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Veilleicht als eine Literaturrezension?
geschrieben von niederrhein
Aus der Süddeutschen Zeitung (Nr.28, Donnerstag, den 04. Februar 2010 , Seite 14)

Aus der Rezension des Buches:
FABRIZIO GATTI: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 475 Seiten, 24,90Euro.


Auf diesen Lastern verlässt die Zukunft Afrika
Durch die Wüste, übers Meer: Als kurdischer Flüchtling getarnt, reiste der italienische Reporter Fabrizio Gatti auf der "Sklavenpiste" vom Senegal nach Europa

Fast muss man warnen vor diesem Buch, so massiv, so jäh ist das Leseerlebnis. Es erwischt einen wie ein Faustschlag in Zeitlupe, und wenn man, nach all dem Wüstensand, der Hitze, den Lagerbeschreibungen und dem eiskalten Meer, zufällig Nachrichten sieht, könnte man schreien vor Wut, wenn es dort neutral heißt, 74 Illegale seien von Rom aus nach Libyen abgeschoben worden.

Fabrizio Gatti ist Chefreporter des Espresso und er arbeitet, seit er sich für eine Geschichte über die Macht der Mafia als Gasableser und Heroinabhängiger ausgab, meist undercover. Er nahm die Identität eines Rumänen an, um zu sehen, wie Italien mit seinen Illegalen umspringt; er hat unter Obdachlosen gelebt und als angeblicher Kosovare die Abschiebepraktiken der Schweiz dokumentiert. "Bilal" aber war sein härtestes Projekt, Gatti überlebte tagelange Sandstürme, Amöbenruhr, Pannen und entkam einer Geiselnahme durch Al-Qaida-Leute. Schlimmer als all das war aber anscheinend die omnipräsente Grausamkeit, die er auf dieser Reise erlebte; er klingt in Interviews auch dreieinhalb Jahre später noch wie ein Kriegsveteran, der kaum in den zivilen Alltag zurückfinden kann. Dabei wollte Gatti nur in Erfahrung bringen, warum so viele Schwarzafrikaner das Risiko auf sich nehmen und sich Schleppern anvertrauen, durch die Wüste, übers Meer.

Zwei Leute reisen durch dieses Buch, auf zwei Routen. [...] Auf überfüllten Lastwagen, in Kleinbussen, streckenweise zu Fuß, geht es nach Süden, in Richtung Trockenheit und Hitze. Niamey, Agadez, Dao Timmi, so heißen die Stationen in Niger, Orte, die immer staubiger werden, Vorposten des sandigen Nichts. [...]
Vier bis fünf Laster fahren täglich von Agadez ab, macht 15 000 Leute pro Monat. Jeder von ihnen zahlt seinem Schlepper alleine für die Durchquerung Nigers 150 Euro. Dazu kommen die Polizeikontrollen zwischen der nigrischen Hauptstadt und der libyschen Grenze. Zwölfmal werden sie angehalten, müssen aussteigen, sich in den Sand knien, hoffen, dass diesmal nicht sie es sind, die verprügelt werden, aber irgendjemanden trifft es immer. Auf diesen Lastern verlässt die Zukunft Afrika, junge Männer, oftmals gut ausgebildet, die zu Hause keinerlei Perspektive haben. Gatti lernt Computerfachleute und Mathematiker kennen, Krankenschwestern und Lehrer, er freundet sich mit einem ägyptischen Historiker an und mit zwei Brüdern aus Liberia, die mit ihren Familien in einem Flüchtlingslager in Ghana hausten, Naturwissenschaftlern, die Einladungen zu Kongressen in Slowenien und Kanada in der Tasche haben. [...]

An der libyschen Grenze ist Schluss für Gatti [...] [er] schmuggelt sich in das Lager von Lampedusa ein. [...] So kommt er in das Lager, das von italienischen Politikern der Fremdenhasspartei Lega Nord als "Fünfsternehotel" und "Stolz der italienischen Nation" bezeichnet wurde. Gatti beschreibt es als Schandfleck Europas: Bei seiner Aufnahme wird er gezwungen, sich mit den anderen Neuankömmlingen auf den Boden zu setzen, auf dem knöcheltiefe Fäkaliensuppe schwimmt. Wer sich nicht sofort setzt, wird verprügelt. Einige Wachmannschaften setzen allen Ehrgeiz daran, die Inhaftierten systematisch zu demütigen. Schläge, Tritte, stundenlange Abzählrituale gehören zum Standardrepertoire, sie zwingen aber auch minderjährige Muslime dazu, sich Pornos auf dem Handy anzusehen oder mit dem faschistischen Gruß zu salutieren.
Lampedusa ist die große Lostrommel Europas: Nach undurchsichtigen Kriterien, vielleicht auch einfach nur nach Zufallsprinzip, werden die Flüchtlinge entweder zurückgeschickt nach Afrika oder nach Sizilien gebracht. Dort bekommen sie einen Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt und die Aufforderung, innerhalb von sechs Tagen das Land zu verlassen. So sorgt der italienische Staat für Nachschub für die riesige Schwarzarbeitsmaschine. Denn all die Illegalen werden dringend gebraucht - in Italien hängen die Bau- und die Landwirtschaft von den Schwarzarbeitern ab. Je illegaler, desto besser, so könnte man sagen, denn je weniger Rechte die Immigranten haben, desto besser kann man sie ausbeuten. Und wir Endverbraucher, die wir unsere Kiwis für 29 Cent kaufen, können der Mafia und deren kalabrischem Pendant, der "Ndrangheta, dafür dankbar sein, dass diese so zuverlässig für niedrige Preise sorgen.

Pannen und Sandstürme, Schläge, Dreck, Gestank und Todesangst - Fabrizio Gatti hat all das am eigenen Leib erfahren. Aber er setzt sich nie in Szene, geriert sich nie als Held. [...]
[...] Dass Europa Libyen zum sicheren Drittstaat erklärt hat, um möglichst viele Flüchtlinge dorthin zurückschicken zu können. In den libyschen Lagern wird systematisch gefoltert und vergewaltigt. Immer wieder werden ganze Flüchtlingstrupps einfach in die Wüste geschickt.
ALEX RÜHLE[/indent]



Außerhäusig in/aus Donaueschingen

[i]Die Bertha
vom Niederrhein

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