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Aktuelle Themen Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?

lalelu
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Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von lalelu
Heute Morgen stand in der Rheinzeitung ein Artikel, den ich für so interessant halte, dass ich ihn hier zur Diskussion stellen möchte.

Es geht um die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention, die ein gemeinsames Lernen von behinderten und nicht behinderten Schülern fordert. Deutschland hat diese Konvention im März 2010 ratifiziert. Auf dieser Grundlage will man jetzt geistig behinderte Schüler gemeinsam mit nicht behinderten Schülern auch am Gymnasium unterrichten. Bisher wurde der gemeinsame Unterricht nur an Grundschulen, Integrierten Gesamtschulen und der Realschule Plus praktiziert.

Unter dem angegeben Link findet ihr alle wesentlichen Fakten, so dass ich sie nicht selbst im Detail hier vorstellen möchte.

Ich persönlich schließe mich der Auffassung des RZ-Kommentators an, die ihr unter dem angegebenen Link ebenfalls findet: RZ-KOMMENTAR: Kinder dürfen nicht als "Lernobjekte" gebraucht werden.

Zu unserem Freundeskreis gehören zwei Lehrer an Förderschulen. Durch sie haben wir eine Menge darüber erfahren, wie man Kinder an diesen Förderschulen mit viel Liebe, Geduld und Zeit darauf vorbereitet, ihr späteres Leben so weit wie möglich ohne fremde Hilfe führen zu können. Dazu gehört, um nur ein Beispiel zu nennen, dass sie lernen, die Dinge des täglichen Bedarfs im Supermarkt oder auf dem Markt alleine einzukaufen, selbst zu bezahlen – also den Wert der Münzen zu bestimmen - usw. Wie soll für eine solche Förderung bei einem gemeinsamen Unterricht am Gymnasium genügend Zeit sein, wenn man nicht gleichzeitig den übrigen Schülern diese Zeit wegnehmen will?

Nach meiner Meinung hat hier die Ideologie über den gesunden Menschenverstand gesiegt, denn die jetzt angestrebte Regelung ist weder für die lernschwachen noch für die lernstarken Schüler erstrebenswert... aber mehr Informationen dazu unter dem Link.

Lalelu
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf lalelu vom 01.12.2010, 09:40:11
Habe im Sommer sehr lang mit einer Volksschullehrerin über dieses Thema gesprochen. Sie sieht, dieselben Schwierigkeiten in ihrer Volksschulklasse. und noch etwas: Es gibt sehr unterschiedliche Grade der geistigen Behinderung.

Der extrem geistig behinderte Sohn einer Freundin könnte nie und nimmer in einer normalen Schulklasse, selbst mit Stützlehrer etc. sein. Er wurde auf der Sonderschule ausgezeichnet gefördert.
myrja
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von myrja
als Antwort auf lalelu vom 01.12.2010, 09:40:11
Das geschieht, indem Schulen zu „Schwerpunktschulen“ werden. Bislang waren vor allem Grundschulen, Integrierte Gesamtschulen und Realschulen plus betroffen
geschrieben von Aus o. g. Link:


Wenn ich es richtig verstehe, sollen nicht generall an allen Gymnasien geistig behinderte Kinder unterrichtet werden, sondern es werden einige Gymnasien als „Schwerpunktschulen“ benannt. Wie funktioniert es denn bisher in den Schwerpunkt Realschulen? Wenn es da schlechte Erfahrungen gäbe, würde man dieses Konzept doch kaum ausweiten wollen.

Hauptkritikpunkte: Gymnasiallehrern fehlt die Ausbildung, um diese Form des integrierten Unterrichts zu bewältigen. Es gibt zu wenig Förderlehrer, also Sonderpädagogen, die sich intensiv um die behinderten Kinder kümmern. Und die Klassen sind viel zu groß.
geschrieben von Aus o. g. Link:


Natürlich müssten die Schülerzahlen pro Klasse reduziert werden. Ebenso selbstverständlich ist, dass entsprechendes Fachpersonal hinzukommen müsste.

„Viele Kinder werden bei uns auf das Arbeiten in einer beschützten Werkstatt vorbereitet. Das kann ein Gymnasium so gar nicht leisten“, sagt eine Förderschullehrerin.
geschrieben von Aus o. g. Link:


Ich persönlich finde diese Haltung falsch. Warum sollen die Behinderten in einem geschützten Raum (Kindergarten f. geistig Behinderte, Sonderschule f. geistig Behinderte u. f. d. Rest des Lebens eine geschützte Werkstatt) aufwachsen? Irgendwann müssen sie doch lernen mit dem ganz alltäglichen Leben umzugehen.

