch Unmut über die Behandlungsweise, die euch widerfahren ist, habe ich deine Erinnerung gelesen. 
Meine Durchfahrt in den 70iger Jahren war auch nicht schön, weil immer ein ungutes Gefühl mitfuhr. An den Grenzposten wurden wir nicht freundlich behandelt, aber nicht zu vergleichen, wie in deiner Erinnerung.

Nicht nur gute Erinnerungen, sondern alle Schlüsselerinnerungen speichert unser Hirn und ich finde, das ist auch gut so. Nur daraus können wir lernen und letztendlich formt es uns auch.

Wie gut es doch ist, wenn auch einige Menschen dagegen halten, dass Familienbande wieder gepflegt werden können. 

Ich danke dir für deinen Beitrag und grüße dich herzlich.
indeed

Pan

Diesen Onkel-Hermann-Gedächtnis-Tag
solltest Du immer in Erinnerung behalten,
denn nichts und keine schönen Feiern
können Dir das wiedergeben, das Du
dabei erlebt hast!

Das wünscht Dir 
Horst

nnamttor44

Liebe Allegra!

Ich war kein betroffenes Kind. Dennoch hatte ich 1961 Angst, als wir mit unserer Schulklasse eine Abschlussfahrt nach Westberlin machten. Auch unser Zug wurde angehalten und kontrolliert mit Suchhunden. Aber nach zwei Stunden ging es weiter. 

Die angebotene Busfahrt durch Ostberlin habe ich verweigert, weil wieder die Angst hochstieg. Mein Bruder hatte das Hobby, von Prominenten VIP-Karten mit ihrer Unterschrift zu sammeln. Er hatte auch die Sowjets sowie DDR-Regierung angeschrieben. Das war mir genug, um damit zu rechnen, dass bei einer Kontrolle mein Nachname genügen könnte, mich aus der Gruppe herauszuholen. Immerhin war mein Stiefgroßvater ein gebürtiger Ostpreuße. Ich konnte ja nicht wissen, wie seinerzeit die Reisenden "sortiert" wurden …

Als ich Jahrzehnte später mit einem 1955 aus Altenburg geflüchteten Arbeitskollegen meines Mannes sprach und er davon erzählte, wie er und seine Familie bei seinen späteren Reisen in die Heimat immer noch "gefilzt" wurden, lief es mir auch kalt den Rücken hinunter. 

Diese Willkür und Schreckensherrschaft kommt momentan sehr in der Trilogie von Klaus Kordon wieder zum Ausdruck. Diese Zeiten wünscht man sich nicht zurück …

Danke für Deinen Blog, liebe Allegra, ich hab in sehr interessiert und mit Empörung über die Geschehnisse gelesen. 

Herzlichen Gruß von Uschi

Syrdal


Der 17. Juni 1953 wurde in sehr unterschiedlicher Weise erlebt… oder von Vielen, die weit weg von den eigentlichen Geschehnissen lebten, auch nuraus der Ferne beobachtet. Ich selbst stand als Kind an der Hand meiner Mutter vor auf uns gerichteten entsicherten Gewehrläufen einer quer über die Straße aufgestellten Truppe in Uniform! – Ein bis heute traumatisches Erlebnis...
Nein, ich möchte mich nicht an all das erinnern, denn das, was damals wirklich an Grausamkeiten geschehen ist und auch das, was ich selbst miterlebt habe, raubt mir noch heute den Atem...


Syrdal
 

Allegra

@Syrdal  

Lieber Syrdal,

das, was Du erlebt hast, lässt sich nicht in Worte fassen.
Es tut mir leid, wenn mein Bericht Anlaß zur Erinnerung gab.

Allegra


 

ladybird

Liebe Allegra,
Deine Erinnerung an Deinen "Onkel Hermann -Gedächtnis-Tag"
ging mir etwas nahe, so "plastisch" hast Du dieses "Erlebnis" erzählt.
Und erweckte bei mir meine Erinnerung an die damaligen Durchfahrten der Transitstrecke Helmstedt- Marienborn nach Westberlin zu meinen Schwiegerelten.
Ob es die Fahrten per Zug waren oder später mit dem Auto......es war sehr ähnlich, wie Du es schilderst und ich hatte immer eine große Angst vor diesen Kontrollen, die erniedrigend waren.
Übrigens
Übrigens war ich im vergangenm Jahr auch in Stavenhagen, in der Reuter-stadt. Meck.Pom hat nichts an Schönheit verloren
mit Dank und Freude
grüßt herzlichst
ladybird-Renate

 

Allegra

@ladybird  

Liebe Renate,
die Familie Reuter hat meinen Großeltern damals nach der
Flucht sehr geholfen.
Bei unserem Besuch, von dem ich schrieb, waren wir
bei der Familie Reuter in Stavenhagen eingeladen und
wir Kinder wurden vorgestellt (mit Knicks wie damals üblich).
Ich erinnere mich noch an eine Frau Reuter, eine freundliche
alte Dame in schwarzen Kleidern, die uns Äpfel schenkte.

Nach der Grenzöffnung war ich auch einmal an der Elbe
auf der Feste Dömitz, wo Fritz Reuter festgesetzt war.

Mit Grüßen
Allegra

 


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