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Aktuelle Themen Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime

Karl
Karl
Administrator

Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von Karl

Ich habe gerade auf tagesschau24 einen erschütternden Bericht über sogenannte "Verschickungskinder" gesehen. Hier handelt es sich um Angehörige unserer Generation, die in einen sogenannten Kinderurlaub geschickt wurden. Daraufhin habe ich im Netz unter "Kinderkurheime" etwas recherchiert, es ist erschütternd.

Spiegel.de
Sie wurden geschlagen, durften nachts nicht zur Toilette, mussten Erbrochenes essen: Ab den Fünfzigerjahren wurden Millionen Kinder in deutsche Kurheime verschickt. Lange schwiegen die Misshandlungsopfer - nun organisieren sie sich.

...
Dünne Kinder sollten in solchen Kurheimen zunehmen, dicke Kinder abspecken, kränkliche an der gesunden See- oder Waldluft Kraft tanken. Vermutlich Millionen Kinder wurden in der Bundesrepublik ab den Fünfzigerjahren auf Anraten von Schulärzten in Kinderkurheime verschickt; 1963 gab es 839 Heime mit Platz für jährlich 350.000 Kinder vor allem aus benachteiligten Familien. Ziel war es, ihnen "Lebensmut" und eine "besondere Liebe" zu vermitteln.
Was für ein Hohn!

www.verschickungsheime.de
ERKLÄRUNG der Initiative Verschickungskinder auf Sylt, am 24.11.2019
Vom 21.-24.11.2019 trafen sich auf Initiative von Anja Röhl und einem Kreis engagierter Betroffener über 70 Menschen, die als Kinder zwischen 1948 und 1981 auf so genannte Kinderkuren verschickt wurden. Die Kinder waren zwischen zwei und vierzehn Jahren alt und wurden in der Regel für sechs bis acht Wochen verschickt. Die Kuren wurden von Ärzten – zumeist ohne nachvollziehbare medizinische Begründung – verschrieben und u.a. von der Kranken- oder Rentenversicherung finanziert. Zwischen ein und drei Millionen Kinder, möglicherweise noch viel mehr, nahmen an diesen Maßnahmen teil. Auf diesen Kinderverschickungen oder Kinderkuren erlitten viele Kinder Misshandlungen, u.a. Esszwang, Toilettenverbot, körperliche Strafen, Demütigungen und Erniedrigungen. Sogar von Todesfällen wird berichtet. Von allen Beteiligten – Eltern, Ärzten, Kostenträgern, Heimträgern – wurden diese Misshandlungen jahrzehntelang ignoriert oder totgeschwiegen. Den Kindern wurden ihre Berichte über das erlittene Leid nicht geglaubt.
Erst vor kurzem haben Betroffene begonnen, dieses Unrecht aufzuarbeiten. Ehemalige Verschickungskinder haben ihre Erlebnisse auf einer Webseite geteilt (www.verschickungsheime.de) und begonnen, sich zu vernetzen. Fast tausend, oftmals erschütternde, Berichte liegen schon vor.
Auf dem Kongress „Das Elend der Verschickungskinder“ vom 21.-24.11.2019 auf Sylt haben die Betroffenen erstmalig zusammen mit Fachleuten mit „Doppelexpertise“ (Expert*in und Verschickungskind) vielfältige Aspekte dieser Geschehnisse diskutiert und sich persönlich ausgetauscht. Die Teilnehmenden sehen den Kongress als ersten Schritt. Jetzt müssen Strukturen geschaffen werden, um das erlittene Leid beschreiben, einordnen und bewerten zu können.
Alle Teilnehmenden des Kongresses haben sich auf folgende Forderungen verständigt:
Voraussetzung für die Aufarbeitung ist eine sorgfältige Erforschung der Geschehnisse in den Heimen, der Anzahl der betroffenen Kinder und der gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen.
Alle Betroffenen sollen erfahren können, dass ihre erinnerten Erlebnisse Realität waren, dass ihnen Unrecht widerfahren ist und dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind.
Wir fordern die Finanzierung einer selbstverwalteten Anlaufstelle für Betroffene, die eine Vernetzung und eine Orientierung bei Hilfebedarf ermöglicht. Sie hat auch die Aufgabe, Orts- und Regionalgruppen durch fachliche Begleitung zu unterstützen.
Wir ehemaligen Verschickungskinder, die der damaligen Situation wehr- und hilflos ausgeliefert waren, wollen heute nicht Objekt von Forschung werden. Die Erforschung der Kinderkuren muss deshalb partizipativ als „citizen science“/bürgerorientierte Forschung erfolgen: Wir Betroffenen bestimmen die Zielsetzungen und Fragestellungen der Forschung und tragen durch unsere eigene Recherche sowie durch unsere Erlebnisberichte dazu bei.
Alle wissenschaftliche Forschung muss maßgeblich durch Menschen mit Doppelexpertise (Verschickungskind und einschlägige Forschungserfahrung) erfolgen. Betroffene mit Doppelexpertise haben daher den Verein „Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen“ gegründet, der als Basis für die Organisation einer betroffenenorientierten, partizipativen Forschung dienen kann.
Wir fordern die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Träger der Kinderkurheime auf, sich zu ihrer Verantwortung für das Elend der Verschickungskinder zu bekennen. Wir fordern sie auf, in einem ersten Schritt die Aufarbeitung zu ermöglichen, indem sie gemeinsam Finanzmittel in Höhe von mindestens 3 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
Aus diesen Mitteln sollen finanziert werden:
  • Eine Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener
  • Ein partizipativ ausgerichtetes Forschungsprojekt, das die zahlreichen Erlebnisberichte auswertet und vor Ort Gruppen von Betroffenen bei ihren eigenen Recherchen begleitet. Die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen umfassend untersucht und aufgeklärt werden.
Die Aufsicht über die Mittelverwendung soll durch einen Beirat aus Betroffenen und Vertretungen von Bund, Ländern und Trägern erfolgen, in dem die Betroffenen die Mehrheit haben.
Wir, die ehemaligen Verschickungskinder, sind überzeugt davon, dass die Aufarbeitung der Misshandlungen und des Elends der Verschickungskinder dazu beitragen kann, auch für die Zukunft die Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen und den Schutz von Kindern zu fördern.
Kontakt: [email protected]


