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Aktuelle Themen Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"

niederrhein
niederrhein
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Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von niederrhein
Als Ergänzung zur vorausgegangenen Diskussion hier eine Zusammenfassung von zwei Artikeln zu diesem Thema.

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Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen
Von Professor Dr. Horst Dreier

Gekürzte Zusammenfassung in Thesen (Aus: FAZ, vom 04.10.2007, S. 10)

Das Recht allein kann in einem modernen Verfassungsstaat die Kultur wechselseitiger Toleranz nur unterstützen und fördern, aber nicht erzeugen, aber nicht erzeugen; dies kann letztlich nur die ganze Gesellschaft.

Bedroht wird der westliche Kulturkreis derzeit nicht von muslimischen Staaten und auch nicht vom Islam als Religion angegriffen, sondern von islamistischen Terroristen, die allerdings ihre Handlungen unter ausdrücklichem Bezug auf ihren Glauben und ihre als bedroht empfundene muslimische Kultur rechtfertigen, wobei der Koran als unmittelbare Handlungsanleitung bzw. als Legitimierung dient.

Diese Grauzone, was der Koran fordert, zuläßt oder was gegen ihn gegebenenfalls verstößt, hat ihre Ursache in der Tatsache, daß kein institutionalisiertes Lehramt mit verbindlicher Auslegungs- und Deutungskompetenz der religionsstiftenden Schriften ebenso wenig gibt wie Standards einer wissenschaftlichen Theologie.

Allerdings ist religiös legitimierte und motivierte Gewalt nicht nur eine Eigentümlichkeit des Islam. Diese „dunkle, destruktive Seite“ findet man bei vielen Religionen, denn Religionen können eben nicht nur Toleranz und Humanität fördern, sondern waren und sind nicht selten Ursache von Intoleranz und Unterdrückung, von Konflikt und Krieg. (Dies galt natürlich auch für das Christentum, „dessen Geschichte ist ja keineswegs durch konsequente Gewaltabstinenz gekennzeichnet“ ist. Die Heilige Schrift diente dabei zur Legitimation für Kreuzzüge, Hexenverfolgungen, Ketzerbekämpfungen oder Religionskriege.

Die Konsequenz der beiden christlichen Kirchen war bzw. ist deren „letztlich erfolgreiche kulturelle Zivilisierung“, so daß sie heute „zu den entschiedenen Befürwortern von Demokratie und Menschenrechten einschließlich der Religionsfreiheit und der Freiheit zum Religionswechsel (wie sie die islamischen Staaten nach wie vor gerade nicht kennen) zählen“.

Da aber das lateinische Christentum auch ein „kulturprägender Faktor allerersten Ranges“ war, sind westliche Kultur und Christentum oft miteinander verbunden.

Auch unsere Rechtsordnung beruht in vielfältiger Weise auf christlichen Wurzeln: Prozeßrecht, Maxime Schriftlichkeit des Verfahrens, der Instanzenzug, das Richtertum etc.

Obwohl die kirchlichen Strukturen die moderne Staatlichkeit begründeten, fand das Staatskirchentum mit der Aufklärung sein Ende; Staat und Staatsordnung, Rechtsordnung wurden säkular, was eben der Islam bis heute noch nicht. Kennt der Islam die Entwicklung hin zum weltanschaulich neutralen, pluralen Staat der Gegenwart?

Immerhin gibt es in dem weltanschaulich neutralen Staat (d.h. in der BRD bzw. in Bundesländern) u.a. Rechtsnormen, die Ausdruck dieser christlichen Prägung des modernen Staates sind (oft auch Ausdruck allgemein kulturell verwurzelter Überzeugungen); so z.B. Art. 132/2 BayVerf. wonach „die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen“ werden sollen. (Siehe auch die Kruzifix-Debatte, ebenfalls Bayern)

Religiöse Pluralität in der Bundesrepublik Deutschland bezog sich bisher fast nur auf die beiden christlichen Konfessionen. Mit dem Wandel von der bikonfessionellen zu einer multireligiösen Gesellschaft hat sich die Lage verändert. (Auch andere Religionen oder religiöse Gemeinschaften müssen ihr Verhältnis zum weltanschaulich neutralen, westlich-säkularen Staat klären.)

