Anthropologie / Psychologie 'Fundamentalismus'

qilin
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'Fundamentalismus'
geschrieben von qilin
Ich sitze gerade an dem Rezensionsexemplar von H. Härings 'Versuchung Fundamentalismus', und da dachte ich es wäre vielleicht imteressant, diesen Begriff hier mal zur Diskussion zu stellen. Hier der Versuch einer Definition, die ich schon früher mal in eine anderes Forum gestellt habe - zuerst die (gekürzte) Eintragung aus dem Lexikon 'Die Religionen der Welt', Gütersloh 1999.
Fundamentalismus: Selbstbezeichnung aus dem US-amerikanischen Protestantismus des frühen 20. Jh.; baut auf Puritanismus und schottischem Presbyterianismus auf. Aus diesen wurden übernommen die Hochschätzung der Bibel, innere und äußere Mission, Gottesdienstreform sowie persönliche Bekehrung und Erweckung als Voraussetzung für die Kirchenzugehörigkeit. Die 'fünf Glaubensprinzipien' (fundamentals) wurden 1910 von der Presbyterian General Assembly angenommen und sind die kennzeichnenden Grundlagen des Fundamentalismus, mit denen er Front gegen Liberalismus, theologische Bibelkritik, Evolutionstheorie, Sozialreformen und Psychoanalyse macht:

1) Die Bibel als Wort Gottes enthält keinerlei Irrtümer. Nur das wörtliche Verständnis wird ihr gerecht.
2) Maria war Jungfrau vor, während und nach der Geburt Jesu.
3) Jesus hat durch seinen Kreuzestod stellvertretend die Menschen von der Sünde befreit.
4) Jesus ist leiblich von den Toten auferstanden.
5) Jesus wird in naher Zukunft leiblich wiederkehren.

Seit den 1970er Jahren erlebt der Fundamentalismus eine neue Blüte, u.a. in Gestalt der 'elektronischen Kirchen' mit ihren TV-Predigerstars. Der Fundamentalismus ist Antwort auf das immer deutlicher werdende Unbehagen an der modernen, weitgehend säkularisierten Welt. Die Orientierungs- und Bindungskraft der Kirchen schwindet ebenso zunehmend wie die Fortschrittsgewissheit und der Glaube an die Wissenschaft. Solchen Erosionsprozessen stemmt sich der Fundamentalismus als eine religiöse Antwort mit scheinbar objektiv-sicherem Glaubensbestand entgegen. Fundamentalistisches Denken geht von absoluten Wahrheiten aus, die gegenüber wissenschaftlicher Kritik, insbesondere der historischen Relativierung des eigenen Glaubens, immunisiert werden. Daher ist typisch für den Fundamentalismus der Glaube an die Unfehlbarkeit der heiligen Schrift, die Ablehnung der Ergebnisse der modernen Wissenschaft, Dialogunfähigkeit, gepaart mit Intoleranz, ja Aggression gegenüber Nichtfundamentalisten, und schließlich die Überzeugung, dass Politik christlich sein müsse.

Ein Fundamentalist ist also nicht jemand, der auf die eigenen Fundamente zurückgreift und auf diesen aufbaut, sondern jemand, der aus dem Fundus der eigenen heiligen Schriften und Traditionen mehr oder weniger willkürlich bestimmte Glaubensprinzipien als 'fundamental' hervorhebt und andere dafür minderbewertet, häufig auch aus politischem Interesse. Wenn jemand [wie nicht selten] die Meinung vertritt "Ich bin Fundamentalist, aber ich verstehe das Wort eben anders und verwende es auch so", ist er in der gleichen Situation wie jemand der sagt "Ich liebe Kinder, also bin ich pädophil", ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass dieses Wort bereits eine andere Konnotation hat. Unangenehme Missverständnisse sind in beiden Fällen vorprogrammiert...

Später habe ich in einer Arbeit über (hinduistischen) Fundamentalismus eine Kurzformel gefunden, die IMHO das zentrale Problem des Fundamentalismus allgemein anspricht:

"Der Fundamentalismus ist ... eine religiöse Weise des Daseins, die sich als Strategie manifestiert, vermöge derer Gläubige versuchen, ihre unverwechselbare Identität als Volk oder Gruppe zu bewahren, wenn sie sich als im Belagerungszustand befindlich ansehen. In dem Gefühl der Bedrohtheit dieser Identität suchen Fundamentalisten ihre Identität durch eine selektive Wiederbelebung von Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken aus einer intakten, heiligen Vergangenheit zu befestigen." (Marty/Appleby: 'Fundamentalisms Comprehended', Chicago 1995)

() qilin
Mareike
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von Mareike
als Antwort auf qilin vom 25.04.2013, 10:51:42
Mir begegnet der Begriff Fundamentalismus in der heutigen Zeit eher als negative Zuschreibung im Sinne von: Religiös begründete Intoleranz, Radikalismus und auch daraus entstehende Gewaltbereitschaft.

