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Aktuelle Themen Fortschritt und Unfälle

EmilWachkopp
EmilWachkopp
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Fortschritt und Unfälle
geschrieben von EmilWachkopp
Nee, das kann ich hier schon mal gleich ins Forum flüstern. An eine pollitische und historische – mit Sir Darwins Evolutionstheorie vergleichbare – Entwicklung glaube ich nicht. Aber an eine Rückwärtsentwicklung, der zufolge früher alles besser gewesen ist als wie heute, glaube ich auch nicht. Denn schon ehrer an meine selbstgebastelte Chaostheorie. Irgendwann, in unvorhersehbaren Abständen, wird alles – wie durch einen Wirbelsturm – kunterbunt durcheinander gewürfelt. Wenn sich dann aber nach dem Orkan alle aufgewühlten und aufgewirbelten Teile zurechtlegen, ist eine neue Struktur entstanden. Eine Struktur, die die säkularisierten Pantheisten unter uns Fortschritt nennen. Und was Fortschritt ist, ist zun Glück leicht zu beschreiben. Man verwechselt seinen zeitgeistgebundenen Subjektivismus mit Objektivismus und – Wupps – ist der Fortschritt da.

Vielleicht ist es so: Die Wirklichkeit ist nur, was der Mensch sich suggeriert das sie ist. Na, ik segg mi ümmer: Schiet wat op. Denn es ist ja gar nicht meine Absicht, hier groß zu quesen und zu wrögeln. Ik bün nömlich gor keen Gnaddje.
Man kann es ja auch mal so sehen: Einiges ist ja besser geworden. Und damit sind wir auch schon bei Emil angelangt. Ich bin nümlich – wie gar nicht anders zu erwarten war – im Laufe der Jahrzehnte immer besser und besser geworden. Wenn ich das – trotz meiner anerzogenen vorbildlichen Bescheidenheit – mal so offen rausposaunen darf.

Obwohl.

Na ja.

Eigentlich müsste man mein Ich vom Körper abtrennen, um die Behauptung wahr zu machen. Denn der Körper ist doch gesundheitlich schon büschen angekratzt. Ich nicht! Aber der Körper, d.h. die äußere, fleischliche Hülle, in die ich eingewickelt worden bin. Jedenfalls: Wenn der Körper angekratzt ist, denn darf sich auch keine(r) über wundern, wenn einem immer häufiger Autounfälle unterlaufen. Nümm zun Beispiel vorige Woche …. Nein, vorige Woche war eigentlich gar nicht so schlimm. Da hatte ich bloß sechs Unfälle. Das ist ja im Schnitt nicht mal ein Unfall am Tag. Deswegen macht man doch keinen Tumult.

Eigentlich waren es ja auch gar keine waschechten Unfälle. Ein waschechter Unfall ist, wenn man absichtlich jemand totfährt. Aber bei mir sind es immer bloß büschen Blech- und andere Materialschäden. Nur Klöterkram. Kaum der Rede wert. Aber die Woche davor! Ohau, Oha! Schlimm war das! Drei Unfälle an einem Tag!!
[Das verkraftet auch nicht jede(r). Rein nervlich gesehen.]
Aber noch schlimmer ist: Ins ganze Dorf gibt es jetzt keine einzige Frau mehr, die sich von mir mit dem Auto ausführen lassen will. In die Heide oder so. „Nee Emil, lass man. Sonst muss ich mir vorher noch einen Sarg bestellen.“ Solch Rede kann einen leicht bedripst machen.

Über die drei Unfälle würde ich mir am liebsten ausschweigen. Weil mir das doch büschen peinlich ist. Deshalb ist das. Aber da sich mein wildes Gemetzel kurz fassen lässt, bin ich zun Glück schnell durch.
Zuerst mähte ich – ohne Absicht natürlich – beis Rausfahren mein Garagentor um, so dass die ganze Garage eingestürzt ist. Ich war nümlich fest davon überzeugt, dass ich das Tor geöffnet hatte. Aber was die Tatsachen sagen, muss in diesem Fall mal büschen schwerer wiegen. Na, vor Entsetzen wie gelähmt riss ich mir kurz darauf die ganze rechte Seite des Wagens am rechten Betonpfeiler meiner Ausfahrt auf. Weil ich doch die Kurve etwas zu eng gekratzt hatte. Deshalb war das. Und als Krönung meiner Unglückspartie glitt mir vor Schreck auch noch das Steuerrad aus den Händen und mein schöner Wagen verendete im Wassergraben auf der anderen Seite der Landstraße. 70 Meter kam ich und denn war Stopp.

Aber das rechne ich nur als einen Unfall und nicht als drei, weil es sich doch hier um eine Kausalkette handelt, wo jedes Unfallmoment mit logischer Notwendigkeit das nächste generiert. Das kann man ja Emil nicht ankreiden.