Da kommen einem doch die Tränen des Zorns! Die religiös gefärbten, traumatisierenden Praktiken waren der reinste Sadismus. Die kriegserfahrene Generation hat hier wohl ihre eigenen psychischen Traumata an die nächste Generation weitergegeben.

Aus was für einer Gesellschaft kommen wir? Haben wir diese Zustände wirklich überwunden? 



Karl
Komet
Komet
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von Komet
als Antwort auf Karl vom 04.12.2019, 21:22:34
Hallo Karl,
wenn ich so etwas lese kommen mir ebenfalls die Tränen . Es ist grauenhaft.
Ich kenne persönlich Kinderheime in Peru, aber dort werden Kinder nie mißhandelt.
So arm wie diese Menschen sind......sie verschenken vielleicht aus Armut ihr Kinder......aber nie werden sie mißhandelt.

Es war eine schlimme Zeit, aber das entschuldigt nichts.
Es ist so grauenhaft, dass man noch nicht einmal  Herzchen dafür vergeben sollte.


Komet
Monja_moin
Monja_moin
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von Monja_moin
als Antwort auf Karl vom 04.12.2019, 21:22:34

Ich habe es auch gelesen und war darüber sehr erschrocken.
 
Auch ich war mit meinen 3 Brüder in der Kindheit 2-3 mal in solche Kindererholungsheime.
Soweit ich mich erinnere an der Nordsee, St. Peter-Ording.
Es hat uns gut gefallen.
Das einzige war wir als negativ empfanden war, daß wir Geschwister getrennt wurden und hatten wir uns auch dem Gelände oder am Strand getroffen, war es nicht erlaubt miteinander zu spielen.
 
Von all den schlimmen Dingen von denen berichtet wurde haben wir nichts mitbekommen und ich auch später nichts gehört.
 
Monja.
 