Mareike
qilin
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von qilin
als Antwort auf Mareike vom 25.04.2013, 14:51:51
Ja - Intoleranz und Radikalismus gehen wohl notwendig mit der beschriebenen Art von Fundamentalismus einher - Gewaltbereitschaft nicht unbedingt. Der überwiegende Teil derer, die sich selbst 'Fundamentalisten' nennen oder von Anderen so bezeichnet werden, sind durchaus friedlich. Gewalttäter gibt es, aber eine Gleichsetzung von 'Fundamentalist' und 'Terrorist', wie manchmal zu hören, ist IMHO ziemlich kontraproduktiv. Hier nochmals 'Die Religionen der Welt':
Islamischer Fundamentalismus zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Rückkehr zum Koran als unverfälschte Glaubensquelle, Orientierung am Frühislam, als die Einheit der islamischen Gemeinschaft noch existierte. Islamische Fundamentalisten wollen eine islamische Gemeinschaft errichten, in der das islamische Recht, die Sharia, alle Bereiche des menschlichen Lebens regelt. Darüber hinaus unterstreicht man die Gleichheit aller Gläubigen. Noch stärker als andere Muslime betonen islamische Fundamentalisten die Einheit Gottes und die daraus resultierende Einheit der islamischen Gesellschaft. Fundamentalistische Denker traten immer dann auf, wenn sich die islamische Welt in einer Krise befand. Im Unterschied zum christlichen Fundamentalismus stellt sich der islamische wesentlich als eine späte Reaktion auf die Kolonialzeit dar, in der Europa seine technische Überlegenheit oft als Mittel von Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung einsetzte. Hinzu kommt, dass viele der an Europa orientierten Regierungen islamischer Länder es nicht geschafft haben, soziale und wirtschaftliche Probleme zu überwinden. Anders als im christlichen Fundamentalismus werden technologische und ökonomische Neuerungen im Islam nicht kritisiert oder abgelehnt. Wenn auch islamischer Fundamentalismus oft in Verbindung mit terroristischen Aktivitäten steht, gehört Gewaltbereitschaft nicht zu seinen primären Merkmalen. Viele Reformbewegungen haben die an der Macht befindlichen Regierungen mit dem Vorwurf bekämpft, sich vom 'wahren Islam' entfernt zu haben. Man kann in diesen Bewegungen Vorläufer des heutigen Fundamentalismus sehen. Islamisten, wie man die Fundamentalisten nennt, glorifizieren den Frühislam, als die Einheit der Umma ('Gemeinde') noch Realität war.


() qilin

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Mareike
Mareike
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von Mareike
als Antwort auf qilin vom 25.04.2013, 16:29:59
"Der Fundamentalismus ist ... eine religiöse Weise des Daseins, die sich als Strategie manifestiert, vermöge derer Gläubige versuchen, ihre unverwechselbare Identität als Volk oder Gruppe zu bewahren, wenn sie sich als im Belagerungszustand befindlich ansehen. In dem Gefühl der Bedrohtheit dieser Identität suchen Fundamentalisten ihre Identität durch eine selektive Wiederbelebung von Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken aus einer intakten, heiligen Vergangenheit zu befestigen." (Marty/Appleby: 'Fundamentalisms Comprehended', Chicago 1995)


Es wäre gut und hilfreich, wenn diese Definition nicht nur eine Definition wäre!

Dann wäre es vielleicht eher möglich, auf Obamas Frage zu antworten:
Warum greifen in den USA aufgewachsene junge Männer zu solcher Gewalt? (Boston)

Fundamentalistische "Denk"-weisen gepaart mit den modernen Mitteln der weltweit vernetzten Kommunikation müssen zwangsweise zu immensen Problemen führen.
Dies mit Überwachungskameras überwachen zu wollen ist grotesk.

Ein Problembewusstsein hinsichtlich Unterdrückung und Ausbeutung wäre wohl eher hilfreich.

Mareike
schorsch
schorsch
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von schorsch
So lange die (einige) Christen noch an die unbefleckte Empfängnis der Maria mit Jesus glauben, dürfen wir den islamischen Fundamentalisten keinen Vorwurf machen.

Fundamentalismus = auf dem Fundament aufbauend.

Das Fundament der Christen ist das Alte Testament.

Irrglaube oder bewusste Lügen resp. Hintergehung Leichtgläubiger?
qilin
qilin
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von qilin
als Antwort auf schorsch vom 26.04.2013, 09:57:19
Fundamentalismus = auf dem Fundament aufbauend.

Das Fundament der Christen ist das Alte Testament.
Wer lesen kann...
Genau darum geht es beim 'Fundamentalismus' eben nicht - und eben darum dieser Thread...

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Gerdd
Gerdd
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von Gerdd
Ich habe für mich privat! mal eine Zusammenstellung gemacht -
nachdem ich vor einiger Zeit ein Buch gelesen hatte - ich weiß nicht mehr welches.
Gerdd























schorsch
schorsch
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von schorsch
als Antwort auf qilin vom 26.04.2013, 21:11:48
Wer nicht selber denken kann/will, versteckt sich hinter dem Denken Gottes.....
Shenaya
Shenaya
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von Shenaya
als Antwort auf schorsch vom 18.12.2014, 11:41:53
Wer nicht selber denken kann/will, versteckt sich hinter dem Denken Gottes.....


Mein Problem ist, dass mein Denken angesichts mir nicht verständlicher Dimensionen ziemlich beschränkt ist.
In Momenten dieses Bewusstseins mag ich gerne an eine "göttliche/schöpferische" Kraft glauben, ohne mich deshalb einer Religion verbunden zu fühlen.

Shenaya
olga64
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Re: 'Fundamentalismus'
geschrieben von olga64
als Antwort auf Shenaya vom 18.12.2014, 11:50:20
Das ist aber auch ein wenig undankbar, wenn Sie sich in kritischen Momenten zwar Religionen zugewandt fühlen - "die Mietzahlungen" aber vermeiden wollen? Aber das machen ja viele Menschen, insbesondere die älteren - da erinnert man sich wieder des lieben Gottes, wenn der Tod näher rückt. Aber ER ist dies sicher gewöhnt - aber allen kann er auch nicht helfen, es sind einfach zu viele.... Olga

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