Auch wenn Religionen in ihrer inneren Organisation nicht mit dem Verfassungsprinzipien eines westlich-modernen Staates vereinbar bzw. nicht übereinstimmen brauchen (auch die autokratische katholische Kirche entspricht nicht dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes), muß „der Staat an der Verbindlichkeit seiner allgemeinen, für alle geltenden Gesetze festhalten und gerade auch gegen jene durchsetzen, die sich für abweichendes Verhalten auf ihre Religion berufen“.

Jedoch ist öfters unklar, wo der Verpflichtungsanspruch des Gesetzes aufhört und das Recht zur Lebensführung gemäß den eigenen (religiösen) Überzeugungen anfängt. (Zum Beispiel Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, Kopftuch oder Schächten)

„Keine überzeugende Lösung ist es, hier immer öfter und immer selbstverständlicher Ausnahmen vom für alle geltenden Recht zuzulassen.“ Die insofern von Behörden und Gerichten wohl allzu bereitwillig erteilten Befreiungen von allgemeinen Verpflichtungen sind dem Zusammenhalt einer Gesellschaft abträglich und wirken desintegrativ.“

Bei der laufenden Defragmentierung des kulturellen Milieus unter der Berücksichtigung der Ignorierung der bestehenden Verfassungsordnung besteht die Gefahr, dass die Rechtsordnung selbst daran zerspringt. (Siehe dänische Mohammed-Karikaturen, abgesagte „Idomeneo“-Inszenierung ... als Beispiele der „Bereitschaft zur Selbstaufgabe der ansonsten so vielfach und inflationär beschworenen westlichen Werte der Menschenrechte, insbesondere der Kunst- und Pressefreiheit“)

„Wie kann eine auf Freiheit und Gleichheit verpflichtete politische Ordnung des Gemeinwesens unter Bedingungen verschärfter gesellschaftlicher Pluralität und religiöser Verschiedenheit fortbestehen?“ Sicher wäre es falsch, die liberale Struktur einer offenen Gesellschaft mit umfassend gewährten Grund- und Freiheitsrechten grundlegend zu revidieren und im Bereich von Kultur und Religion restriktivere Regeln greifen zu lassen. Auf dem Feld von Kunst und Meinungsfreiheit, von Pressefreiheit und Satire, von Religionsfreiheit und Religionskritik sollte auch künftig derjenige hohe Grad an verfassungsrechtlich garantierter Freiheit herrschen, den die Deutschen seit Jahrzehnten genießen. (D. h. konkret, „dass nicht die Anhänger muslimischen Glaubens vor einer Operninszenierung geschützt werden müssen, sondern jene, die sich diese ansehen wollen, vor potentiellen Störern.“)

„Was kann nun das Recht für eine politische Kultur wechselseitiger Toleranz und des Lebens im Dissens leisten? Ein bloßes Lippenbekenntnis zur freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung bewirkt noch gar nichts und kann im Übrigen vom Staatsbürger auch gar nicht zwingend eingefordert werden.“ Es kommt vielmehr auf „praktizierte Toleranz, auf eingeschliffene zivilisatorische Verhaltensmuster, auf kulturelle Selbstverständlichkeiten. Diese können natürlich von einer Rechtsordnung unterstützt und gefördert, nicht aber einfach erzeugt werden.“ Hier sind „entsprechende politische Tugenden ‚Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur’ (Jürgen Habermas).