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Via
Via
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von Via
als Antwort auf Karl vom 04.12.2019, 21:22:34

Der Bericht reißt alte Wunden auf.

Als meine Mutter Anfang der 60-er Jahre für längere Zeit ins Krankenhaus und zur anschließenden Reha musste, war ich alt genug, um die Sommerferien bei Verwandten zu verbringen. Die übrige Zeit konnte man mich schon alleine lassen.

Mein Bruder war damals noch ein Kleinkind und kam in ein solches Verschickungsheim. Er kehrte völlig verstört zurück und nässte wieder ein.

Der Vater war damit überfordert. Psychologische Hilfe gab es damals kaum, und wenn, stand sie unter dem Ruf, für "Schwachsinnige" zuständig zu sein.
 
Mein Bruder studierte später Jura, schaffte das erste juristische Staatsexamen noch.

Mit 32 Jahren nahm er sich das Leben.

Via

benny
benny
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von benny
als Antwort auf Monja_moin vom 04.12.2019, 22:04:00

Eine schlimme Sacher die aber bitte nicht verallgemeinert werden sollte.
Ich war ebenso in Erholung an der Ostsee in Haffkrug, 5 Jahre war ich alt.
Es war alles schön aber auch fremd, ich hatte allerdings wahnsinniges Heimweh.
Meine Schwester war ebenfalls verschickt, sie war auf Westerland/Sylt und wollte gar nicht mehr nach Hause.

Gruß
Benny

Mitglied_69e81d4
Mitglied_69e81d4
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von ehemaliges Mitglied
als Antwort auf Karl vom 04.12.2019, 21:22:34

Lieber Karl, danke für diese Links. Ich werde mich dort vernetzen. Es hat mich gerade richtig erschüttert zu sehen, dass ich auch betroffen war. Das war wohl sehr verschüttet. 

Ich wurde als Vierjährige zum ersten Mal für vier Wochen von meinen Eltern in ein Kinderheim im Schwarzwald gebracht. Der Hausarzt konnte mit Leichtigkeit dazu gebracht werden, solche 'Kuraufenthalte' zu verschreiben, denn wir waren ja (zu) dünn. . Dann hat die Krankenkasse alles bezahlt. Kinder wurden morgens stundenlang in der Toilette eingeschlossen, bis sie beweisen konnten, dass sie Stuhlgang hatten. Falls das nicht gelang, wurden sie von den Spaziergängen ausgeschlossen und mussten alleine im Schlafsaal im Bett liegen. Wer beim Mittagessen nichts herabbekam und erbrechen musste, wurde vor den Augen der anderen Kinder gezwungen, das Erbrochene aufzuessen. Wer gar nicht ass, musste sitzen bleiben, bis der Teller leer war, auch wenn es bis zum Abend dauerte. Falls das nicht gelang, wurde man ohne Essen ins Bett gelegt. 

Vom 7. bis 14. Lebensjahr war ich jeden Winter vier bis 6 Wochen in einem Kinderheim im Gebirge. Mittags musste man draussen in der Liegehalle auf einer Pritsche 'Liegekur' machen. Man wurde so in Decken festgezurrt, dass man sich nicht bewegen konnte. Sprechen, oder gar lesen, war streng verboten. Briefe, die man nach Hause schicken sollte, wurden streng zensiert und man musste sie neu schreiben, so wie es verlangt wurde. - Wer ein 'böses' Wort sagte, dem wurde der Mund mit Seife ausgespült.

Ich war aber weder krank, noch mager, es war einfach so, dass es jedes Jahr einmal so zu sein hatte und der Hausarzt schrieb auf das Attest 'chronische Bronchitis'. 

Wie du schreibst: 'Die kriegserfahrene Generation hat hier wohl ihre eigenen psychischen Traumata an die nächste Generation weitergegeben.' (Dein Zitat). So war es wohl in meinem Fall. Unbegreiflich, dass Eltern meinten, sie täten damit ihren Kindern etwas Gutes. 