GEW-Landesvorsitzender Klaus-Peter Hammer: „Behindert und nicht behinderte Kinder lernen voneinander. Wenn man es richtig macht, ist es ein Gewinn für alle.“
geschrieben von Aus o. g. Link:


Genau so sehe ich dies auch.

Es ist mit Sicherheit kein leichter Weg, aber ich halte ihn für machbar und für eine Chance für Nichtbehinderte und Behinderte.

Myrja

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lalelu
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von lalelu
als Antwort auf myrja vom 01.12.2010, 10:40:45
@ mart 1, natürlich ist der Grad der Behinderung bei den lernbehinderten Menschen sehr unterschiedlich, und gerade, weil ich das von unseren Freunden oft höre, weiß ich auch, dass für manche sehr schwer behinderten Kinder die Förderschule die einzige Schulform ist, bei der sie tatsächlich am besten gefördert werden.

@myrja: prinzipiell ist es sicher richtig, dass behinderte und nicht behinderte Schüler voneinander lernen. Deshalb befürworte ich es durchaus, dass sie zusammen die Regelschulzeit absolvieren – immer unter der Voraussetzung, dass die Bedingungen stimmen, dass es z.B. genügend Lehrer gibt, die dazu noch bestens ausgebildet sind, dass die Klassen nicht zu groß sind und dass die Behinderung des Kindes einen gemeinsamen Unterricht nicht von vorneherein ausschließt.

Mir erschließt sich aber der Sinn nicht, warum man ein geistig behindertes Kind zum Gymnasium schicken will, auch dann nicht, wenn es sich um eine "Schwerpunktschule" handelt. Realistischerweise kann man kaum davon ausgehen, dass dieses Kind das Abitur schaffen wird, sondern es wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach der Pflichtschulzeit das Gymnasium sowieso verlassen.

Diese Zeit könnte es daher nach meiner Meinung weitaus besser auf einer Hauptschule, Integrierten Gesamtschule oder auch einer Realschule Plus verbringen, die schwerpunktmäßig dafür ausgestattet sind. Da dort das Leistungsniveau nicht so hoch wie auf dem Gymnasium ist, hätte auch ein lernschwaches Kind eher die Chance auf ein Erfolgserlebnis. Das Endziel des Gymnasiums ist die Vorbereitung aufs Studium oder auf eine qualifizierte Ausbildung und dementsprechend schwierig ist der Lernstoff. Wie soll ein lernschwaches Kind denn dort Erfolgserlebnisse sammeln?

Was die Vorbereitung auf das "normale Leben" betrifft: selbst bei größtmöglicher Förderung (gleich an welcher Schule) wird es immer Menschen geben, die ihr Leben lang in einem beschützten Umfeld bleiben müssen.

Lalelu






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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf lalelu vom 01.12.2010, 11:33:23
Also diese Lehrerin, mit der ich im Sommer über dieses Thema sprach und die eine Volksschulklasse dieser Art führt, verriet mir, dass kritische Stimmen nicht genehm sind und dass sie das, was sie mir gesagt hat, nicht in der "Schul"öffentlichkeit sagen wird.

(Sie bedauerte den Buben, den sie in ihrer Klasse hat - sehr nett, sehr, sehr bemüht, eine voll auch im Schulalltag unterstützende Mutter -, weil er immer und überall an seine Grenzen stößt und es auch sehr intensiv spürt.)
lalelu
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von lalelu
als Antwort auf ehemaliges Mitglied vom 01.12.2010, 11:55:07
mart 1, genau das ist das Problem. Man überfordert oft schon auf einer "normalen Volksschule" ein lernschwaches Kind, und sehr oft merken die Kinder das selbst. Dass dadurch ihr Selbstbewusstsein nicht gefördert wird, sondern das Gegenteil der Fall ist, kann man kaum leugnen.

Wie groß muss der Frust erst sein, wenn das Kind beim Lehrstoff auf dem Gymnasium völlig überfordert ist und sich seiner Außenseiterrolle bewusst wird?