„Entscheidendes hängt also von der Annahme des freiheitlichen Pluralismus mit seinen tragenden Ideen von individueller Autonomie und kritischer Öffentlichkeit durch die Gesellschaft insgesamt ab.“

„Der moderne Verfassungsstaat bildet eine Möglichkeitsform gelingender politischer Einheitsbildung auf der Basis wechselseitig anerkannter grundrechtsgestützter Pluralität, aber er trägt die Garantie des Gelingens nicht in sich“, denn nicht der Staat ist der Sinnproduzent, aber „er soll seinen Bürgern ermöglichen, ein sinnvolles, das heißt den eigenen Überzeugungen und Anschauungen gemäßes Leben zu führen“.

Für die Menschen einer solchen Gesellschaft sollen gelten: Annahme demokratischer Mehrheitsentscheidungen und die Achtung des anderen in seiner möglicherweise ganz entgegengesetzten politischen oder religiösen Überzeugung ebenso wie das Beharren der „Emanzipationsstruktur der Gesellschaft“, „der patriarchalisch dominierte vormoderne (Parallel-)Gesellschaften gerade nicht entsprechen. Denn „ein von Pluralität und Toleranz geprägtes politisches Gemeinwesen bedarf für die Erhaltung seiner Handlungs- und Integrationsfähigkeit selbst eines Mindestmaßes an soziokultureller und zivilisatorischer Homogenität.“

*.*

In diesem Zusammenhang ist der zweite Artikel (FAZ, 04.10.07, S. 10) „Ausländische Inseln in der deutschen Rechtsordnung“ (Von Nasrin Karimi und Philippe Koch) interessant, der anhand eines Scheidungsverfahrens vor dem höchsten Zivilgericht des Landes Berlin, dem Kammergericht, auf die Tatsache hinweist, daß eine Ehe „nach Maßgabe des Rechts der Islamischen Republik Iran“ geschieden wird; dies bei Menschen, die über zwanzig Jahre in Deutschland leben.

Es heißt dort weiter: „Die Anwendung ausländischen Rechts, in diesem Fall islamisch-rechtlicher Bestimmungen, durch deutsche Behörden und Gerichte ist weder unüblich noch eine Ausnahme.“ Infolgedessen „sind in Deutschland durch die Anwendung ausländischen Rechts Zonen entstanden, in denen die deutsche Zivilrechtsordnung für den nichtdeutschen Teil der Bevölkerung keine Geltung hat. Dieser Zustand gilt für mehr als sieben Millionen in Deutschland lebende Personen, die nicht deutsche Staatsangehörige sind. Die Folge ist eine rechtliche Institutionalisierung von Parallelgesellschaften, die die Politik zu bekämpfen vorgibt.“


Für die Zusammenfassung verantworlich ist:
[i]Die Bertha
vom Niederrhein
adam
adam
Mitglied

Re: Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von adam
als Antwort auf niederrhein vom 05.10.2007, 08:10:31
Grüß Dich niederrhein

Na ist ja toll! Einerseits die Aufforderung mit Ausnahmen für wenige aufzuhören, um nicht viele vor den Kopf zu hauen, andererseits die Feststellung, daß knapp 10% der Einwohner überhaupt nicht dem deutschen Recht unterstehen? Habe ich das richtig verstanden?

--
adam
Karl
Karl
Administrator

Re: Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von Karl
als Antwort auf niederrhein vom 05.10.2007, 08:10:31
Auch wenn Religionen in ihrer inneren Organisation nicht mit dem Verfassungsprinzipien eines westlich-modernen Staates vereinbar bzw. nicht übereinstimmen brauchen (auch die autokratische katholische Kirche entspricht nicht dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes), muß „der Staat an der Verbindlichkeit seiner allgemeinen, für alle geltenden Gesetze festhalten und gerade auch gegen jene durchsetzen, die sich für abweichendes Verhalten auf ihre Religion berufen“.
geschrieben von Prof. Dreier


Das ist für mich der springende Punkt. Ich würde das zusätzlich noch folgendermaßen ergänzen:

"... sodann muß „der Staat an der Verbindlichkeit seiner allgemeinen, für alle geltenden Gesetze festhalten und eben auch gegen jene durchsetzen, die sich für abweichendes Verhalten gegenüber anderen Religionen stark machen".
--
karl

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Medea
Medea
Mitglied

Re: Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von Medea
als Antwort auf niederrhein vom 05.10.2007, 08:10:31
Danke Bertha ,
eine höchst interessante Zusammenfassung, die nicht nur von allen Mitgliedern des ST gelesen werden sollte, sondern auch einen aufschlußreichen Blick auf die unterschiedliche Handhabung im deutschen Gesetzeswesen wirft. Mir war ja bereits einiges bekannt, dennoch ist mein Standpunkt, daß in Deutschland ausschließlich nach deutschem Recht ge- bzw. verurteilt werden sollte.
Der alte Spruch "gleiches Recht für alle" muß seine Gültigkeit behalten. Religion hat sich dem Staatswesen unterzuordnen und nicht umgekehrt.

Medea





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medea
dutchweepee
dutchweepee
Mitglied

Re: Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von dutchweepee
als Antwort auf niederrhein vom 05.10.2007, 08:10:31
liebe BERTHA

ich verstehe überhaupt nicht, warum kirchen vorrechte gegenüber parteien haben. man darf jeden blödsinn glauben und macht damit politik, aber bei parteien wird immer auf´s wort geschaut. vielleicht sollte es auch eine "sonntagsfrage" geben: "welchen gott würden sie diese woche wählen?"

ich habe sehr interessiert und mit spannung deine zusammenfassung gelesen und kann und möchte nichts hinzufügen. ...nur dieses!
yankee
yankee
Mitglied

Re: Ergänzung zu "Neutralität und Toleranz (Staat und Gesellschaft 1)"
geschrieben von yankee
als Antwort auf niederrhein vom 05.10.2007, 08:10:31
Hallo niederrhein,
ich kann mich den Kommentaren hier nur anschließen. Eine sehr gute und sehr informative Zusammenfassung der geltenden Rechtsordnung zu diesem Thema.
Letztlich bleibt für mich die Frage offen, wieviel Toleranz wir uns leisten können.

Ein bloßes Lippenbekenntnis zur freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung bewirkt noch gar nichts und kann im Übrigen vom Staatsbürger auch gar nicht zwingend eingefordert werden.“ Es kommt vielmehr auf „praktizierte Toleranz, auf eingeschliffene zivilisatorische Verhaltensmuster, auf kulturelle Selbstverständlichkeiten. Diese können natürlich von einer Rechtsordnung unterstützt und gefördert, nicht aber einfach erzeugt werden.“ Hier sind „entsprechende politische Tugenden ‚Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur’ (Jürgen Habermas).

Der Hinweis, daß ein blosses Lippenbekenntnis nicht ausreicht sondern das gesamte gesellschaftliche Verhalten letztlich für eine Umsetzung erforderlich ist, zeigt aber auch, wie unrealistisch diese Einschätzung wäre. Zur Zeit bewegen wir uns als Gesellschaft doch eher dem entgegengesetzten Ziel zu, daß nur der Stärkste, Reichste oder Mächtigste auch die größtmögliche Toleranz erfährt. Unser Wirtschaftsprinzip, geprägt von Konsumgier, kurzsichtiger Gewinnorientierung und einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb, bestimmt doch letztlich das gesamtgesellschaftliche Verhalten. Deshalb sehe ich nur die Möglichkeit einer Fortentwicklung in Richtung Toleranz, wenn die gesetzlichen Vorgaben so klar und unmissverständlich formuliert und anschliessend konsequent und ausnahmslos umgesetzt werden, daß weder Religionen noch unterschiedliche kulturelle Traditionen zu einer Aufweichung durch individuelle Regelungen und Gesetzen führen.

--
yankee

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