Ich habe als 68erin zwei Töchter ins Leben begleitet. Und kann immer noch nicht verstehen, wozu meine Eltern damals in der Lage waren. Ich habe das Gefühl, es gehe meinen Töchtern gut. Sie sind jetzt Anfang 50. Doch man weiss nie, was man systemisch trotzdem weitergegeben hat, nach solchen Kindheitserfahrungen. Mir haben die Bücher von Sabine Bode sehr gut getan, 'Nachkriegskinder', denn ich hatte in den letzten 45 Jahren in der  Schweiz keine Gesprächspartner für solche Themen, da der geschichtliche Hintergrund nicht da ist. 
Tine1948

Sabine Bode, Nachkriegskinder. Es gibt auch noch die Titel 'Kriegskinder' und 'Nachkriegsenkel'

https://www.exlibris.ch/de/buecher-buch/deutschsprachige-buecher/sabine-bode/nachkriegskinder/id/9783608980523?gclid=EAIaIQobChMI2cei4JGd5gIV06iaCh0tFAeIEAQYASABEgIZufD_BwE&gclsrc=aw.ds


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Monja_moin
Monja_moin
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von Monja_moin
als Antwort auf benny vom 04.12.2019, 22:28:32
Eine schlimme Sacher die aber bitte nicht verallgemeinert werden sollte.
Ich war ebenso in Erholung an der Ostsee in Haffkrug, 5 Jahre war ich alt.
Es war alles schön aber auch fremd, ich hatte allerdings wahnsinniges Heimweh.
Meine Schwester war ebenfalls verschickt, sie war auf Westerland/Sylt und wollte gar nicht mehr nach Hause.

Gruß
Benny
Gerade weil ich nicht verallgemeinert will, habe ich meine persönlichen positiven Erlebnisse geschrieben.

Ich bestreite aber nicht, daß es auch Heime gab (oder vielleicht noch vereinzelt gibt?) in denen solch schreckliche Dinge geschehen sind.

Monja.
schorsch
schorsch
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von schorsch

Bei uns in der "humanen Schweiz" passierten noch schlimmere Dinge: Den "Zigeunern" wurden die Kinder entrissen und in Heime gesteckt, auf dass ihnen der "Vagantismus" ausgetrieben werden. Sie sind inzwischen längst Erwachsene geworden - und hadern immer noch mit ihrem Schicksal.

Das Gleiche passierte aber auch mit Kindern aus zerrütteten Familien: sie wurden entweder in Heime gesteckt oder als billige Knechte den Bauern abgegeben - die erst noch dafür bezahlt wurden. Sie wurden geschlagen, gedemütigt und vergewaltigt. Gar manche Magd wurde von Bauern oder seinen Söhnen geschwängert - und dann mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt.

Auch über meiner eigene Familie hing Jahrzehnte lang das Damoklesschwert des "Armenvaters" (Präsident der Fürsorgekommission der Gemeinde), der uns Kindern und den Eltern immer wieder drohte, die Familie in die Heimatgemeinde zu deportieren und die Kinder zu verdingen. Dank einem wirklich humanen Gemeindepräsidenten (SP) wurden des Armenvaters Gelüste aber immer wieder durchkreuzt. Dieser Gemeindepräsident brachte es dann auch zustande, dass meine Eltern ein Haus kaufen konnten. Allerdings mussten mein Bruder und ich uns vertraglich verpflichten, das uns von der Gemeinde zur Verfügung gestellte Darlehen für die Hypothek in Raten vom Lohn abziehen zu lassen. So wurde denn also, auch nachdem ich bereits eigene Familie hatte, Monat für Monat etwa 1/10 meines Lohnes direkt vom Arbeitgeber der Gemeinde überwiesen.

benny
benny
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von benny
als Antwort auf Monja_moin vom 05.12.2019, 00:49:45

Liebe Monja,
ich hatte dich auch nicht ansprechen wollen wegen verallgemeinern, ich meinte es allgemein.
Sorry.

Gruß
Benny

pschroed
pschroed
Mitglied

RE: Verschickungskinder und sogenannte Ferienheime
geschrieben von pschroed

Es ist sehr schlimm zu was Menschen fähig sein können.
Phil,


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