Jedenfalls war mein Auto nur noch Schrott und ich musste mit dem Traktor ins Dorf fahren. Das ging auch gut, bloß auf dem Nachhauseweg muss ich büschen zu weit nach rechts rübergerutscht sein. Wenn nümlich nicht, wäre es ganz unerklärlich, wie ich die Treppe vor dem Fischerladen umreißen konnte. „Emil! Pass doch maal’n beten op wo du henfohren deist!“ grölte der Fischhändler mir nach. „Reg dir ab, Hein! Zahlt alles die Versicherung“, versuchte ich ihn zu beruhigen und tuckerte weiter. Ich bin denn zur Polizeiwache hin, um den Unfall zu melden. Aber denn hat sich kurz vorher noch ein weiterer Unfall ereignet. Ich muss wull büschen spät abgebremst haben. Jedenfalls bin ich gegen den Laternenpfahl vor der Polizeiwache gerasselt. Der kippt um und reißt das Dach der Wache ein. Na, da war ich erst mal bedient.

„Ich möchte gern einen Unfall melden.“
„Das seh ich“, brummte der Polizeimeister und schaute durch das Dach zu einem grauen Novemberhimmel empor.
„Hoffentlich Allianz-versichert“, sagte ich schelmisch, um den Polizeimeister bei guter Laune zu halten. Aber der notorische Griesgram war gar nicht für Späßchen aufgelegt, sondern polterte gleich unwirsch auf los: „Und ich muss mir hier den A… [Zensur] abfrieren, bis deine Allianzversicherung mit einem neuen Dach angetanzt kommt.“ „Quatsch!“ sagte ich. „Das Dach repariere ich selbst.“
„Mensch Emil! Ich kann doch einen alten Klapperkasten wie dir nicht auf ein Spitzdach rumkraxeln lassen“, nörgelte der Polizeimeister. „Und warum nicht, wenn man fragen darf?“ „Weil du nach spätestens zehn Sekunden kopfüber runtergerasselt kommst.“
Von solcher Rede kann man einen Knacks bekommen. Seelisch gesehen.
„Und jetzt geh endlich mal zun Augenarzt! Das sind jetzt runde 120 Unfälle in zwei Monaten! Wenn das so weitergeht, nümm ich dir eines Tages den Führerschein doch noch weg!“
„Das ist bloß: wie soll ich zun Augenarzt hinfinden?“
„Kein Problem. Die Bäckerin fährt dir hin. Das hat sie mir versprochen. Sie kann dir sogar rauftragen, falls das nötig ist.“


„Ist der Mann gelähmt oder plemplem oder warum muss er getragen werden?“ fragte die Augenärztin. „Nein, nein, er sieht nur büschen schlecht“, klärte die Bäckerin sie auf. „Aha! Ja, dann sind Sie richtig bei mir. Könnten Sie den Herrn mal einen Augenblick abstellen oder kann er nicht allein stehen?“ „Doch, doch. Wo soll ich ihn absetzen?“
„Stellen Sie ihn bitte dort in den Kreis mit dem Gesicht in meine Richtung“, sagte die Augenärztin. „In was für einen Kreis?“ fragte ich aus reiner Neugier. „Huch! Der kann ja sprechen. Das ist ja hochinteressant!“ Die Augenärztin schien richtig verblüfft zu sein. „Nun, das erleichtert uns die Arbeit ja ganz wesentlich, Herr … Herr …“ „Wachkopp“, füllte ich den angebrochenen Satz aus. „Herr Wachkopp, können Sie die oberste Reihe der Buchstaben lesen?“
„Was denn für Buchstaben?“
„Die Buchstaben auf der Tafel dort natürlich.“
„Was für eine Tafel?“
„Die Tafel an der Wand!“ donnerte die Augenärztin, der es offenbar immer schwerer fiel, ihre Verstimmung zu beherrschen.
„Ist denn hier irgendwo eine Wand?“
„Das schlägt ja dem Fass den Boden aus! Sehen Sie eigentlich überhaupt irgendetwas?“
„Ja, auf dem Dach der Kirche dort hinten ist ein Dachziegel verrutscht. Jedenfalls sitzt er etwas schief.“
„Sagten Sie ‚Dachziegel‘? Meine Güte! Das ist die Kirche der Nachbarstadt. Die kann man von hier aus gar nicht sehen.“ Die Zähne der Augenärztin fingen jetzt an zu klappern.

Ich war nümlich gar nicht kurzsichtig, wie die Augenärztin zuerst glaubte. Nein, weitsichtig war ich. Hyperweitsichtig, ganz haargenau genommen. Ich sah jedes – selbst das kleinste – Verkehrsschild gestochen scharf auf zwischen drei bis fünf Kilometern Entfernung. So als befände es sich direkt vor mir. Wenn ich mir aber dem Schild bis auf 1,5 Kilometer näherte, wurde es verschwommen. Und ab einem Kilometer Entfernung war es weg.

Na, ik segg mi ümmer: In vielen Ereignissen des täglichen Lebens ist eine Symbolik versteckt. Vielleicht auch in den geschilderten Ereignissen. Ein Mensch, der den Fortschritt um jeden Preis will, muss sehr, sehr weitsichtig sein. Er hat sein entlegenes Ziel gestochen scharf vor Augen. Doch glaubt er es erreicht zu haben, macht es sich unsichtbar. Aber auch der Nostalgische, der zurück will, hat es nicht leicht. Er wird zwar das Ziel in aller Deutlichkeit sehen, aber keinen Weg dorthin. Da hilft keine Brille.


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