Dass Lehrer ihren Unmut gegen Entscheidungen "von oben" oft nur hinter vorgehaltener Hand äußern, weil Kritik nicht genehm ist, ist auch mir bekannt.

Lalelu

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clara
clara
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von clara
Also den Ausdruck "Quatsch" benutze ich nicht oft, aber was hier gefordert wird, ist ein solcher Quatsch!
In meiner Gemeinde wurde die Schule für Lernbehinderte (nicht geistig Behinderte) aufgelöst und die Kinder in Grund-und Hauptschule integriert, mit zusätzlicher Betreuung durch Sonderschullehrer. Dies funktioniert! Entgegen der Meinung des Kommentators im Link bin ich der Ansicht, dass sich der Name "Förderschule" auf dem Zeugnis bei einer Bewerbung negativ auswirken kann.
Das Gymnasium ist nun mal für leistungsstärkere Schüler und die müssen auch gefördert werden. Mit geistig Behinderten in einer gemeinsamen Klasse kommen sie zu kurz. Es wurde hier schon gesagt, dass das Ziel des Gymnasiums, das Abitur, für schwache Schüler ohnehin nicht zu erreichen ist.

Die ganze Diskussion stellt sich in anderen Ländern nicht, weil fast alle die Gesamtschule haben. Vielleicht liegt darin das Dilemma.

Clara
ehemaligesMitglied23
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von ehemaligesMitglied23
als Antwort auf clara vom 01.12.2010, 12:51:28
Geistig behindert muß nicht unbedingt lernbehindert sein.
Sowohl bei Down Syndrom als auch bei Autismus gibt es außergewöhnliche Begabungen.
Ich kenne einen autistischen jungen Mann, der, wenn man ihm sagt er soll sich einmal mit z.B. Nüssen ( was auch immer) beschäftigen, am nächsten Tag Alles, wirklich Alles, darüber weiß.
Er spricht nicht mit Leuten ( nur mit ausgesuchten Vertrauten) und schaut nur auf den Fußboden und doch registriert er alles um sich herum. Und er ist ein Genie am Computer. Ich bin sicher, mit entsprechender Förderung hätte er ein sehr gutes Abitur gemacht.
stellamaris
clara
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von clara
als Antwort auf ehemaligesMitglied23 vom 01.12.2010, 13:47:42
Ich gebe Dir Recht, stellamaris, bei den beiden genannten Erkrankungen kommen die so genannten Inselbegabungen vor. Autisten haben zudem meistens einen "normalen" IQ, wobei die Ermittlung des IQs nicht ganz unumstritten ist.

Meine Bedenken sind dahin gehend, ob solche Kinder gerade am Gymnasium gut aufgehoben sind, wo es dort schon für gesunde Schüler oft schwierig ist, der Fülle des Lernstoffes zu genügen. Die Förderung müsste sich ja neben der Vermittlung von Lernstoff auch auf soziale und eventuell psychologische Inhalte beziehen. Da wäre dann m. M. nach eine spezielle höhere Schule für diese Fälle angebracht.

Clara
lalelu
lalelu
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Re: Geistig behinderte Kinder zum Gymnasium?
geschrieben von lalelu
als Antwort auf clara vom 01.12.2010, 16:06:19
@ clara, @ stellamaris,

natürlich gibt es sehr viele Facetten von geistiger Behinderung und Lernbehinderung, und natürlich können Kinder im Einzelfall trotz geistiger Behinderung wie beispielsweise Autismus über einen überdurchschnittlichen Intellekt verfügen.

Aber auch wenn es wünschenswert wäre, kann man nicht für jeden einzelnen Schüler ein Bildungsangebot erstellen, das auf ihn persönlich zugeschnitten ist, sonst stünde das gesamte Bildungssystem über kurz oder lang vor dem Kollaps. Man muss im Einzelfall unter den vorhandenen Fördermöglichkeiten die bestmögliche herausfinden – und ob ein "normales" Gymnasium die geeignete Schule für solche Kinder ist, wage ich zu bezweifeln.

Selbst wenn geeignete Pädagogen in ausreichender Zahl zur Verfügung stünden und auch alle übrigen Voraussetzungen optimal wären, müssten sich diese Kinder dennoch dem Wettbewerb und dem Leistungsdruck an einem Gymnasium stellen. Das ist schon für den Durchschnittsschüler nicht einfach.

Lalelu

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